Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Sie habe gelitten wie eine Hündin, erklärte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, im Spiegel-Interview (21.11.2017) auf die Suggestiv-›Frage‹, ob sie sich nicht über die Kompromissbereitschaft der Grünen in der Frage der Obergrenze für Flüchtlinge geärgert habe: »Beim ›atmenden Deckel‹ in der Flüchtlingspolitik gab es jetzt aber schon viel Gegenwind von grüner Seite.« Nicht geärgert habe sie sich, nein, gelitten hingegen schon: Ärger schlägt Falten, Leid verschönt.

›Gelitten wie ein Hund‹ lautet ein idiomatischer Ausdruck des Deutschen, eine Redewendung, die in Sätzen wie ›Ich habe gelitten wie ein Hund‹ (das ›Ich habe…‹ beliebig ersetzbar durch ›er, sie es hat…‹) zur Anwendung kommt. Idiomatische Ausdrücke sind geprägte Formeln, die nur um den Preis des Sinnverlusts (und der Aufladung mit anderen Bedeutungen) verändert werden können. Angenommen, Göring-Eckardts männlicher Kollege Hofreiter hätte in einem ähnlichen Gespräch zum Besten gegeben, er habe gelitten wie ein Rüde, so wäre beides, die Sinnentleerung und -verschiebung, gleich sinnfällig vor dem Leser-Auge gestanden, das Publikum hätte gejuxt und die Branche der kommerziellen Kritiker hätte den Spott zum Anlass genommen, um über Eignung und Nichteignung von Rüden für höchste Parteiämter in diesem Lande nachzudenken, zumindest Nachdenklichkeit zu simulieren, denn zu mehr hätte es wohl auch in diesem Fall nicht gereicht.

Göring-Eckardts Hündin hingegen kann sich des wohlwollenden Publikumsschweigens sicher sein – weniger, weil man ihr die Unkenntnis grammatikalischer Begriffe zugesteht, als vielmehr, weil es sich so gehört. Selbstverständlich steht dahinter die ebenso willkürliche wie willentliche Verwechslung des grammatischen mit dem biologischen Geschlecht, mit der bereits die zweite Generation der im Westen Geborenen sich herumschlägt, als sei es eine der biblischen Plagen, gegen die nur Folgsamkeit wappnet. Wer auch immer den Herrn/die Herrin geben mag, in diesem Fall steht er/sie selbst unter dem Bann der verabreichten Medizin. Zweifellos leidet eine Hündin anders als ein Rüde, vom Welpen nicht zu reden, denn, nie zu vergessen: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. Der Schoß…? Hoppla, da haben wir sie beim Wickel, die Gegen-Industrie der Gender-Hetzer, der Gender-Zersetzer, der Gendarmen des Gender-Gewerbes, das unaufhaltsam Posten und Karrieren ausspuckt, so wie es Karrieren vernichtet, sobald die Zeit gekommen ist, denn alles hat und benützt seine ZEIT.

Dem sei, wie ihm sei. KGE, wie sie liebevoll in der Öffentlichkeit genannt wird, vermutlich, weil viele Kommentatoren im Lande leiden wie eine … wie ein … ach shit, wenn ihnen das tabuisierte G-Wort unter den Tasten hervorquillt, hat mit der sprüche-wörtlichen Hündin Aufmerksamkeit auf einen Umstand lenken wollen, der nicht unter die Teppichin gekehrt werden sollte, bei alledem und bei allem Respekt vor der Sprache und ihren Zwangsgerätschaften: Auch wir haben gelitten bei jenen Verhandlungen, früher und sensibler als alle anderen, die jetzt aus dem Scheitern vor Jamaika Kapital schlagen wollen, vor allem: an der richtigen Stelle.

Was diese Stelle angeht, die Stelle des atmenden Deckels, von dem stets gesagt werden muss, dass er nicht Obergrenze genannt werden darf (einer jener achtbeinigen Hasen, die sich bei Bedarf auf den Rücken werfen, um weiterzurennen), für Flüchtlinge, die weit und breit keine sind, es sei denn, eine ebenso bedarfsgerechte wie willkürliche Neudefinition des Begriffs ernennt sie dazu, so erinnert sie an die alte Regel, dass Politiker ihre Karrieren in der Regel mit dem Satz an Sprüchen bestreiten – und mit ihm untergehen –, mit dem sie sich seinerzeit Zutritt zur öffentlichen Rennbahn verschafften, weil sie gerade damals en vogue waren und so etwas wie eine Ausbildung, vorzugsweise akademischer Natur, dahinterstand. Der Zeit- und Parteidruck erlaubt ihresgleichen nicht oder nur in seltenen Fällen, was doch das Privileg des Menschen, gebildet oder ungebildet, in zivilisierten Gesellschaften ausmacht, nämlich weiterzudenken, aus Erfahrungen, die das Leben für jeden bereithält, die nötigen Schlüsse zu ziehen und sich zu bilden, das heißt, sie mit dem Wissen der Zeit abzugleichen. Dagegen steht das Beschlusswesen der Parteien, das an jedem Erfolgsmodell festhält, selbst für den Fall, dass es sich in ein Misserfolgsmodell verwandelt, weil, nun weil es erst auf den ausgekosteten Misserfolg reagieren darf, und das beileibe nicht immer negativ: Kommen schlechtere Zeiten, auch gut, man steht sie gemeinsam durch, Ausfälle mitgerechnet, und rechnet sich hoch, am besten gleich in die Loge.

An dieser Stelle kommt erneut die Hündin zum Zug. Sie erinnert an Zeiten, in denen aufgeschlossene Theologie-Assistentinnen religiöse Texte umschrieben, indem sie das Wort ›Gott‹ mechanisch durch ›Gottin‹ ersetzten, um damit die feministische Lesart endlich an hierarchisch zentraler Stelle durchzusetzen: Denn sie war immer schon unser. Immer schon und immerdar: die achtziger Jahre ließen am anthropo-theologischen Gestus von Emanzipation keinen Zweifel, bevor die Öffnung der Berliner Mauer, das Startsignal so vieler Politkarrieren Ost, die zweite Maschine auf Lebenszeit in den Köpfen der Einschlägigen installierte: Die Mauer (in den Köpfen) muss weg. Man beachte den Zusatz ›in den Köpfen‹: in ihm steckt der Clou des Ganzen, die große Umkehr des Zeit-Sinns, die als demokratischer Aufbruch begann und aufbruchsicher die scheibchenweise Aneignung der Demokratie forcierte.

Das war die Zeit, in deren Anfängen jemand wie Walter Jens westlich des Rheins noch rasch die Parole ausgab, seinesgleichen werde dann eben für die nächsten fünfzig oder fünfhundert Jahre in die Katakomben gehen. Seinesgleichen hatte … verloren, aber nicht aufgegeben. So wie die reale Mauer den Menschenstrom von Ost nach West unterband, so unterband, folgte man ihren Auslegern, die ›Mauer in den Köpfen‹ die Verwandlung im Westen gewachsener Mentalitäten in etwas, was weder westlich noch östlich genannt werden durfte, vielmehr das gemeinsame Erbe der Trennung … nein, nicht reflektierte, sondern gut dialektisch aufhob: durch jene Dialektik von Herr und Knecht, mittels derer der Knecht (das unter die Räder gekommene Kommandosystem sowjetisch-deutsch-spießiger Provenienz) sich binnen weniger Jahrzehnte zum Meister des Herrn (des siegreichen Liberal-Kapitalismus des Westens) aufschwingen sollte.

Demnach war es der Westen, der sich bewegen musste … eingerissen gehörten die Grenzen der westlichen Denkungsart, nach dem gleichen Denkmuster wie heute die Grenzen der Nation, des Staates, des Gemeinwesens, des gemeinen Wesens, das immer voraussetzt, dass eine gewisse Ansammlung von Menschen sich Regeln gibt, Praktiken ausschließt, öffentliche Güter schafft, Verteiler festsetzt, Ansprüche reguliert, das heißt, sich und anderen Grenzen setzt. Der verworfene Stein der ›ehemaligen DDR‹ – man beachte das ›ehemalig‹: Steckte darin nicht bereits die künftige DDR? – sollte zum Eckstein werden (eine christlichen Theologen wohlvertraute Formel), zum Eckstein der neuen, nun endlich weltweiten Ordnung, die das alte Dilemma des real existierenden Sozialismus, von den Ressourcen der weitaus realer existierenden kapitalistischen Länder abgeschnitten zu sein (bloß Braunkohle, seufzte Heiner Müller, der Theaterstratege), in die Rumpelkammer der Nationalgeschichte verbannte, obwohl das West-Ost-Schisma zwar Nationalgeschichte schrieb, aber mit harter Hand und ohne die Nationen zu befragen.

Denkungsart braucht keine Inhalte, vor allem keine sozialen, ihr genügt die Maschine im Kopf, der Gleichrichter, der die unsrigen von den nicht-unsrigen scheidet. Dächten alle wie wir, dann fielen alle Lösungen leicht. Vielleicht fallen sie ins Abseits, auch gut, fallen sie ins Bodenlose, dann schickt man die nicht-unsrigen hinterher und triumphiert: Hereingefallen! Fallen sie aber auf fruchtbaren Boden, dann ist er unser auf alle Zeit. Wer fragt danach, was sie lösen? Das einzige, was sie lösen sollen, ist die Machtfrage. Ist sie gelöst, lösen sich die Probleme von selbst. Wer – wen! Um welchen Preis? Das zu fragen wäre, sagen wir, altes Denken.

Pauvre KGE – so von den alten Reflexen eingeholt zu werden, mit Nerv und Nervenkindern, im Kreise der ihren, der früh Vergreisten und ihrer Ziehenkel, mit Extra-Kita und Kinderkreuzzügen in Tagebaugebiete, wo es so gruselig zugeht wie einst in den Innenstädten der DDR, mit rentablen Investments in Flüchtlingsindustrie und Flüchtlingsselbsterlösung, diese flüchtigste aller Lösungen –: hartes Los! Und welches Glück! Wenigstens das Volk sind sie losgeworden, das ewig murrende, schlecht einzubindende, den Dennoch-Fetisch allen traditionellen Linksseins – man kennt sich, man wählt, man versteht sich, man bleibt auch bei der Wahl unter sich. Und siehe, es reicht doch! Wasser zu Wein – ein Esel müsste sein, wer an so kleinen Aufgaben scheiterte. Soll das Volk doch wählen! Abgrenzung siegt. Ihre Parole heißt Offenheit: unsere Offenheit ist die schönste, keine andere weit und breit kann ihr das Wasser, pardon, den Wein reichen.

 

Aufnahme: © Monika Estermann