von Markus C. Kerber

Am 7.10.2020 debattierte der Bundestag über sich selbst. Genauer gesagt: der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Schäuble, ließ darüber befinden, ob die Reform des Wahlrechts, mit der die Anzahl der Abgeordneten gesenkt werden sollte, abstimmungsfähig sei. Oppositionelle von links und rechts protestierten gegen diese Nicht-Reform, weil deren Anliegen, die Senkung der Anzahl der Abgeordneten von mittlerweile 705 auf ehemals 598, in weite Ferne gerückt sei. Der Bundestag kostete den Steuerzahler im Jahre 2019 fast 1 Mrd. Euro. Bundestagsdienststellen, die sich ›wissenschaftliche Dienste‹ nennen und sehr parteiische Gutachten auf Anforderung von Abgeordneten vorlegen, sind zu einem nicht unerheblichen Kostenblock im Bundeshaushalt geworden. Seit Jahren geben selbst die Staatsparteien – darunter CDU/CSU und SPD – zu, dass die Situation nicht befriedigend sei. Zu einer durchgreifenden Wahlrechtsreform konnten sie sich wegen unterschiedlichster Gesichtspunkte nicht durchringen.

Dies hängt damit zusammen, dass es Parteien gibt, die in ihrem Stammland von der Direktwahl in besonderer Weise profitieren. So holt die CSU in Bayern sämtliche Direktmandate, weil sie dort die eindeutig stärkste Partei ist und man auch mit weniger als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen ein Bundestagsmandat direkt erringen kann. Andere Parteien – wie die Oppositionellen aus den Reihen von AfD, PDS und FDP sowie den Grünen – schwören auf das Verhältniswahlrecht, das heißt, auf die Bestimmung von Abgeordneten anhand von Landeslisten. Hierbei dürfen die Parteien darüber entscheiden, über wen es den Bürgerinnen und Bürger des jeweiligen Landes erlaubt ist, abzustimmen. Mit dem Ankreuzen einer Landesliste wird die vorgefertigte Reihenfolge, die von einem Parteitag – nach intransparenten Beratungen in Hinterzimmern – entschieden worden ist, beschlossen.

Der verdienstvolle Kombattant Dr. Manfred Hettlage führt seit Jahren einen Krieg gegen dieses Wahlsystem. Er ist der Auffassung, dass nicht nur eine Stimme ausreiche, sondern dass es in der Demokratie auch nur eine Stimme geben dürfe. Indessen will er allein dem Kandidaten mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis – auch wenn es nur 21 oder gar 19 Prozent der abgegebenen Stimmen sind – das Bundestagsmandat zusprechen. Über Dr. Hettlages Vorschläge, die aufgrund der mangelnden absoluten Mehrheit der Direktstimmen problematisch sind, ist weder im Bundestag noch im öffentlichen Raum gestritten worden.

So geht im Prinzip alles weiter wie bisher. Die Parteien von PDS bis AfD haben es sich nicht nur gemütlich im Staat eingerichtet. Vielmehr haben sie ihn kolonisiert. Die Angst, Pfründe zu verlieren, ist größer als der Wille, Veränderungen in diesem System zu wagen. Auf diese Weise wird nicht nur viel Geld verbraten, ohne dass es der Demokratie nützt. Im Gegenteil, die Anerkennung des Deutschen Parlaments als einer repräsentativen Versammlung des deutschen Volkes wird zunehmend ausgehöhlt. Alle Bürgerinnen und Bürger, die sich die lapidaren Wortgefechte in einem gelangweilten Plenum, das höchstens zu 10 Prozent besetzt ist, anhören, gewinnen den Eindruck, dass hier ein kleiner Club von Erwählten Scheindebatten führt. Helmut Schmidt hat auf seine alten Tage mit aller Deutlichkeit für ein Direktwahlsystem plädiert. Indessen ließ er offen, ob jeder Abgeordnete auch mindestens 50 Prozent der in seinem Wahlkreis abgegebenen Stimmen erhalten solle, um in den Bundestag einzuziehen. Der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit ist sich indessen einig: Die Damen und Herren Abgeordneten wollen nicht mehr Demokratie wagen, sondern die Beschäftigungsgesellschaft mit 705 Abgeordneten und einem unübersehbaren Tross von Parteimitarbeitern vor der Kritik des Volkes schützen. Das wird auf Dauer nicht gut gehen und lockt prinzipielle Gegner der parlamentarischen Demokratie auf den Plan. Aber bestimmten Abgeordneten sind auch die Futtertröge des Deutschen Bundestags noch zu leer. Daher wird Martin Schulz – der erfolgloseste aller SPD-Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden – neben seinem Bundestagsmandat nun auch noch Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung werden. Dies macht dem Namen von Friedrich Ebert nicht nur wenig Ehre, sondern beleuchtet ein System von Selbstbedienung, das Schulz im Windschatten der Öffentlichkeit in Brüssel von der Pieke auf gelernt hat. Und wie wir sehen, scheint er mit Erfolg dieses System auch in Berlin implementiert zu haben.

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • Der Untergang von HMS Rainbow

    von Don Albino

    §1

    Ein Selbstbedienungsschalter ist ein Schalter, an dem man sich selbst bedient. Vorausgesetzt, man kennt das Losungswort.

    §2

    Galeonen waren jahrhundertelang das Rückgrat der europäischen Seestreitkräfte. Eine davon, die Rainbow (das HMS trat erst später hinzu), Baujahr 1586, brachte es auf 94 Jahre im Dienst ihrer britischen Majestät. Dann versenkte man sie, um sich ihrer Brauchbarkeit noch eine Weile als Wellenbrecher zu erfreuen.

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Es leuchtet ein, dass, wer ausgeschlossen bleibt vom großen Mediengeschäft (oder ausgeschlossen wurde), eher auf der kritischen Seite zu finden sein wird als auf der affirmativen – vorausgesetzt, die ›führenden‹ Medien stehen, wie es zu gehen pflegt, im Sold der Mächtigen oder pflegen die Allianz aus anderen Gründen. Seit den frühen Tagen des Journalismus gilt: Je konformer die Platzhirsche, desto giftiger die Habenichtse. Das betrifft das Verhältnis zur Regierung, zum

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Politik / Gesellschaft

  • von Justus C. Justus

    VWL war gestern. Wer künftig mitreden will, studiert VdL, um zu wissen, wie man’s nicht macht.

    *

    Hiermit gebe ich offiziell meinen Umzug in den Yagir bekannt. Ich habe schon einige Jahre dort gelebt, aber es war mir nicht bewusst. Ich habe begriffen.

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    »Aber der Yagir ist Fiktion!« Das sagen mir meine engsten Freunde und wischen sich nervös die Stirn, als wollte ich ihnen auskommen. Meine Antwort lautet: »Sicher. Wir alle sind Bürger zweier Welten. Manche wissen es, manche

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  • von Herbert Ammon

    Am Freitag, den 11. Juli 2025, wurde auf der Bühne im Bundestag ein politisches Lehrstück aufgeführt, welches von der Regie – den Parteispitzen der Regierungskoalition – im Spielplan so nicht vorgesehen war. Noch in der Woche zuvor hatte der Richterwahlausschuss des Bundestags dem zwischen CDU/CSU und SPD ausgehandelten Dreiervorschlag – zwei SPD-affine Juristinnen, der Arbeitsrechtler Günter Spinner als Kandidat der CDU – für drei vakant werdende Sitze am

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Souverän für Amerika

  • von Ulrich Schödlbauer

    Als Ionas mit einem gewaltigen Rülpser aus dem Bauch des Wals entlassen wurde, da fand er sich nicht, wie oft behauptet, an einem abgelegenen Gestade wieder, sondern im Zentrum einer volkreichen Stadt. Der Wal, geplagt von seinem Gedärme, war die Flüsse hinaufgeschwommen, solange sie ihm passierbar dünkten. Hier aber, vor einer adlergeschmückten Brücke, hatte er den point of return erreicht und verabschiedete sich von der staunenden Menge mit einer gewaltigen Fontäne,

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Johannes R. Kandel

    David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten

    David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist

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  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G