von Patrick Zurth
Versucht man unser heutiges Grundgesetz (GG) zu verstehen, kommt man um einen Blick in die Geschichte nicht herum. Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates haben die Erfahrungen der Weimarer Republik und der sich daran anschließenden Nazi-Herrschaft eine große Rolle gespielt.
In der Weimarer Republik war ein Verbot von Parteien zunächst nicht vorgesehen – mit bekanntem Ergebnis: Die Feinde der Demokratie konnten sie mit Mitteln der Demokratie abschaffen. Dem GG liegt daher die „streitbare Demokratie“ zugrunde. Andererseits wurden Parteien dann von den Nationalsozialisten im Handstreich verboten.
Das GG sieht die Möglichkeit des Parteiverbotes in Art.21 vor. Die Hürden sind aber extrem hoch, da es sich um „die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaates“ handelt: Nur das Bundesverfassungsgericht darf es aussprechen. Wegen § 15 IV des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) ist sogar eine Mehrheit von zwei Drittel unter den Richtern erforderlich, was bei einem Senat mit acht Köpfen faktisch zu einer Dreiviertelmehrheit führt (6 von 8). Die politische Absicht einer Partei als Gesamttendenz muss darauf gerichtet sein, eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung ggü. der sog. Freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu entfalten, um diese schließlich schrittweise abzuschaffen.
Das Verbotsverfahren wurde bisher zweimal erfolgreich durchgeführt. Im Jahr 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP) – eine Art Nachfolgepartei der NSDAP – und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten. Die Diskussion um ein Verbot der sog. Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) hält seit nunmehr über 10 Jahren an. Dem ersten (gescheiterten) Verbotsantrag ging eine intensive Debatte – auch im Bundestagswahlkampf 2002 – voraus. Sie wird mal intensiver geführt, mal verschwindet sie vorübergehend aus der Öffentlichkeit, taucht aber immer wieder auf, wenn Berichte über rechtsextreme Verbrechen in den Medien ihr Aktualität verschaffen. Zuletzt schockierten die Taten des selbst erklärten „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) und riefen das Thema auf die Tagesordnung. Wegen der politischen Risiken hat man einen neuen Verbotsantrag nach dem Scheitern im Jahr 2003 bisher gescheut. Eine Entscheidung über den Antrag wird für den Herbst 2012 erwartet.
Die Entscheidung
Der Verbotsantrag von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat war im Ergebnis erfolglos. Entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses stellte das BVerfG keinesfalls fest, dass die materiellen Voraussetzungen des Verbotes nach Art. 21 II GG nicht erfüllt seien. Vielmehr kam es gerade erst gar nicht zu einer Entscheidung über diese Frage, weil drei Richter die Meinung vertraten, es läge ein sog. Verfahrenshindernis vor. Wegen der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, die für jedes Stadium des Verfahrens gilt, wurde es eingestellt. D.h. die Mehrheit der Richter wollte sogar in der Sache entscheiden! Daher sollte keinesfalls von einem „Ritterschlag für die NPD“ gesprochen werden, denn erstens wurde nicht in der Sache entschieden und zweitens fand der Antrag der NPD auf Einstellung des Verfahrens lediglich bei einer Minderheit Zustimmung. Richtigerweise handelte es sich nicht um einen Sieg für die NPD, sondern um eine Niederlage für die BRD.
Die Richter Hassemer, Broß und Osterloh stellten drei Voraussetzungen für die Annahme eines Verfahrenshindernisses auf und kamen zum Ergebnis, dass die vom Bundesamt und den Landesämtern für Verfassungsschutz installierten sog. V-Leute in der NPD einer Fortsetzung des Verbotsverfahrens entgegenstanden. V-Leute sind keine eingeschleusten Agenten in James-Bond-Manier, sondern Private, die vom Staat angeworben werden, um Informationen zu beschaffen. Zu der damaligen Zeit befanden sich etwa ein bis zwei V-Leute in den einzelnen Vorständen der NPD. Die drei Richter stützten ihre Erwägungen vor allem auf den Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien. Bei derart vielen V-Leuten besteht die Möglichkeit, dass der Staat einen lenkenden Einfluss gewinnt. Er lenkt die Partei also möglicherweise in eine verfassungsfeindliche Richtung, um sie dann verbieten zu lassen. Außerdem kann er die Verteidigungsstrategie im Verbotsverfahren herausfinden und sich somit rechtsstaatswidrige Vorteile verschaffen. Es dürfen auch Äußerungen dieser Personen nicht als Beweismittel für die materiellen Voraussetzungen des Art. 21 II GG herangezogen werden.
Auseinandersetzung mit der Entscheidung
Wenngleich diese Niederlage vor dem höchsten deutschen Gericht und Hüter der Verfassung, auf die die NPD selbst nicht sehr viel zu geben scheint, äußerst ärgerlich und peinlich war, erscheint die juristische Argumentation dennoch zutreffend. Der Streit innerhalb des zweiten Senats des BVerfG drehte sich im Wesentlichen um die Frage, wann ein Verfahrenshindernis vorliegt. Die unterliegende Mehrheitsansicht argumentierte, eine Berücksichtigung der V-Mann-Problematik könne erst nach einer mündlichen Verhandlung erfolgen, was auch aus den prozessrechtlichen Grundsätzen der Öffentlichkeit und Mündlichkeit folge, und die Antragsteller Bundestag und Bundesrat hätten keinen Einfluss auf die Platzierung bzw. Abschaltung von V-Leuten, so dass ihnen die V-Leute nicht zum Nachteile gereichen dürfen. Außerdem sei wegen der staatlichen Schutzpflichten eine Fortsetzung der nachrichtendienstlichen Beobachtung auch während des Verbotsverfahrens erforderlich und die für das Verbot notwendigen Informationen könnten oftmals gar nicht anders zusammengetragen werden. Diese Argumentation wirkt etwas gekünstelt bzw. gezwungen, um das Verbotsverfahren irgendwie am Laufen zu halten. Die Existenz von V-Leuten lässt sich durch Schriftsätze klären. Der Bundestag hat die Bundesregierung zu kontrollieren und im Bundesrat sind die Landesregierungen vertreten, denen die Landesverfassungsschutzbehörden unterstehen. Die von der Minderansicht dargelegten rechtsstaatlichen Paradoxien überwiegen bei einer Abwägung mit möglichen Risiken, die bei einer Abschaltung der V-Leute entstehen.
Auswirkung für die Praxis und die Diskussion um einen neuen Verbotsantrag
Da es sich um eine Prozess- und nicht um eine Sachentscheidung handelte, kommt ihr nicht die Bindungswirkung des § 31 I BVerfGG zu13, sodass sie nicht in Gesetzeskraft erwächst. Es steht aber zu vermuten, dass sich zumindest ein Teil der Richter im heutigen Senat an der Minderansicht orientieren würde. Gegen einen neuen Verbotsantrag werden immer wieder die politischen Gefahren im Falle des Scheiterns angeführt. Denn selbst wenn das BVerfG dem Antrag stattgeben würde, könnte die NPD mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Erfolg haben. Außerdem wird ein Kontrollverlust über die rechtsextreme Szene befürchtet, weil ohne das Sammelbecken NPD eine Dezentralisierung eintreten könnte. Da aber die rechtsextremen Aktivitäten immer mehr zunehmen und die Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit den Verbrechen der NSU offensichtlich versagt haben, ist schon fraglich, inwiefern jetzt überhaupt Kontrolle möglich ist.
Dagegen muss man stets bedenken, dass das BVerfG zu keinem Zeitpunkt zu dem Schluss gelangte, die NPD sei nicht verfassungsfeindlich. Holger Apfel, nunmehr Bundesvorsitzender der NPD, hat den Landtag – immerhin als einzig demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan das Herz der Demokratie – mal als „gleichgeschaltete Schwatzbude“ bezeichnet. Die Vertreter der NPD sind mit ihren geschichtsrevisionistischen und menschenverachtenden Äußerungen in den Landesparlamenten für ein Hohes Haus der Demokratie schlichtweg unerträglich. Die NPD sucht gezielt den Schulterschluss mit sog. Freien Kameradschaften und gewaltbereiten Neonazis, nicht selten vorbestraft wegen einschlägiger Delikte. Ein Mitglied des Bundesvorstandes erklärte, er wolle die repräsentative Demokratie überwinden. Die Ermittlungen über Verbindungen zur NSU und mögliche Unterstützer in den Reihen der NPD laufen noch.
Doch selbst wenn man dies nicht wird nachweisen können, besteht weitgehend Einigkeit, dass die Hürden des Art. 21 GG genommen werden können. Wenngleich das eigentliche Problem der Rechtsextremismus in den Köpfen ist, wie im Jahr 2008 eine von der FES herausgegebene Studie17 nachdrücklich belegen konnte, und dieses Problem durch vielerlei Maßnahmen angegangen werden muss, dient die NPD den Nazis dennoch zur Finanzierung und Organisation. Das kann, das muss aufgebrochen werden. Sie würden den Schutz des Art. 21 GG und ihren Anspruch auf Gleichbehandlung mit anderen Parteien verlieren, so dass etwa der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wesentlich erschwert wäre. Wenn sie auf Vereine ausweichen, können diese leichter verboten werden (nämlich durch den jeweiligen Minister und nicht nur das BVerfG, § 3 des Vereinsgesetzes (VereinsG)).
Eine Möglichkeit bestünde zwar darin, sich die NPD selbst lächerlich machen zu lassen, sie in die Insolvenz laufen zu lassen (die auf Grund ihrer Unfähigkeit zur Buchführung durchaus bevorstehen kann) oder sie weiterhin, aber nunmehr effektiver mit politischen Mitteln anzugehen, was den Rechtsextremismus in den Köpfen vielleicht wirksamer bekämpfen mag. Man hat nach dem Verbot der KPD auch deren faktische Nachfolgerin, die DKP, nicht nach Karlsruhe gezerrt, sondern gelassen zur Kenntnis genommen, dass sie selten Wahlergebnisse über 0,5% erzielen konnte. Angesichts ihrer unerträglichen Ausländerfeindlichkeit und Verbindungen in die gewaltbereite Szene scheint das Bedürfnis bei der NPD jedoch darüber hinauszugehen.
Hinzu kommt, dass die Finanzierung der NPD durch den Staat mehr als bloß ärgerlich ist. Durch ein Verbot würden alle Abgeordneten ihre Mandate verlieren, es würde kein Euro mehr fließen.
Mittlerweile werden alle V-Leute abgeschaltet, nachdem sich auch die CDU-Innenminister im März 2012 dazu bereit erklärt haben. Dies war überfällig, weil ihre Effektivität ohnehin angezweifelt wird. Sie werden für unzuverlässiger als andere nachrichtendienstliche Mittel erachtet, teilweise haben V-Leute bewusst nutzlose Informationen verschafft und das vom Verfassungsschutz dafür erhaltene Geld an die NPD weitergeleitet. Die Befürchtung des hessischen Innenministers Rhein (CDU), man sei dann „über Jahre auf einem Auge blind, was die NPD anbelangt“, steht daher ggü. dem Verbot als erreichbarem Ziel zurück.
Empfehlenswert ist es wohl, die Beweise für die Verfassungsfeindlichkeit in erster Linie aus der Zeit nach der völligen Abschaltung aller V-Leute zu gewinnen. Da die V-Leute zu spät abgezogen wurden, ist von einem Verbotsantrag noch in diesem Jahr eher abzuraten. Es muss eine gründliche juristische Prüfung erfolgen. „Sorgfalt geht vor Schnelligkeit.“ (Innenminister Rhein - der dabei aber verschweigt, dass ein neuer Verbotsantrag mittlerweile durchaus realistisch wäre, wenn er und die anderen CDU-Innenminister die Abschaltung der V-Leute nicht verzögert hätten.)
Ein erneutes Scheitern, womöglich bei einer Entscheidung in der Sache, wäre eine Katastrophe. Jedenfalls muss die Diskussion aufrecht erhalten werden, weil sich die NPD unter dem Damokles-Schwert des Verbotsantrags moderat geben muss und keine extremistischen Handlungen riskieren darf, was interessanterweise wiederum auch zu einer Spaltung innerhalb der Partei und Enttäuschung der militanten Mitglieder führt. Bald muss der Antrag aber gestellt werden – und zwar wieder von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, um Geschlossenheit der Demokraten gegen die Feinde der Demokratie zu demonstrieren.