Die Schwierigkeiten kämpferischer Atheisten, die sich selbst Humanisten nennen, mit Gott wären noch größer, als sie es ohnehin sind, verstünden sie ein wenig mehr davon, was es heißt zu glauben. Dadurch, dass sie glauben, sie hätten den Glauben hinter sich, befinden sie sich bereits in der ersten Glaubensverirrung, die da heißt: missionieren um jeden Preis. Ein rechter Missionar bekämpft seine Glaubenszweifel, indem er andere zu bekehren versucht. Das Feuer, das in ihm brennt, vertilgt den Scheiterhaufen, in dem neben und mit der fremden Schlacke die eigene verglüht – idealiter wohlgemerkt, idealiter.
Der Zweifel gehört zum Glauben, er ist seine andere Natur. Wo er verschwand, ist, unbemerkt oder nicht, auch der Glauben weitergezogen. »Wohin des Wegs?«, könnte man den Glauben der Zeitgenossen fragen, würde man seiner ansichtig: Man hat ihn an so vielen Stellen tätig gesehen, als Diener des Fortschritts wie der finstersten Reaktion, dass man sich unwillkürlich fragt, was er nun wieder aushecken mag, wenn er aufs Neue seine Fühler ausstreckt, diesmal, um sich selbst aufs Maul zu schlagen: Woran glauben, wenn nicht an Werte? Wenn aber Werte geglaubt werden müssen, sind sie dann noch verbindlich? Verbindlich für alle, also auch diejenigen, die sich außerstande sehen einfach zu glauben, weil sie den Zweifel kultivieren, oder diejenigen, die einfach nicht glauben wollen, dass eine so wichtige Sache wie Werte, die doch von allen geteilt sein wollen, eine Sache des Glaubens sein sollte, also mit einem einfachen »Ich glaube gar nichts« oder »Ich glaube etwas anderes« in die Ecke geschleudert werden kann?
Wäre es da nicht einfacher, man schriebe die Werte, die nicht umsonst Grundwerte genannt werden, einfach vor? Was ist eine Vorschrift? Jemand schreibt etwas hin und die anderen nehmen es ›wie geschrieben‹. Vorschreiben kann man vieles, es bedarf einer gewissen Schriftgläubigkeit, um Vorschriften hinzunehmen, statt sie mit Nachschriften zu verzieren, die sie in vielem auflösen oder umkehren oder einfach bestreiten. Das Internet zum Beispiel hat sich in weiten Teilen in ein System aus Nachschriften verwandelt, in denen jede Vorschrift, zum Beispiel nicht auf den Boden zu spucken oder das Ergebnis einer Wahl zu akzeptieren, in Grund und Boden geschrieben wird. So kommt, Stückchen für Stückchen, die nackte Gewalt zum Vorschein, die auf dem Grund aller Vorschriften ruht.
Gewalt aber ist nicht nur ambivalent, sondern auch antagonistisch: Regierungsgewalt gegen anarchistische Gewalt, denunziatorische Gewalt gegen die Gewalt des Arguments oder allgemeiner gegen die ›Gewalt des Wortes‹, des offenen, unverstellten, das ›die Situation öffnet‹ und die ›Chance auf eine Verständigung‹ wahrt, Gewalt A gegen Gewalt B, denn ehrlich gesagt, eine Gewalt, die mit sich allein wäre, was wäre das für eine Gewalt? Wogegen sollte sie sich richten? Gegen sich selbst? Das Gewaltmonopol, bis in den letzten Winkel des trauten Eigenheims durchgeführt, muss sich Feinde erfinden, ihm wird jeder Trottel, der zur Auffälligkeit neigt, irgendwann zum Staatsfeind.
Je friedfertiger eine Gesellschaft, desto näher rückt sie an Zustände nackter Gewalt, sobald sie genötigt ist, in letzter Instanz sich auf Werte zu berufen, denen ›draußen‹ mit blankem Hohn begegnet wird. Denn dieses Draußen ist nicht die Ferne, es sitzt mit am Tisch, unsichtbar oft und oft genug gut sichtbar, sobald über den holprigen Weg in die Zukunft gestritten wird. In Gesellschaften, die das ›Lernen‹ in der Vergangenheit forciert, sprich: den allmählichen, diskontinuierlichen, aber beharrlichen Prozess der Zivilisation durch gezielten, kontinuierlichen, seine Prozesslogik aggressiv verschleiernden Zivilreformismus überformt haben, zeigt sich, dass ihnen nicht nur Teile der Bevölkerung schleichend abhanden gekommen sind (die ›Abgehängten‹), sondern dass auch die ›Reformierten‹, die Reformanhänger und -treiber, sich in einer Fanatisierungsschleife befinden, in der sie gegen den Anderen in sich selbst ankämpfen müssen, indem sie ihren Hass auf die Anderen übertragen.
Der Einspruch der Anderen gegen das, was die Verteidiger des Erreichten als ›Stand der Dinge‹, als schwer errungene zivile Norm begreifen, kommt nicht von ungefähr. Er entstammt keiner einfachen Werteverweigerung, sondern der Beobachtung, dass die gemeinsamen Werte so gemeinsam nicht sind, dass sie die Gesellschaft in Plünderer und Geplünderte spalten, sobald Politik und Justiz die Distanz zum gesellschaftlichen Prozess abhanden kommt, die nötig ist, um die Gesellschaft vor sich selbst, sprich: dem ihr eigentümlichen Antagonismus, von dem schon der selige Kant zu berichten wusste, zu schützen. Wenn es naiv sein kann anzunehmen, es könne emanzipatorische Interessen rein, das heißt ohne Privat- und Sonderinteressen geben, so muss es deswegen nicht naiv sein, und wer es vorzieht, die Dinge so und nicht anders darzustellen, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er seine Sonderinteressen und seine Art, sie durchzusetzen, verschleiert.
Ein solcher Vorwurf ist zugegebenermaßen hässlich. Nichts ist daher einfacher als den, der ihn erhebt, der Hässlichkeit zu zeihen – eine self fulfilling prophecy, da kaum jemand, der sein Leben auf Chancenwahrung und -optimierung gestellt hat, diesen Part übernehmen möchte. Die so erzeugte starke Selektion beschert der Gesellschaft die Gegenwart eines Personals, das sie in ihren wohlgeratenen Töchtern und Söhnen mit Verve und Überzeugung ablehnen darf: Nein, die nicht. Wer dann? Wer trägt den Aufruhr der Jungen gegen das Bestehende vor? Kein anderer als die, vor denen die Hässlichen warnen, weil sie in ihnen den Feind zu erkennen glauben, an dem das Errungene über kurz oder lang zuschanden wird. Denn im Gegensatz zu den Wohlmeinenden schreien die Hässlichen ihre Gespaltenheit heraus: ihre Systemgegnerschaft ist nicht fundamental, sondern vom Missbrauch geprägt, den sie überall am Werke sehen. Der Missbrauch selbst wird für sie fundamental, wenn er die notwendige Gefahrenabwehr des Staates unterminiert.
Das erklärt, nebenbei, warum sich die ›reife Gesellschaft‹ so pünktlich entlang der Flüchtlingsfrage zerlegte: Wer gerade noch über Quotenfrauen und Schwulenpolitik lästerte, dem vermittelten die pausenlos nachgelieferten Bilder die Vision eines Feindes, der die geglaubten Fundamente des eigenen Gemeinwesens und schließlich des Kontinents hinwegspült – nicht zuletzt durch die Stärke des mitgebrachten Glaubens, die sich an den religiösen Wirren in den Herkunftsländern umstandslos ablesen lässt. Wer dagegen gerade noch dem emanzipatorischen Endziel huldigte, durfte das Differenzieren beiseitelegen und zum unverblümten Angriff übergehen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. So gerät, wer sich seinen Glauben nicht nehmen lassen will, am Ende ans Dreinschlagen: ›Wer – wen‹, die alte Frage, das alte Spiel, das noch jeden Zivilisationsgewinn zuverlässig marginalisierte.