von Markus C. Kerber

Wer am Tag der Deutschen Einheit den Mut fasste, einen ausgedehnten Spaziergang durch den Berliner Stadtbezirk Kreuzberg-Friedrichshain zu unternehmen, der traf auf jene Jugend- und Kreativszene, die nach Meinung vieler dem kleinsten Stadtbezirk Berlins mit immerhin fast 300 000 Einwohnern seine Würze gibt. Ja, hier ging die Post ab, könnte der wohlmeinende Beobachter und Spaziergänger milder Observanz glauben. Kaum eine location an der Spree auf östlicher oder westlicher Seite, an der nicht lange Schlangen von jungen Leuten – ganz überwiegend ohne Maske – Schlange standen, um Einlass zu irgendeinem event zu erhalten.

Die Kultstätten der Berliner Eventkultur schienen auch zu Coronazeiten und trotz alarmierender Ansteckungszahlen aus dem betreffenden Bezirk und dem angrenzenden Bezirk Berlin-Mitte an Anziehungskraft nichts verloren zu haben. Einerseits ist es gewiss ermutigend, dass viele zum Teil herrenlose Fabrikgelände entlang der Spree nicht der Luxusbebauung überlassen, sondern für die Kultur fruchtbar gemacht werden konnten. Wer indessen am Schlesischen Tor weiter gen Süden fuhr, der sah Massen von jungen Leuten in der dort sprießenden Gastroszene bei Mexican Cocktails und Indian Dinners herzend vereint. Ihnen ging es gewiss nur sekundär um den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Sie nutzen vielmehr die Gelegenheit, um das zu machen, was die junge Generation heute ganz oben auf ihrer Agenda schreibt: ›Ich mach mein Ding!‹

Und wer sein Ding macht, der verschwendet auch nicht Gedanken auf die Voraussetzungen einer freien Gesellschaft oder auf die Wiedervereinigung der Deutschen vor 30 Jahren in Freiheit und Selbstbestimmung, sondern er lebt sich aus, ohne dass ihn das Wohl Dritter auch nur ansatzweise berührt.

Derweil machte Covid-19 Fortschritte und die bewusste Fahrlässigkeit unterschiedlichster Gruppierungen in westlichen Demokratien, ganz allgemein aber in Berlin Friedrichshain in besonders anschaulichem Maße, dürfte die Infektionszahlen nach oben schnellen lassen.

Das haben die Repräsentanten der Berliner Nischenkultur und der Immobilienunternehmer im Weißen Haus namens Trump, der keine Steuern zahlt, gemeinsam. Sie meinten sich einen Kehricht um die Corona-Krise scheren zu müssen und haben schließlich nicht nur sich selbst, sondern auch andere angesteckt.

Schadenfreude ist hier deplatziert. Denn mit der Eigenansteckung wächst auch das Risiko der Ansteckung Dritter. Selbst wer – wie die meisten jungen Menschen – sich schnell von der Krankheit erholt, riskiert negative Langzeitwirkungen. Jedenfalls sind diese bislang unzureichend erforscht.

So ergeben sich zwischen den Ravern in Friedrichshain und Donald Trump erstaunliche Gemeinsamkeiten. Sie verstehen Freiheit als ein Individualrecht ohne Bindung. Sie praktizieren damit ein Freiheitskonzept ohne jegliche Rücksichtnahme. Die westlichen Demokratien sind stolz auf die Errungenschaft des Schutzes individueller Freiheitsrechte, aber sie zerstören sich, wenn es keinen zivilgesellschaftlichen Konsens über einen Minimalkanon von Pflichten gibt. Dazu gehört die Rücksichtnahme auf Dritte, von Nächstenliebe ganz zu schweigen. Wenn indes Parteipolitiker dem Hedonismus das Wort reden, ist die demokratische Dekadenz vorprogrammiert.

Derweil bemühen sich die Institutionen der amerikanischen Demokratie die Folgen der bewussten Fahrlässigkeit ihres Präsidenten für die Regierbarkeit des Landes einzugrenzen. In Kreuzberg-Friedrichshain hörte man währenddessen von der zuständigen Bezirksbürgermeisterin, dass sie das Angebot der Bundeswehr abgelehnt habe, mit einer App die Nachverfolgung von Infektionen zu erleichtern. Sie setze allein auf Aufklärung und guten Willen.

Diese Botschaft schien am Tag der Deutschen Einheit die Klientel der grün-linken Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann nicht erreicht zu haben. Berlin ist und bleibt ein Sumpf. Zu hoffen ist, dass bei der dringenden Suche nach neuen Formen des Regierens ein Institutionenmodell für die deutsche Hauptstadt gefunden wird, wenn Berlin nicht weiterhin ein Hotspot deutscher Dekadenz bleiben soll.

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • von Ulrich Schödlbauer

    Mein lieber ***

    auf Ihrem Weblog las ich vor wenigen Tagen die Bemerkung, es sei besser ein wenig Licht zu verbreiten als schmollend im Dunkeln zu verharren. Das ist, ohne jeden Zusatz gedacht, die Formel der Aufklärung, zuzüglich des Schmollens, auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Man kann diese Formel heute überall finden. Sie ist der Weichmacher der Informationsgesellschaft, in der die digitalen Flutlichtanlagen jeden Winkel aufs Grellste ausleuchten (und das...

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  • von Jobst Landgrebe

    Die politische Geschichte ist die Geschichte des Kampfes unter Gleichen, merkte der Aphoristiker Gómez Dávila einst an, wörtlich schrieb er: »Die Klassenkämpfe sind Episoden. Das Gewebe der Geschichte bildet der Konflikt zwischen Gleichen.« Norbert Elias erkannte, dass die Kulturgeschichte die Geschichte der Kultur der Eliten ist. Wer sind die Eliten? Menschen, die dauerhaft mehr Macht haben als fast alle anderen Menschen einer Gesellschaft - in der Regel ein Promille der...

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Politik / Gesellschaft

  • von Heinz Theisen

    Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung in einer multipolaren Welt

    Der Westen hat kein Monopol auf Modernisierung mehr. Je weniger es nur eine Moderne, den Westen gibt und neue Formen der Modernisierung entstehen, desto mehr werden auch Indien und China politisch ihre eigenen Wege gehen.

    Mit der moralischen, den Westen in seiner Hegemoniebestrebungen legitimierenden Unterscheidung von Demokratie und Diktatur werden wir der Multipolarität der Welt nicht gerecht, zumal die meisten...

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  • von Heinz Theisen

    Globales Denken als lokaler Ruin

    Zu den großen Paradoxien der Gegenwart gehört der Wechsel der einstmals »antiimperialistischen Linken«, die im Gefolge der USA zur Eroberung des eurasischen Raumes in die Ukraine vorgerückt sind. Heute verteidigen sie dort mittels Waffen- und Finanzhilfen den NATO-Mitgliedsanspruch der Ukraine unter Inkaufnahme schwerster eigener Verwerfungen: ihre einstige Entspannungspolitik, die infantile Parole vom »Frieden schaffen ohne Waffen«, aber auch die...

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Souverän für Amerika

  • von Ralf Willms

    I

    im Grunde viel versprochen

    die Pyramiden, das sei nicht die 
    eigentliche Geschichte, da sei eine
    verschwiegene Geschichte
    unterhalb der Geschichte.

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Johannes R. Kandel

    David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten

    David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist...

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  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein...

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die...

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im...

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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