Wer auch immer der SPD den Ratschlag gegeben hat, sie möge, wann und wo es geht, die Geschäfte der Union besorgen, sie befolgt ihn gründlich und mit jenem erhabenen Ernst, der wahre Klasse verheißt. Was nicht heißt, dass all ihre Motive erhaben genannt werden sollten. Wie man im vergangenen Wahlkampf erfahren durfte, suchen selbst ihre Ministerpräsidentinnen den Schulterschluss mit der Kanzlerin, wenn es gilt, deren eigene Kandidaten auszustechen.
Soviel Gemeinschaft unter politischen Gegnern war selten. Sie könnte fast begeistern, hätte die Kanzlerin nicht gleichzeitig eine atemberaubende Kehrtwendung hingelegt, die es selbst im Nachhinein nicht erlaubt zu entscheiden, welche Schulter denn eigentlich gemeint war – außer der gerade angesagten. Angesagt zu sein ist in diesen stürmischen Zeiten nicht leicht. Da hält man sich besser an Ansagen, die vom Konkurrenten getätigt werden, vielleicht liegt er damit ja vorn. Dass man so das Ende der Konkurrenz besiegelt und die Kundschaft bereits anfängt, die Kopie vor dem Original zu verabschieden, lässt sich verschmerzen, wenn das Ende der eigenen politischen Karriere ohnehin in Reichweite liegt. Insofern ist das gezinkte Angebot des Vorsitzenden, der nach allen Regeln der Parteipolitik das Umfrage-Desaster zu verantworten hat, zu gehen, falls die Partei meine, auf diese Weise werde ihren Interessen besser gedient, nicht ohne Witz: man muss seiner Sache sehr sicher sein, um in solchen Zeiten die Antwort »Nein, nein, du machst das ganz gut!« aus ihr herauszukitzeln.
Vielleicht sollte die Partei sich an dem Zweiter-Klasse-Satiriker Böhmermann ein Beispiel nehmen. Dessen, nach dem Medienecho zu urteilen, fast unumgängliche Beschimpfung eines ausländischen Staatsoberhauptes bedient sich – bisher kaum thematisiert – eines orientalischen Registers, das hierzulande vor allem Geringverdienern aus ihrem Lebensalltag vertraut ist. Ein Stück weiter entwickelter Willkommenskultur sozusagen, bei dem der Beschimpfte, recht betrachtet, sogar Pate stehen durfte: Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Diese Volksnähe ist der Mutter aller Parteien im letzten Jahrzehnt, genauer gesagt, seit Schröders berühmten Hartz IV-Regelungen abhanden gekommen, auf deren Grundlage die jetzige Kanzlerin von Zufriedenheit zu Zufriedenheit schreitet oder jedenfalls bis vor kurzem schritt. Denn dass nun auch die zugereiste Neu-Klientel in den Genuss von Zuweisungen kommen soll, die bisher im Volk als Inbegriff sozialdemokratischer Sozialdemontage galten, hält dasselbe Organ der Gottheit mehrheitsmäßig, gelinde gesagt, für eine Sauerei. So, zwischen ›Saustall‹ und ›Ziegenficker‹ changierend, beides in ordentliche Gänsefüßchen gepackt und im Irrealis verkauft, könnte der Partei die Auferstehung gelingen. Sie müsste sich nur, in einem Bekennerrausch ohnegleichen, sämtliche Übel der Republik an die breite Brust heften und die Wende verheißen. Wer wäre dafür besser geeignet als der bisherige, gegenwärtige und zukunftsfähige Vorsitzende, dem man ohnehin seit langem eine gesteigerte Wendefähigkeit attestiert? ›Den Saustall ausmisten‹: so zu reden verheißt wahre Nähe des Volkes, der Populismus vergeht wie leichtes Gewölk vor der Sonne angesichts der Rückbesinnung auf alte Grundwerte, deren erster lautet: Bediene dich bei jenen, an deren Votum dir gelegen ist.
Wie lautet TTIP in der Sprache der Eingeborenen? Genau. Wie finden die werktätigen Massen die Rente für alle? Genau. Was sagt der Stammtisch über den EU-Türkei-Deal? Genau. Wie nennt der verantwortungsbewusste Teil der Nation die Waffenexporte in Krisengebiete? Genau. Was hält der besorgte Teil der Nation von forciertem Religionsimport und archaischen Schlachtritualen? Genau. Was von Totalüberwachung und geduldeter Netzspionage? Genau. Welche Vokabel steht dauerhaft im Raum, wenn das Volk über Russland-Sanktionen und Nato-Ausweitung diskutiert? Genau. Wie finden die Steuerzahler den vertagten griechischen Schuldenschnitt? Genau. Wie nennt der Volksmund den Bundeswehr-Einsatz im Inneren? Genau. Wo kommen, den Eherechts-Vorstellungen der Partei zufolge, die Kinder her? Genau. Was prangt an der Wand, wenn Europäer Europäer des Verrats an Europa bezichtigen?
Ein Wort, ein Wörtlein nur.
Böhmermann, geh du voran.
Alle Sozis folgen dann.
Da die CDU im Einsatzfall keine Deutschen, sondern nur noch Arbeitnehmer- und Kapitalflüsse kennt, während die SPD, unbeschadet ihres angestammten Internationalismus, doch einst die Nation von unten im Blick hatte, die kleinen Leute, die es sich in der Regel nicht aussuchen können, an welcher Stelle des Planeten sie ihre Macherqualitäten der globalen Wertschöpfungskette zur Verfügung zu stellen gedenken, schlagen wir vor, dass erstere aufgrund ihrer Erfolge disqualifiziert und in den europäischen Polit-Zirkus verschoben wird, indes die SPD die Reste der Nation hinter sich – und unter der oben erwähnten Parole – sammelt, um sie gegen die allgegenwärtige AfD und allgemein das Böse in der Welt ins Feld zu führen. Welches Feld? In Deutschland ist das Denunzieren wieder en vogue, da beantwortet sich diese Frage fast von selbst. Doch ein wenig Nachhilfe kann nie schaden.
Die AfD, vereinfacht gesagt, erleichtert der CDU das Regieren. Genauer gesagt, durch ihr bloßes Dasein, potenziert durch ihren Erfolg bei den Wählern, wird der Machtfluss hin zur CDU unumkehrbar, immer vorausgesetzt, es gelingt, erstere dem heimischen Publikum als Front National, soll heißen, als nicht gesprächs- und koalitionsfähig zu verkaufen. An dieser Front arbeiten viele, von den Medien über die Regierung bis zu bekennenden AfDlern, und der Erfolg kann sich sehen lassen. Je stärker der Popanz, desto mehr schiebt sich das Spektrum der Alt-, System- oder ›bürgerlichen‹ Parteien zusammen, die sich gern die demokratischen nennen, und desto abhängiger werden sie voneinander. Ist das schlecht? Ist das gut? Es wirkt alternativlos, nun gut. Vor allem heißt es: Wer einmal regiert, hat freie Partnerwahl, er kann, grobe Kunstschnitzer abgerechnet, nicht mehr abgewählt werden, er hat das Sagen. Eine Partei, die dieses System mitträgt, angeblich aus moralisch-politischen Gründen, in Wahrheit, um die Fleischtöpfe nicht Leuten zu überlassen, die noch nicht so geübt darin sind, sich zu bedienen, schwingt sich in jenen Zyklus ein, den die FDP beispielhaft vorführt: schrumpfende Wählerzahlen, solange man mitregiert, bis man fürs Mitregieren nicht mehr taugt, anschließend Existenzkrise und langsame Rückkehr – nein, nicht an die Hebel der Macht, sondern in die Statistik. Sie sind ja nicht dumm, die Wähler – außer den dummen –, sie verstehen recht gut, warum die Loser-Parteien so häufig die Prinzipien-Karte ziehen. Schließlich besteht ihre Aufgabe darin, an Entscheidungen öffentlich teilzuhaben, die ein anderer fällt, so kollegial und ›offen‹ er sich auch geben mag. Also stehen sie zu ihnen – aus Grundsätzen, die sie nicht aufgeben dürfen, weil sie sonst ihre Identität ›als Partei‹ aufgeben müssten. Das nenne ich identitäre Politik: eine Politik der ängstlichen Identitätswahrung, stetig erneuert aus dem Bedürfnis, die wirklichen Machtverhältnisse zu verschleiern, obwohl es an ihnen nichts zu verschleiern gibt. Identitätspflege, so betrieben, ist nicht nur nutzlos, sie verschwendet die Glaubwürdigkeit der Prinzipien zusammen mit der eigenen, sie hat sie bereits verschwendet und spielt im Glaskasten weiter – unter dem Hohn und dem Gelächter der Zeitgenossen, aber so selbstversunken, so schön.