Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Die Neigung meines Onkels zur Geschichtsklitterei hatte verschiedene Gründe, darunter historische: Im Sommer ʼ45, als es galt, dem Heimwärts­drang der Füße zu folgen, erlaubte sie ihm, falls man seinen Reden Glauben schenken darf, mehreren alliierten Militärposten ein Schnippchen zu schlagen und so zu verhindern, dass er im nächstgelegenen Kriegs­gefangenen­lager landete. Ja, man sagte ›landen‹, um anzudeuten, dass der Irrflug des aufgescheuchten Subjekts doch einmal zu Ende gehen musste. Das Radebrechen ging meinem Onkel noch zu meiner Zeit glatt von der Zunge, er konnte Identitäten nach Belieben auffahren, sobald ihm danach war oder die Umstände es verlangten. Milieu-Angst lag ihm fern, er stürzte sich auf fremde Milieus, etwa das meiner studentischen Freunde, und achtete der Peinlichkeit nicht: ein Zug, den ich gelegentlich an unseren Medien bewundere, gerade jetzt z.B. aus Anlass des amerikanischen Wahlkampfs, doch der Gelegenheiten sind viele. Vielleicht war – und bin – ich durch ihn gewarnt: sobald ich eine Zeitung aufschlage, halte ich unwillkürlich nach dem nächsten Kontrollposten Ausschau – es könnte sein…

Der rumänische Schriftsteller Cioran, der im Pariser Dauerexil seine dritte oder vierte Identität auftrug, nachdem der andere Teil schäbig geworden war, erzählte mir einmal, nach dem Krieg hätten sich die Deutschen, die bei ihm klingelten, gern als Schweizer ausgegeben, sehr zu seinem Vergnügen, da er lange genug in Berlin gelebt hatte, um sein Ohr für die verschiedenen Dialekte zu schärfen. Diese eingebildeten Schweizer gebärdeten sich, sobald die Rede floss, als die härtesten Kritiker der Deutschen, wider alle unernsten oder auch ernsten Einreden des Gesprächspartners: wie gesagt, sehr zu seinem Vergnügen, da er das Spiel durchschaute und den Angstschweiß riechen konnte, der langsam durch ihre Hemden kroch. Man sollte nicht glauben, solche Dinge seien in der Generation abgetan, in der sie passierten, sie schlagen immer wieder nach außen und ein Großteil der heutigen Reden über die Deutschen, privat oder öffentlich abgesondert, sind fingierte Schweizerreden – man hört das ›Klick!‹, wenn der Schalter umgelegt wird, und weiß schon Bescheid. »Innen tobt Er« hat einmal jemand geschrieben, und es ist was dran, es ist was dran.

Was dran ist, das müssen am ehesten jene ›Bürger‹ erfahren, in denen ›Er‹ weniger oder gar nicht tobt – auch das soll es geben. Da wäre es doch besser, sie gingen ihrer Arbeit nach und überließen den anderen den Staat, ihren Staat, der schließlich, wenn man den Reden der öffentlichen Neurotiker lauscht, aus nichts als Kraft besteht, aus Wirtschaftskraft, ›bärenstark‹, jedenfalls stark genug, um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu schultern, worin immer sie bestehen mögen. Fehlt zur Kraft und zur Macht nur die Herrlichkeit, die durch die Gender-Terminologie ein wenig in Verruf geraten ist, aber nach wie vor existiert. Die Herrlichkeit der Deutschen, jeder weiß es, lässt sich in zwei Buchstaben pressen: E–U. Für jedes deutsche Dilemma eine europäische Lösung: dieses ›Mantra‹ derer, die uns regieren, erzeugt den Extraposten Europäertum, der sie in Europa zusehends isoliert. Ordere einen Europäer und du bekommst eine Deutsche – und umgekehrt, der Effekt bleibt der gleiche. Die Kraft, die stets das Gute will und stets … zwar nicht das Böse, aber eines seiner Derivate schafft, mit denen die Regierungen der umgebenden Staaten ihren eigenen Ablasshandel betreiben, lässt mich erneut an meinen Onkel denken, dessen lebenspraktische Interventionen stets, was meine Person anging, an derselben Klippe zerschellten – sie konnten den Umstand nicht aus der Welt schaffen, dass überall dort, wo mein Lebensentwurf auf dem Spiel stand, das Gefühl des Bedrohtseins in meinem Herzen aufstieg und alle weitere Einflussnahme vereitelte.

Mein Lebensentwurf … die europäischen Staaten sind alte, zum Teil auf lange vorstaatliche Erfahrungen zurückgehende Gebilde, die ihren jeweils eigenen Entwürfen folgen. Europa ist kein Traum, es ist eine Realität, in welcher den Institutionen der EU eine begrenzte Rolle zukommt: gewünscht, gewollt, respektiert, auf Evolution angelegt, aber nicht grenzenlos und keineswegs auf Dauer geschaffen, um eine große Exportnation zu saturieren. Übrigens gilt das Subsidiaritätsprinzip, auf das sich die Staaten der Union einmal geeinigt haben, auch auf intellektuellem Gebiet. Europa wird die Identitätsprobleme der Deutschen ebenso wenig lösen wie ›der Westen‹, schon der Gedanke daran erscheint lächerlich und obszön – obszön, gewiss, in seinem Mix aus Selbstauslieferung und Entblößung. Die Deutschen wissen nicht, wann sie anstößig werden, dies- und jenseits allen ›Verhaltens‹: ein altes Thema und ein europäisches dazu. Die Deutschen? Nein, keineswegs. Man kann, als Deutscher, am deutschen Europa-Zwang leiden wie an jedem anderen, ohne ›europafeindlich‹ zu denken.
In diesem Sinne: Werdet Briten! Oder – gelernt ist gelernt – Schweizer.