Blickt man auf die Gesellschaft der Nationen, dann fällt auf, dass sich auch unter ihnen Moralisten der gehobenen und der gesenkten Braue finden, Moralisten von Geburt und solche, die ihre Lektion gelernt zu haben beteuern. Kein Zweifel, sie ergänzen einander, sie kommen voneinander nicht los, sie haben einander unendlich viel zu sagen – ins Gesicht, aber auch sonst, hintenherum, wenn einer Partei etwas stinkt oder der Einzelne besser schweigt. In solchen Fällen tritt das Kollektiv in Aktion, die üblichen Sender senden, die fleißigen Finger der Nation tasten das Feld der gängigen Überheblichkeiten ab, die kritischen Federn federn ins intellektuelle Abseits, die Helden des Geistes… Parlamente, getragen von historisch-geläutertem Hochgefühl, beschließen Resolutionen, die aus der Empörung der anderen Seite bereits Kapital schlagen, bevor sie Gelegenheit hatte, sich erkenntlich zu zeigen, Leitfiguren der Unterhaltungsbranche bekommen plötzlich Meinungen wie andere Leute Brechdurchfall und der eine oder andere zur Hälfte abgehalfterte Volksheld erhebt seine Stimme, als kehre er in den Kreis der Gemeinten zurück.
Bleiben wir nüchtern: Es sind keine Moralisten, die sich da zu Wort melden, jedenfalls keine auf eigene Faust und eigene Rechnung, um von Urteil und Gewissen zu schweigen, es sind, neben dem üblichen Anteil an Mietschreibern und Aufpeitschern, Leute, die es als ihre Aufgabe ansehen, Kollektivgeschichte als Sittengeschichte zu schreiben, auch wenn ihnen das Wort wenig sagt. Sie vergleichen den Stand der – politischen, gesellschaftlichen, religiösen – Gesittung hier wie da und kommen nicht umhin zu konstatieren, dass ›wir‹ besser dran sind, was wenig mehr bedeutet als: Wir sind wir und diese wären wie wir, wären sie nur weiter. Die eifrigsten Befürworter dieser Sicht sind Leute mit einem gespaltenen, man darf auch sagen: doppelten Wir (und gelegentlich doppeltem Pass), die sich als Kenner verstehen, weil sie, meist berufsbedingt, die Seite gewechselt haben und mit doppeltem Konsumstandard punkten.
Doch leidet ihr Kennertum darunter, dass sie eine einmal gefällte Lebensentscheidung all denen andienen wollen, die sie weder gefällt haben noch sie zu fällen gedenken. Die Entscheidung für eine aufnehmende Gesellschaft ist um Gründe selten gelegen, sie setzt aber eine andere voraus: Dort will ich hin. Dieses ›Dort‹, der geographische Ort einer unbestimmten, in den seltensten Fällen eintretenden Erfüllung, ist nicht die fremde Gesellschaft, über die man das eine oder andere weiß oder nicht weiß, sondern das ›Dazwischen‹, ein ausgedünnter Raum, bevölkert von Leuten mit ähnlichen Schicksalen und ähnlichen Handlungsoptionen. Nein, sie bringen ihre Gesellschaft nicht mit, allenfalls ›Sitten‹ – was spätestens in der nächsten Generation nichts Gutes bedeuten muss –, sie lassen sie dort, wo sie sie verlassen haben. Die Kompetenz der erfolgreich Integrierten richtet sich auf diese Gruppe und sagt: »Tut es uns nach!«, sie richtet sich auf das verlassene Land und sagt: »Solange die Gründe bestehen, die uns zur Auswanderung bewogen, betrachten wir dieses Land als zurückgeblieben.«
Mag sein, mag nicht sein. Etwas im Menschen hält ihn davon ab, sich als zurückgeblieben zu begreifen. Zurückgeblieben sind immer die Anderen. Das ist keine Auffassung, die Nationalstaaten von anderen unterschiede, sondern, prima vista überraschend, ein starkes Merkmal von Staaten, deren Eliten sich im postnationalen Gefühlsstadium bewegen, während die Bevölkerung zweifelnd das Haupt wiegt oder auch nur den Kopf schüttelt über soviel Leichtsinn. Das elitäre Bewusstsein, weiter zu sein als die eigene Bevölkerung und (vermutlich) man selbst, benötigt andere Staaten als Vorbild – »Da wollen wir hin!« – und Schreckbild – »Das haben wir überwunden!« –, während der reale Verkehr leicht auf der Strecke bleibt oder, nun ja, in nationalen Routinen verläuft.
Um zu sehen, wie das funktioniert, muss man nicht unbedingt an den Bosporus fahren. Analoges lässt sich heute im Verhältnis zwischen Deutschland und seinen östlich-südöstlichen EU-Nachbarn beobachten. Zu behaupten, es stünde damit nicht zum Besten, wird der Lage nicht wirklich gerecht. Zurückgeblieben sind immer die Anderen. Wenn Polens Kaczyński in diesen Tagen moniert, Deutschland sei seiner Führungsaufgabe in Europa nicht gewachsen, dann muss er dafür keine Gründe mehr anführen, denn er selbst ist der Grund – nicht als Person, nicht einmal als Repräsentationsfigur seines Landes, sondern als Träger einer Überzeugung, die in ganz Europa in den vergangenen Jahren ›sprunghaft‹ gewachsen ist. Führen heißt überzeugen: Wer in den Augen der anderen zurückbleibt in Überzeugungen, angesichts derer längst die Zweifel überwiegen, kann nur mit Mitteln führen, welche die Spaltung vertiefen.
Und wenn wir doch recht hätten? Haben wir nicht recht? Aber ja, wie könnten wir etwas Unrechtes vertreten? Schließlich sind wir über das Unrecht hinaus – wir sind weiter. Es liegt ein großes Unrecht darin, uns vorzuhalten, wir hätten unrecht. Wie jedes Unrecht muss auch dieses gesühnt werden. Das haben wir gelernt. Was haben wir sonst gelernt? Dass unser Marsch in die Zukunft ein langer sein wird und dass es falsch wäre, ihn vorzeitig abzubrechen. Vorzeitig heißt: vor jener leuchtenden Zeit der Reife, in der wir alle Europäer sein werden und vieles mehr. Es ist also falsch von denen, die ihn nicht mitmachen wollen, ihn als unseren zu bezeichnen. Es ist doch der ihre, nur dass sie ihn nicht mitmachen wollen. Wir lassen euch nicht zurück, auch wenn ihr zurückbleibt. Kein Wunder, dass den Fremdretardierten angesichts dieser Logik der Kamm schwillt.
Rettet Europa vor den Europäern: so lautet die Parole diesseits und jenseits der Visegrád-Linie, der Hochmuts-Linie Europas, eingegraben durch zwei konkurrierende Geschichtserfahrungen, die einander nichts nachgeben und deren Träger nicht nachgeben werden. So kommt gleich dahinter die andere: Rette sich, wer kann.