Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Er hat es getan. Und er wird es wieder tun – darauf ist Verlass. Von Erdogan und seinen Ministern mit Nazi-Vergleichen belegt zu werden, verwundert die Deutschen mehr als dass es sie kränkte: »Wie? Das kommt von dem? Selber Fascho!« Mehr fällt ihnen dazu nicht ein und das ist der Grund, aus dem er es wieder tun wird. Immerhin ist es ihr liebstes Spiel und Erdogan will, was er immer schon wollte – mitspielen. »Platz dem Spieler! Keine Exklusion! Null Toleranz! Weg mit den Faschisten!« Selbst Franco hätte das verstanden. Auf dem Weg an die Macht stören die Schreier, aber sie stören nicht allzu sehr, vorausgesetzt, man versteht ihr eigenes Geschrei gegen sie einzusetzen.

Empört, wie Deutsche nun einmal sind, wenn man sie aus ihren historischen Lernprozessen aufscheucht, weisen sie darauf hin, sie hätten, was in der Türkei geschieht, bereits vor über achtzig Jahren erlebt und sie hätten daraus gelernt. Erdogan hingegen lernt gerade, was sie daraus gelernt haben, nämlich: Schreit sie nieder! Das ist mehr als nichts, aber es ist auch weniger. Was ist, politisch betrachtet, weniger als nichts? Es ist die Entwertung einer einmal gemachten Erfahrung durch wahllose Verallgemeinerung, so dass aus ihr nichts mehr gelernt werden kann, auch und gerade dann, wenn es einmal nötig wäre.

Nötig wäre zum Beispiel – bei aller gebotenen Distanz –, den Weg zu verstehen, den die Türkei gerade geht. Wer in Erdogan nur den Macher sieht, übersieht den Getriebenen, wer den Getriebenen übersieht, übersieht den Anteil von Mächten an seinen Entscheidungen, von denen er selbst nicht weniger abhängt. Was im Nahen Osten geschieht, hat die Fähigkeit, den Weltakteur Europa zu demontieren, bereits ansatzweise unter Beweis gestellt. Die Türkei nicht? Lauter friedliche Leute?

Auch was in Europa geschieht, bestimmt die politischen Möglichkeiten der Türkei – kein gutes Zeugnis, das sich Europa da ausstellt. Wo liegen die Interessen der Nato? Warum pendelt der Recherche-Elan der westlichen Medien bei Null, wenn es um die Aufklärung des so erbärmlich missratenen Putsches geht? Warum geht die Errichtung des autokratischen Regimes bisher so reibungslos vonstatten? Wo bleibt der Aufstand der türkischen Demokraten, die sich so effektvoll gegen das drohende Militärregime zu wehren wussten?

Erdogan mag von der Großmacht Türkei träumen. Er weiß, diese Großmacht wird muslimisch oder gar nicht sein. Er weiß aber auch, dass der Schlüssel zum Paradies in der – unerreichbaren – EU-Mitgliedschaft liegt. Also muss er nach Schwachstellen suchen, die es ihm erlauben, mit Europa zu spielen. Diese Schwachstelle liegt in Deutschland. In Deutschland leben genügend Türken, die sich – sei es über die Religion, sei es über den türkischen Nationalismus – für derlei Zwecke instrumentalisieren lassen: Man muss nur dafür sorgen, dass sie sich von der Mehrheitsgesellschaft benachteiligt, zurückgestoßen, als ›Bürger zweiter Klasse‹ diskriminiert oder nicht hinreichend anerkannt fühlen. Anerkennung – endlich anerkannt sein, das ist die Grundmelodie seiner Rede, und ein Blick in die sozialen Medien zeigt, dass sie ankommt.

Der Kampf um Anerkennung, den Verdacht erhärtet jede westliche Antidiskriminierungs-Kampagne, ist endlos, denn er schürt Empfindlichkeiten, die auch ohne ihn immer Nahrung zu saugen wissen, auf jeder Stufe des gesellschaftlichen Prozesses aufs Neue. Gründe finden sich immer, man muss nur einzusetzen verstehen. Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Warum nicht, wenn man den, dem ähnlich zu werden man Gefahr laufen könnte, da man nun einmal hier lebt, zum Unmenschen stempelt? Warum sollte es  das patriotische Herz nicht erfreuen, wenn er einem selbst die Vorarbeit abnimmt? Über die Angst ähnlich zu werden, ihre Gründe, ihre Erscheinungsformen und ihre Auswirkungen sind viele Bücher geschrieben worden – da trifft es sich gut, dass die politische Klasse in Deutschland die Literatur in den Orkus der Bedeutungslosigkeit entsorgt hat.

Das Spiel, das hier gespielt wird, lautet: zwei Nationen auf einem Staatsgebiet. Das mag in Deutschland niemand hören, da man die Nation hierzulande ohnehin niedriger hängt als in anderen Ländern. Dennoch wäre Hinhören angesagt. Erdogan hat seine Gründe, warum er den unabhängigen Kurdenstaat auch jenseits der türkischen Grenzen um jeden Preis verhindern will. Es sind die gleichen Gründe, aus denen er das Projekt einer nationaltürkischen Identität auf deutschem Boden vorantreibt. Und es wären wiederum die gleichen Gründe, die in Deutschland alle Warnleuchten auf Rot schalten sollten. Apropos Rot: Hat Deutschland nicht erst vor kurzem die Lehre von den zwei Nationen auf deutschem Boden verabschiedet? Geschehen konnte das deshalb, weil sich die zweite als leerer Titel, als Nation ohne Volk erwies. Doch Religion ist ein zäherer Stoff als gesellschaftliche Heilslehren und in diesem Fall wäre das Volk real.

Aber die Flüchtlinge! Schützt die Türkei nicht – mit Mitteln, von denen Europa nicht gar so viel wissen will – die europäischen Außengrenzen? Ist Deutschland nicht deshalb erpressbar? Das wäre noch zu erweisen. Wer etwas erreichen will, darf sich nicht seiner Mittel entledigen – im anderen Fall erreicht er nichts. Das gilt für Europa, das gilt für Deutschland, und es gilt für die Türkei. Die Flüchtlingsfrage wird in Syrien und im Irak gelöst, nicht an der bayerischen Grenze.

Kolumnen

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