Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Fac ten Chek war bekannt, dass im Westen eine Lehre kursierte, der zufolge jeder Lebende am Elend seiner Mitlebenden, aber auch der Toten Schuld trug, eine Schuld, die sich nicht auf Verwandte und Genossen begrenzen ließ, nicht auf die Stadt und nicht auf das Land, in dem man geboren war oder in dem man lebte, nicht auf den Kontinent, der einen trug oder auf die Vorgängergeneration, von deren Leistungen man zehrte und deren Schandtaten man auszulöffeln hatte, nicht auf die Generation davor und nicht auf die Jahrhunderte davor, soweit sie der eigenen Geschichte zugerechnet wurden, nicht auf die Zivilisation, der man angehörte, und nicht auf die Menschheit, als deren Teil man sich verstand, eine schlechterdings unbegrenzte, bis an die Grenzen des Universums vorstürmende, vor keiner Lebensform Halt findende Schuld –: ihm war bewusst, dass es sich dabei keineswegs um eine Geheimlehre handelte, eine Verschwörungstheorie oder dergleichen, sondern um das unverrückbare Fundament ihrer Lebensform, das ›eigenste Eigene‹, die Schwäche, die zur Stärke geworden war und sich die Erde untertan gemacht hatte, die jetzt unter der eigenen Stärke litt und die längst dahingeschmolzene oder langsam schwindende Herrschaft über den Rest der Welt – beide Deutungen existierten berührungsfrei neben- und durcheinander – in die Auszeichnung dieser Schuld investierte, in einen Kultus, bei dem, wie zur Zeit der Hexenprozesse, der geringsten Handlung eines Einzelnen, dem Kosmetikkauf eines Schulmädchens, dem Autobahnspurt eines Sportwagennarren, dem Tagebucheintrag eines Bloggers magische Fernwirkungen zugeschrieben wurden mit der Macht, den Gang der Menschheit zu verändern und über das Schicksal der Erde zu entscheiden.

In den wenigen Jahrzehnten, in denen es das Fernsehen gab, war diese Schuld des Westens, deren intime Kenntnis sich bis dahin grosso modo auf die Alte und Neue Welt beschränkt hatte, zum globalen Hit geworden, er hatte die ›restliche Welt‹ restlos überzeugt und erregte zusehends ihre Bewohner, ohne dass es dazu noch der kommunistischen Agitation bedurfte, in der auch seine Wenigkeit ausgebildet worden war. Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld, murmelten die Kirchgänger der christlichen Gemeinden, sie murmelten es seit Jahrhunderten, er hatte sich selbst davon überzeugt und es hatte ihn fassungslos gemacht, bis ihm auffiel, dass der Satz, der lange Zeit unverrückbar über seiner eigenen Stirn geleuchtet hatte: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern, dieser Ur-Satz aller dialektischen Materialisten, nichts weiter darstellte als eine Interpretation jener völlig entleerten und so überaus wirksamen Kirchenformel unter anderen. Zweifellos musste ein Trick dabei sein, den die Hüter der östlichen Weisheit übersehen oder aus unerfindlichen Gründen zu nutzen verabsäumt hatten.

Es fiel auf, dass jene, die sich zu ihrer umfassenden Schuld bekannten, wie selbstverständlich auf der Seite all derer standen, an denen sie schuldig geworden zu sein behaupteten: Sie gaben die Schriften ihrer toten Feinde heraus und akzeptierten ihre Beweggründe posthum, sie gruben mit gleicher Inbrunst die Knochen der Dinosaurier und Neandertaler wie die Gräber fremder und eigener Ahnen aus – letztere durften seit einiger Zeit nicht mehr so genannt werden, weil man damit die Anderen hätte kränken können –, um zu analysieren, zu restaurieren, zu rekonstruieren und die Ergebnisse der Allgemeinheit in Museen zugänglich zu machen, welche nichts weiter darstellten als Orte eines wahllosen, erdumspannenden Reliquienkultes, der nur darauf wartete, ins All vorzustoßen. Sie verteilten mit derselben freudigen Erregung Waffen an Rebellen und Regierungen, mit der sie Impfstoffe an Krankenstationen verteilten, Giftfabriken in alle Welt lieferten und Gelder für den Wiederaufbau von ihnen zerbombter Innenstädte bereitstellten. Sie zeigten sich, an welchem Ort der Welt auch immer, busy, sobald sich dort eine Initiative bildete, um eine Schuld – und damit die Schuld aller – einzufordern. Wo immer sich ein Bewusstsein bildete, wo immer sich eine Feindschaft aufbauen konnte, wo immer etwas gegen ihren Willen und ihre Vorstellung zu geschehen drohte, waren sie zur Stelle und übernahmen die Initiative.

Fac ten Chek oder Die Eskapade. Erzählung von Ulrich Schödlbauer »