von Ulrich Siebgeber
Helmut C. Jacobs: Der Schlaf der Vernunft. Goyas Capricho 43 in Bildkunst, Literatur und Kunst. Basel (Schwabe) 2006, 681 S.
Manche überlieferten Sätze gleichen öffentlich aufgestellten Körben, aus denen sich jeder herausholt, was er gebrauchen kann, während andere mehr oder weniger achtlos hineinwerfen, was sie nicht mehr benötigen. So ein Satz ist Goyas Il sueño de la razon produce monstruos.
Auf seinem Boden lagert, neben dem Müll der Jahrhunderte, immer die eine oder andere Seltsamkeit. Und ›eigentlich‹ handelt es sich um keinen Satz, sondern um eine Ansammlung von Wörtern, die sich zufällig den Regeln grammatikalischer Korrektheit fügen, aber ansonsten ohne Zusammenhang nebeneinander stehen. Wer die Träume der Vernunft zu kennen glaubt, hat die Vernunft vielleicht nie kennengelernt. Die einzige Metapher von einiger Dignität in diesem Bedeutungsgebimmel ist die vom ›Schlaf der Vernunft‹. Dass letztere bisweilen aussetzt oder darniederliegt, ist eine Erfahrung, der man schwer aus dem Weg gehen kann. Doch eine Abwesenheit, die hervorbringt - was wäre das? Ist der Herr aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.
Dass es so einfach nicht sein kann, das zu sehen genügt ein Blick auf Goyas Blatt. Ob der sinnend-schlafende Herr, der auf ihm zu sehen ist, die Vernunft verkörpert (oder den Künstler), bleibt ebenso zweifelhaft wie die Gewissheit, dass die ›Ungeheuer‹ seine körperliche Erscheinung umlauern und nicht eher das abwesende Gemüt - oder die schlafende Vernunft - in unruhiger Bewegung halten. Wer weiß, ob die Bewegung nicht eher eine heilsame ist und die Schattenwesen, weit entfernt davon, die Abwesenheit des Hausherrn für ihre sinistren Winkelzüge zu nützen, nicht die Elemente einer vernünftigen Weltsicht verkörpern, die sich von kindischen Vorstellungen über das irdische Paradies verabschiedet hat? Wir wissen es nicht und niemand kann es sensu stricto wissen, weil die Instanz fehlt, die über die Spiele der Vernunft und ihre Absencen urteilen könnte.
Ein Buch, das Capricho 43 an die Kultur zurückreicht, die es hervorgebracht hat und bis heute hervorzubringen nicht aufhört, muss selbst ein Stück jener Kultur repräsentieren, und sei es nur deshalb, weil die dazu erforderliche Gelehrsamkeit sich nicht mit dem Zusammentragen von Stellen begnügen kann, will sie den Gegenstand nicht bereits im Ansatz verfehlen. Jacobs' umfangreiche Studie will mit einigen Mythen aufräumen, so mit dem der ›Unentscheidbarkeit‹ der Frage, ob ›sueño‹ als ›Schlaf‹ oder als ›Traum‹ begriffen werden muss. Die Belege sind erdrückend: gleich, ob man die Bildlogik, die zeitgenössische ästhetische Diskussion, Goyas Selbstreflexion als Künstler, literarische Vorlagen oder das seinerzeit aktuelle ›politische‹ Bedeutungsmuster heranzieht, gebührt dem ›Schlaf‹ der Vorrang vor dem ›Traum‹ - die Abwesenheit der Vernunft, nicht ihr ungebremstes Tätigsein schafft die monströsen Zwitterwesen und Angstgebilde. Goyas Schrecken mögen noch die unseren sein - die Dialektik der Aufklärung gehört nicht zu den für ihn bezeugten Denkmustern. Bezeichnenderweise lässt die Abwehr des plumpen Anachronismus die Vielschichtigkeit des Schlaf/Traum-Motivs besser hervortreten als das dichotomische Auslegungsschema. Jacobs reiht den ›Schlaf/Traum der Vernunft‹ unter die kühnen Metaphern ein, die mehr ›zu denken‹ geben als dass sie ›bedeuten‹. Das ist ein notwendiger Hinweis, der den offenen Rätselcharakter des Blattes aus dem Bereich des Missverstehens, dessen Basis das kulturelle Vergessen darstellt, heraushebt. Man kann Goya missverstehen, wenn man Capricho 43 noch versteht - ein nicht so selten auftretendes Paradox.
»Was für ein Schrecken! Welche Angst! Welches Grauen! Die Haare richteten sich mir auf, und die Stimme klebte mir im Schlunde fest, es stockte mir der Atem, das Herz schlug mir mit so heftigen Schlägen, dass ich meinte, man risse es mir aus der Brust. Zu dieser Werkstätte der Vitalität floh die ganze fliegende Masse von Geistern, die äußeren Glieder blieben wie losgelöst, es umhüllte mich eine außergewöhnliche Eiseskälte, meine Architektur fiel in sich zusammen, und ich war schließlich nur mehr zu der Bewegung in der Lage, die nötig war, um das heftige Zittern des ganzen Körpers fortzusetzen.« (451) Die Traumbilder des Diego de Torres Villaroel, 1727/28 erschienen, von Jacobs unter Goyas Inspirationsquellen gerechnet, zitieren die Phantasie als die »alleinige Produktionsstätte von Traumbildern, die nicht von der ratio kontrolliert werden« (412). Der Ort der ›ästhetischen‹ Inspiration kann als solcher nur sichtbar werden, wenn gewährleistet ist, dass die Vernunft, die das Wachbewusstsein unweigerlich kontrolliert, ausgeschaltet bleibt. Es ist also nicht ausgemacht, dass das den Kopf des Schläfers umschwirrende Nachtgetier mit den ›Ungeheuern‹ identisch ist, die das Bewusstsein des Schläfers, dem der Zugang zur äußeren Realität versperrt ist, erzeugt. Eher zeigt es den Zustand der Vernunftferne an, in dem sich der Schläfer befindet. Solche emblematischen Spiele sind im 18. Jahrhundert gang und gäbe, und es gehört zu den Vorteilen des Buches, dass es den emblematischen und motivgeschichtlichen Aspekten der Caprichos ebenso sorgfältig und leidenschaftslos nachgeht wie den zeitgenössischen Theorien des Schlafs und der Phantasie, des Erhabenen (Sublimen) und des capricho selbst.
Die Ambivalenz, die mit den diversen Theorien des Erhabenen und des Grotesken in die Kunsttheorie hineinkommt und darauf zielt, den Eigenraum der Kunst gegenüber den ›vernünftigen‹ Weisen der Welterschließung zu definieren und zugleich zu erweitern, durchzieht das Jahrhundert Goyas. Jacobs berichtet ausführlich über die spanische Diskussion, ihre europäischen Bezüge und die ihr eigenen originellen Aspekte, innerhalb derer der Maler konsequent die Position des Neuerers besetzt. Dieses Neue, die Reklamation der künstlerischen inventio für den einmaligen Akt der Empfängnis, in dem es keinen vorkonzipierten ›Gegenstand‹, sondern nur die individuelle Auffassung eines ›Moments‹ zu besichtigen gibt, verbunden mit der Ablehnung der ›Regeln‹ in der Ausführung eines Kunstwerks, hört, wie bekannt, auf den Namen der Genieästhetik und ›erzeugt‹ den Typus des gefährdeten, von Krankheit und Wahnsinn bedrohten Künstlers, der aus diesen Grenzregionen des Geistes seine Erträge bezieht - diffus genug, um wiederum den Betrachter zu eigenen Phantasiebildern anzuregen und ein breites Spektrum möglicher Auslegungen zuzulassen.
Dennoch wäre das capricho noch immer eine Laune der Vernunft - und keineswegs der ›reine Irrsinn‹ -, wenn nicht das ihm vom Künstler zur Seite gestellte Konzept der Satire die ›vernünftige‹ Absicht des Künstlers sicherstellte. Die Gesellschafts- oder ›Zivilisationskritik‹, die aus Goyas Blättern spricht, rechtfertigt den Gang zu den Quellen der Unvernunft - so jedenfalls will es eine Tradition, die in den von Jacobs zusammengetragenen modernen Adaptionen munter weiterwirkt, um sich in den letzten Zeugnissen abrupt zu verabschieden. Wenn die aufs Zitat reduzierte Vernunft träumt, so ist das ihre Sache, eine andere das Ungeheure, das als niemandes, und das Erzeugnis, das als jedermanns Sache die ›Umwelt‹ bestückt und bevölkert. In ihr kann sich der Betrachter jederzeit in den Handwerker, den Arrangeur und den Verwerter verwandeln, der die Objekte zusammenbaut, aufstellt und abräumt, gleichgültig, wie es sich gehört, und emotionslos, wie es ratsam ist. Demgegenüber erscheinen die Geduld, mit der der Autor seine Belege zusammenträgt, und die Akribie, mit der er sie auswertet, bewundernswert: sie lösen die Binde einer Ramschmoderne, die nebenan in Hochglanzkatalogen fröhliche Urständ feiert.