von Christian Wipperfürth

 Die »Vereinten Nationen« haben erklärt, dass zwischen April und Mitte August 2014 weit über 2000 Menschen in der Ostukraine gewaltsam ums Leben gekommen sind. Die UN bezeichnete ihre eigene Schätzung als »sehr konservativ«. Dutzende Menschen sterben weiterhin täglich bei den Kampfhandlungen. Zudem sind hunderttausende geflüchtet, überwiegend nach Russland. Darüber hinaus befinden wir uns in einer tiefen internationalen Krise. Sie könnte weitreichendere negative Auswirkungen besitzen als jede andere Krise der vergangenen Jahrzehnte. Und sie wird weiter eskalieren, wenn nicht gegengesteuert wird.

In diesem Beitrag werden zunächst die Grundzüge der Entwicklung der vergangenen Monate skizziert. Danach wird thematisiert, welche Auswirkungen eine anhaltende Konfrontationspolitik auf die Ukraine und die westlich-russischen Beziehungen besäße. Danach werden Vorschläge unterbreitet, die einen Ausweg aus der Spirale von Gewalt und Konfrontation eröffnen könnten.

Die Ukraine, der Westen und Russland: Frühjahr und Sommer 2014

Umreißen wir zunächst die Ursachen der jetzigen Situation, um danach die Entscheidung abwägen zu können, vor der wir stehen: Die Ukraine ist ein sprachlich, kulturell, ethnisch und religiös gespaltenes Land. Abgesehen von der Krim gab es aber mehr als 20 Jahre keine ernsthaften Anzeichen, dass die territoriale Einheit der Ukraine zerbrechen könnte. Im November 2013 setzten Massenproteste gegen den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch ein. Die Demonstranten forderten eine deutliche Ausrichtung ihres Landes Richtung Westen. Sie erhofften dadurch eine Verbesserung der bedrückenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation. Eine Minderheit der Protestierenden wurde durch antirussische Ressentiments getrieben.

Nach einer Umfrage zweier renommierter ukrainischer Meinungsforschungsinstitute wurden die Proteste Ende Dezember 2013 von 80 Prozent der in der Westukraine Befragten unterstützt, im überwiegend russischsprachigen Osten und Süden waren es nur 30 bzw. 20 Prozent. Die damalige ukrainische Führung genoss auch im Osten und Süden des Landes wenig Unterstützung oder gar Vertrauen, aber die Politiker der Opposition und ihre geopolitische Ausrichtung stießen dort meist auf Misstrauen oder offene Ablehnung. Westliche Politiker ermunterten meist zu einer einseitigen Westausrichtung der Ukraine. Diese wurde in den überwiegend russischsprachigen Landesteilen jedoch abgelehnt. Dort fand im Gegenteil eine Anlehnung an Russland eine breite Zustimmung. Der neu berufene Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte bereits gegen Ende 2013, dass die Ukraine in der Gefahr stehe, »zerrissen« zu werden: Der Westen zerrte von der einen, Russland von der anderen Seite.

Unmittelbar nach dem Machtwechsel von Ende Februar 2014 versuchte die neue Führung, den Status der russischen Sprache zu vermindern und ernannte einen Vertreter der extremen Rechten zum Generalstaatsanwalt. Eine unvoreingenommene Untersuchung der etwa 100 Menschen, die vor dem Machtwechsel auf dem »Maidan« ums Leben gekommen waren, war somit ausgeschlossen. Diese und andere Maßnahmen wurden von vielen Millionen Menschen als ernsthafte Bedrohung ihrer kulturellen Identität, ja ihrer Sicherheit verstanden.

Fast unmittelbar nach dem Machtwechsel setzten Proteste gegen die neue Kiewer Führung ein. Es handelte sich zunächst um Demonstrationen, die ab April in bewaffnete Auseinandersetzungen übergingen. Im Osten und Süden vertrat im März fast die Hälfte der Befragten die Ansicht, die Differenzen zwischen den verschiedenen Landesteilen seien so groß, dass es zerbrechen könnte. Russland spielte eine zentrale, womöglich ausschlaggebende Rolle für das Einsetzen und den Verlauf der Protestbewegung: Zum einen verstärkten die völkerrechtswidrigen Vorgänge auf der Krim die Spannungen und Spaltungstendenzen innerhalb der Ukraine. Zum anderen erklärte Moskau Anfang März seine Bereitschaft, u.U. Truppen einzusetzen, um die russischsprachigen Bürger der Ukraine zu schützen, die durch Rechtsradikale massiv bedroht seien. Dies war sowohl eine groteske Überzeichnung tatsächlich besorgniserregender Tendenzen als auch eine massive Drohung. Unzufriedene sahen sich ermutigt, auf die Straße zu gehen und eventuell gar zu den Waffen zu greifen. Sie konnten berechtigte Hoffnungen auf ein Eingreifen Russlands zu ihren Gunsten setzen.

Anfang März gab es Indizien, dass ganze Busladungen mit Demonstranten aus Russland in der Ostukraine eintrafen. Dieses Phänomen hielt aber nur wenige Tage an. Kiew reagierte mit Härte auf die Unzufriedenheit im Süden und Osten des Landes und ließ zahlreiche Anführer der Demonstrationen verhaften. Dieses Durchgreifen war aus Kiewer Sicht verständlich, wenn nicht notwendig, um einem weiteren Szenario wie auf der Krim entgegenzuwirken.

Der Kreml ermutigte Unzufriedene massiv, auf die Straße zu gehen. Gab es darüber hinaus ernsthafte und anhaltende Indizien dafür, dass die Unruhen von Moskau nicht nur ermutigt, sondern inszeniert und gelenkt wurden? US-Außenminister John Kerry erklärte am 8. April, es sei eindeutig, dass russische Spezialeinheiten und Agenten die treibende Kraft der Separatisten seien. Überprüfbare Beweise konnte er jedoch nicht vorlegen. Am 24. April legte Kerry in Form von Fotos Belege für die Anwesenheit russischer Agenten vor. Die New York Times berichtete auf Seite eins. Es wurde aber rasch deutlich, dass die von der ukrainischen Regierung zur Verfügung gestellten Fotos bearbeitet und als Nachweise untauglich waren. Das US-Außenministerium hatte sich nicht veranlasst gesehen, die von Kiew zur Verfügung gestellten Fotos zu prüfen, was ohne großen Aufwand möglich gewesen wäre. Washington übte auch keine öffentliche Kritik an den ukrainischen Fälschungen, sondern verhängte im Gegenteil weitere Sanktionen, während der deutsche Außenminister eine gütliche Einigung der Krise anmahnte. Bis zu diesem Zeitpunkt waren nur wenige Menschen ums Leben gekommen.

Der ukrainische Geheimdienstchef erklärte am 27. April, die Gefängnisse seiner Institution seien überfüllt mit russischen Agenten. Er legte hierfür keine Belege vor und wurde von westlicher Seite hierzu auch nicht aufgefordert. Ähnliche Vorgänge wiederholten sich. Noch Anfang Juni sah sich Kerry genötigt, den soeben gewählten Präsidenten Petro Poroschenko dazu zu drängen, Beweise für die Verwicklung Russlands in die Vorgänge in der Ostukraine vorzulegen. Dies war bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgt und kein einziger russischer Agent festgenommen worden. Die haltlosen oder stark übertriebenen Behauptungen Kiews über eine direkte Verwicklung Russlands in die Unruhe in der Ostukraine fanden zunehmenden Niederschlag in westlichen Medien und galten schließlich als Gewissheit. Verlautbarungen aus Kiew wurde per se ein weit höherer Wahrheitsgehalt beigemessen als denjenigen der Gegenseite. Ukrainische Fehlinformationen wurden vom Westen zudem nicht richtig gestellt oder gar gerügt. Kiew sah sich somit ermutigt, damit fortzufahren.

Die Behauptungen sowohl Kiews als auch diejenigen der Separatisten oder Russlands über die andere Seite waren teilweise bewusst kreiert, um die Entschlossenheit der eigenen Bevölkerung zu steigern, in der internationalen Öffentlichkeit Stimmung zu machen und die Gegenseite somit unter Rechtfertigungszwang zu bringen. Aber vermutlich glaubte die ukrainische Führung ihren stark übertriebenen bzw. Falschmeldungen großenteils sogar selbst. Für die andere Seite traf dies ebenso zu. In Krisen- und Kriegszeiten regieren nicht die Vernunft und kühle Abwägung, sondern Angst und Hass. Je gefährlicher die Lage eskalierte, je mehr Menschen starben, desto glaubwürdiger, ja moralisch zwingend geboten erschien die »Terroristen«-Propaganda der einen und die »Faschisten«-Propaganda der anderen Seite.

Kiew sah sich auch geradezu genötigt, die Verwicklung Russlands in die Unruhe in der Ostukraine zu betonen: Wie hätte die ukrainische Führung sonst erklären können, dass immer mehr Positionen von ihren Gegnern übernommen wurden? Separatisten besetzten während des gesamten Frühjahrs Polizeistationen, Kasernen oder sogar regionale Hauptquartiere des Geheimdienstes, ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Eine Minderheit der staatlichen Sicherheitsorgane wechselte offen die Seite, ein großer Teil blieb passiv. Die große Mehrheit der Menschen in der Ostukraine betrachtete die neue Führung in Kiew nicht als die ihre.

Wie breit war die Basis der Separatisten? In der zweiten Märzhälfte plädierten im Osten und Süden der Ukraine nur etwa 10 Prozent für eine Abspaltung. Die Umfrage, die Mitte April vom US-Meinungsforschungsinstitut Pew durchgeführt wurde, legte den Schluss nahe, dass der Anteil in den drei Wochen seit Ende März angestiegen sein dürfte. Zu diesem Zeitpunkt zog aber selbst unter den Russischsprachigen in der Ostukraine nur gut ein Viertel der Befragten eine Abspaltung in Betracht. Die große Mehrheit der Menschen befürwortete die Beibehaltung der territorialen Integrität der Ukraine, zugleich vermutlich aber eine Föderalisierung, also eine weitgehende Autonomie der Regionen innerhalb des ukrainischen Staatsverbands. Eine breite Mehrheit forderte zugleich, das Russische neben dem Ukrainischen als weitere offizielle Sprache des Landes zuzulassen. Dies ginge über die bisherige Regelung weit hinaus, neben dem Ukrainischen einer weiteren Sprache lediglich regional einen offiziellen Status verleihen zu können. Die Forderung, Russisch dem Ukrainischen gleich zu stellen, ebenso wie die Föderalisierung, wurde von der Kiewer Regierung, den sie tragenden Parteien und der Mehrheit der Bevölkerung im Ton angebenden Westen des Landes vehement abgelehnt. Die neue Führung des Landes war vielmehr entschlossen, dem Russischen einen offiziellen Status gänzlich zu verweigern.

Auf die Frage: »Übt die gegenwärtige Regierung in Kiew einen guten oder schlechten Einfluss auf die Entwicklung in der Ukraine aus?« vertraten im Westen der Ukraine 60 Prozent der vom US-Institut Pew Befragten Mitte April die Ansicht, der Einfluss sei gut, im Osten nur gut 20 Prozent. Zwei Drittel waren im Osten hingegen der Auffassung, der Einfluss sei schlecht. Insbesondere Deutschland versuchte wiederholt zu deeskalieren. So legte Außenminister Steinmeier Anfang April einen mit Frankreich und Polen abgestimmten Plan vor, über den der Spiegel schrieb: »Steinmeiers Osteuropa-Plan, Brüssel oder Moskau? Beides!« Oder am 18. Juli forderten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens nach dem Abschuss der Passagiermaschine eine sofortige und nachhaltige Waffenruhe. Der Vorfall zeige, wie gefährlich die Lage dort geworden sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich ähnlich. In den fünf Wochen seitdem sind deutlich mehr Menschen ums Leben gekommen als in den drei Monaten zuvor.

Halten wir fest: Einige der führenden Vertreter der Separatisten sind Staatsbürger Russlands. Ebenso wie viele der bewaffneten Kämpfer. Moskau ermutigte die Gegner Kiews und billigte, dass russische Nationalisten in den Kampf in der Ukraine eingriffen. Die Unterstützung Russlands blieb gleichwohl ganz überwiegend indirekt. Die UN erklärte noch am 1. August 2014, es gebe keine handfesten Beweise für russische Waffenlieferungen an die Separatisten. Unter ihnen gibt es seit dem Beginn der Unruhen zudem erhebliche Differenzen über das Ziel ihres Kampfes: Ist es der Anschluss an Russland oder eine Föderalisierung der Ukraine? Auch diese Meinungsunterschiede sprechen gegen die Version, dass die Widerstandsbewegung ein Produkt Moskaus wäre.

Auf allen Seiten bildete sich die Haltung heraus, vermeintlichen oder tatsächlichen Provokationen der anderen Seite mit Härte begegnen zu müssen. Moskau betrachtete Gesprächsverweigerungen des Westens und eine nationalistische Politik Kiews als Ursachen der Gewalt. Für den Westen hingegen waren es die Besetzung der Krim und Erpressungsversuche Moskaus. Eine Gewaltspirale kam in Gang. Der Westen und Russland unterstützten ihr jeweiliges Lager und sprachen der jeweils anderen Seite die moralische Integrität sowie legitime Interessen ab. Kiew könnte vor einem baldigen Sieg stehen, die Ukraine wird gleichwohl nicht zur Ruhe kommen. Denn die innere Spaltung des Landes ist nicht von außen hervorgerufen.

Was könnte geschehen, wenn Gewalt und Konfrontation anhalten?

Thematisieren wir zunächst, welche Auswirkung dieses Szenario auf die Ukraine hätte. Zwei Varianten sind realistisch, zum einen: Die offene Konfrontation hält weitere Wochen oder gar Monate an, ohne dass einer der Kontrahenten entscheidend geschlagen wird. Der Westen und Russland würden in diesem Fall ihre teils offene, teils verdeckte Unterstützung des jeweils eigenen Lagers beibehalten und verstärken, falls ihm eine Niederlage droht. Dies wäre ein Szenario ähnlich wie in Syrien. Man müsste mit vielen tausend Opfern rechnen, insbesondere Zivilisten. In der zweiten Variante brechen die Truppen Kiews den bewaffneten Widerstand ihrer Gegner, was derzeit (Ende August) nicht unwahrscheinlich erscheint. In diesem Falle kämen vermutlich weniger Menschen ums Leben als bei einem Andauern der Kämpfe. Aber käme es bei einem Sieg Kiews zu Sicherheit und Stabilität? Dies wäre nur dann der Fall, wenn es der ukrainischen Führung gelänge, die Herzen der Menschen im Osten, aber auch im Süden der Ukraine zu gewinnen. Dies ist bislang nicht geschehen und wird aus zwei Gründen auch vermutlich in näherer Zukunft nicht der Fall sein:

Erstens: In Zeiten tiefer Krisen wird der Gegner dämonisiert, die eigene Seite hingegen übertrieben idealisiert. Dies erschwert die Versöhnung nach Waffengängen, insbesondere nach einem Bürgerkrieg mit tausenden Toten. D.h.: Der Sieg über die großenteils russischsprachige Bevölkerung der Ostukraine und den vermeintlichen Initiator Russland wird vermutlich zu einem repressiven Vorgehen im Innern und einer Konfrontationspolitik gegenüber Moskau führen. Die ukrainischen Politiker genießen auch kein hinreichendes Vertrauen, wie die Präsidentschaftswahl vom 25. Mai 2014 deutlich machte: Der Wahlsieger, der jetzige Präsident Petro Poroschenko und die Zweitplatzierte (Julija Timoschenko) erhielten zusammengenommen weniger Stimmen als allein Wiktor Janukowitsch bei der Präsidentschaftswahl 2010 erhalten hatte. 2004 hatten bei der Wahl zum Staatsoberhaupt über 28 Millionen Menschen ihre Stimme abgegeben, 2014 waren es weniger als 18 Millionen.

Zweitens: Die Ukraine war bereits in den vergangenen Jahren der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion mit einem niedrigeren Pro-Kopf-Einkommen als im Jahr des Zusammenbruchs der UdSSR 1991. Die wirtschaftliche und soziale Situation wird sich weiter verschlechtern. Teils aufgrund der gänzlich verfrühten drastischen Erhöhung der Gas- und Strompreise, die der IWF gefordert hatte, teils weil der Güteraustausch mit dem bislang wichtigsten  Handelspartner, nämlich Russland zusammengebrochen ist. Und nicht zuletzt aufgrund der Verwüstungen in der Ostukraine. Kiew wird in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein, eine Zukunftsperspektive zu bieten.

Fassen wir zusammen: Die ukrainische Führung wird aus durchaus verständlichen Gründen vermutlich nicht die Mäßigung aufbringen, die Bevölkerung der Ostukraine für sich einzunehmen. Sie wird keine Zukunftsperspektive eröffnen können und womöglich auch nicht die Kraft besitzen, den Widerstandswillen der Gegner dauerhaft zu brechen. In diesem Fall droht ein Untergrundkampf, der an Nordirland oder das Baskenland erinnern könnte. Oder vielleicht gar das Szenario eines blutigen Partisanenkampfs.

Welche Auswirkungen hätte eine anhaltende Gewalt in der Ukraine auf das westlich-russische Verhältnis? Beide oben skizzierten Szenarien würden zu einer Verschlechterung der Beziehungen führen. Dies gilt selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Region in naher Zukunft dauerhaft zur Ruhe kommen sollte: Das Problem Krim bleibt ungelöst und würde von Washington und Kiew thematisiert werden. Dies ist auch einer der Gründe, warum Moskau keinen einseitigen Sieg Kiews im Osten wünschen kann. Es bleibt auch weiterhin denkbar, dass Russland direkt in die Kämpfe eingreift, wenn die humanitäre Situation in der Ostukraine vollends untragbar werden sollte.

Welche Auswirkungen hätte eine anhaltende Konfrontation auf die Stellung des Westens und Russlands in der Welt? Die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch der außenpolitische Handlungsspielraum Russlands wird durch die westlichen Strafmaßnahmen empfindlich beeinträchtigt. In abgeschwächtem Maße gilt dies aber auch für die euro-atlantische Welt: Die Brüsseler Kommission stellte Ende Juli 2014 fest, dass die soeben verhängten Sanktionen auf die Länder der EU nur eine mäßige Wirkung ausüben würden, Russland jedoch hart träfen. Nach EU-Angaben würde das Wirtschaftswachstum in den Mitgliedsstaaten in diesem Jahr um 0,3 % vermindert werden, in Russland jedoch um 1,5 %. Für 2015 werden Zahlen von 0,4 % für die EU und 4,8 % für Russland angegeben. Das heißt: Die geplanten Maßnahmen würden die Wirtschaftsleistung in den EU-Ländern nach EU-Angaben von August bis Dezember 2014 um knapp 20 Milliarden Euro vermindern. Im nächsten Jahr würden es rund 60 Milliarden Euro werden. Die Rechnung für Russland lautet: bis zum Jahresende wird das Bruttoinlandsprodukt um ca. 10 Milliarden Euro niedriger ausfallen, im kommenden Jahr um über 80 Milliarden Euro. Auf Seite der EU werden also Kosten in Höhe von 80 Mrd. Euro in Kauf genommen, um bei Russland Ausfälle in Höhe von 90 Mrd. Euro zu verursachen.

Mittlerweile hat Russland Sanktionen gegen westliche Lebensmittellieferanten verhängt. Die durch die Sanktionen entstehenden Schäden werden weiter wachsen, auch, weil sie meist erst nach einigen Monaten ihre Wirkung entfalten. Darüber hinaus drohen weitere Gefahren, einige sollen genannt sein:
- Anfang August drohte die Ukraine Russland erstmals mit einem völligen Stopp des Gastransits nach Westeuropa. Etwa die Hälfte der russischen Gaslieferungen nach Mittel- und Westeuropa fließen durch die Ukraine. Eine Störung des Transits wird realistischer – ob von der ein oder der anderen Seite -, falls die Kampfhandlungen bis in das Winterhalbjahr hinein anhalten.
- Die Ukraine bezieht seit Mitte Juni kein Gas mehr aus Russland. Die Preisvorstellungen Kiews und Moskaus liegen nicht mehr weit auseinander, es kam aber noch keinem Vertragsabschluss. Wie sollen Millionen Menschen den Winter überstehen?
- Eine anhaltende Konfrontation könnte die Ukraine bereits im Winterhalbjahr in den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch führen. Die Ukraine hat bereits die Elektrizitätspreise um 40 Prozent erhöht, wie vom Internationalen Währungsfonds gefordert. Soziale Leistungen wurden gekürzt, der Handelsaustausch mit dem bislang wichtigsten Handelspartner, nämlich Russland, ist zusammengebrochen. Die Währung der Ukraine hat in diesem Jahr 40 Prozent ihres Wertes eingebüßt, mehr als jede andere Währung weltweit.
- Russland hat bislang den westlichen Afghanistantransit über sein Gebiet nicht behindert. Dies könnte sich ändern.
- Der Westen dominiert die weltweite Finanzwirtschaft, z.B. durch die Vorherrschaft von US-Dollar und Euro und die überragende Stellung der Finanzplätze New York und London. Die bereits verhängten Finanzsanktionen werden Russland hart treffen. Sie werden zugleich jedoch in zahlreichen Ländern eine Tendenz verstärken, ein Gegengewicht zum westlich dominierten Finanzsystem aufzubauen. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika unternehmen immer konkretere Schritte in diese Richtung. Sie besitzen mittelfristig das Potenzial, erfolgreich zu sein, anders als vor zehn oder 20 Jahren. Indem der Westen die »Finanzwaffe« einsetzt beschleunigt er eine Entwicklung, sich dagegen zu wappnen. Der Westen untergräbt somit die eigene Macht.
- Der Westen und Russland werden auf lange Jahre kein Bündnis schließen, was 20 Jahre wiederholt möglich schien. Russland hat sich aber noch nicht dazu entschieden, einen anti-westlichen oder gar anti-europäischen Weg zu beschreiten. Dies wäre für Russland mit hohen Kosten und Risiken verbunden, aber bei einer weiteren Eskalation nicht auszuschließen. Sollte es sich der Westen erlauben, dass ein sehr wichtiges Land zum Gegner wird?

Sanktionen können dann sinnvoll sein, wenn sie die eigene Verhandlungsposition stärken sollen. Es gab bislang aber noch keinen Fall, dass ein mit Strafmaßnahmen belegtes Land sich für sein (angebliches oder tatsächliches) Fehlverhalten entschuldigt und allen Forderungen statt gegeben hätte.

Versuchen wir, einen Schritt weiter zu denken: Der Westen hat mehr Macht, aber aus russischer Sicht steht für das eigene Land weit mehr auf dem Spiel. Eine »antirussische« Ukraine ist aus russischer Sicht nicht nur eine Demütigung des eigenen Selbstverständnisses, wie sie sich schwerer kaum denken lässt, sondern auch eine Gefährdung der nationalen Sicherheit. Moskau wird folglich in den kommenden Monaten und Jahren hinsichtlich der Ukraine taktieren, aber von seinem Minimalziel, eine »antirussische« Ausrichtung der Ukraine zu verhindern, keinesfalls abrücken. Was könnte geschehen, falls es zu keiner irgendwie gearteten gütlichen Einigung kommt?

Darüber hinaus ist unklar, was der Kreml konkret unternehmen sollte. Die westlichen Forderungen, von der Krim abgesehen, sind durchaus unklar. Soll Moskau dafür sorgen, dass die Menschen in der Ostukraine Kiew vertrauen? Sollte der Westen weitere Sanktionen verhängen? Welche weltwirtschaftlichen Auswirkungen könnten eintreten, falls Russland in schwere ökonomische Turbulenzen gerät? Wägen wir kurz die Konsequenzen ab: Falls gegen Russland ähnliche Öl-Exportbeschränkungen wie gegen den Iran verhängt werden sollten, stiege der Ölpreis deutlich an, um bis zu 80 Dollar je Barrel, also um etwa 70 Prozent. Als die Sanktionen gegen den Iran verhängt wurden, exportierte dieser 2,5 Mio. Barrel täglich, Russland jedoch 7,2 Mio. Die Weltwirtschaft stünde vor dem Abgrund. – Und hierbei ist eine mögliche Unterbrechung der Gaslieferungen noch gar nicht berücksichtigt. Zudem: Waren die Strafmaßnahmen gegen den Iran zielführend? Wie soll ein großes – und im Falle Russland sogar sehr großes Land – zum Nachgeben genötigt werden, wenn es seine Würde und nationale Sicherheit fundamental bedroht sieht?

Seit Monaten gibt es nur Verlierer: Die Menschen in der Ukraine, Russland, der Westen, die Vernunft und Menschlichkeit. Die Spirale aus einseitigen Maßnahmen, Strafmaßnahmen und Gewalt muss durchbrochen werden.
- Sie hat tausenden Menschen das Leben gekostet.
- Sie ist dabei, die Ukraine zu einem gescheiterten Staat zu machen.
- Sie wird auf direkte und indirekte Weise Kosten in Höhe von zumindest hunderten Milliarden Euro verursachen.
- Sie stärkt unverantwortliche Brandstifter in allen Teilen der Ukraine, in Russland – und im Westen.
- Die Konfrontation schwächt die Aussichten auf eine Öffnung des politischen Systems und Demokraten in Russland. Auch viele der russischen Kritiker Putins sind auf einen »nationalen Kurs« eingeschwenkt, auch führende Oppositionelle, die bis vor kurzem im Westen als Kronzeugen gegen Putin galten. Russland besitzt eine lange Tradition, sich gegen einen (tatsächlichen oder vermeintlichen) äußeren Feind zusammen zu schließen. Die westlichen Falken stärken die russischen Falken. Und umgekehrt.

Auswege aus der Spirale von Gewalt und Sanktionen

Um aus der Spirale herauszufinden muss eine Grundvoraussetzung erfüllt sein: Es muss zumindest der Anschein vermieden werden, dass eine der Seiten uneingeschränkt den »Sieg« davonträgt. Eine Lösung muss folgende Eckpunkte umfassen:
- Ein sofortiger Waffenstillstand in der Ostukraine.
- Eine umgehende Hilfe für die Menschen im Kriegsgebiet. Diese sollte von neutraler Seite erfolgen, also beispielsweise von der OSZE oder der UN.
- Die Ukraine erklärt sich bereit, den von der Schweiz vorgelegten Plan umzusetzen, das Land zu dezentralisieren und den Status der russischen Sprache beizubehalten.
- Russland erklärt sich bereit, dass sich ukrainische Beamte auf der russischen Seite an der Kontrolle der Grenze beteiligen könnten, und zwar dort, wo auf der ukrainischen Seite die Separatisten die Kontrolle ausüben. Die Grenze sollte auch von OSZE-Beobachtern überwacht werden. Dies ist bereits am 2. Juli von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine auf Initiative Steinmeiers vereinbart worden.
- Eine Versöhnungskommission, die nach südafrikanischem Vorbild Verbrechen offen thematisiert, aber keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleitet.
- Russland wird einer wirtschaftlichen Kooperation zwischen der Ukraine und der EU keine Steine in den Weg legen.
- Russland bietet der Ukraine eine Vereinbarung über langfristige Gaslieferungen zu international vergleichbaren Preisen an.
- Die Ukraine benötigt eine rasche und umfassende Unterstützung. Zum Vergleich: Polen erhält jährlich aus den EU-Töpfen etwa 10 Milliarden Euro netto. Die Hilfe darf, anders als in der Vergangenheit, nicht in den Taschen der Milliardäre landen. Sozialkürzungen und Preiserhöhungen sollten zurückgenommen werden.
- Kiew verpflichtet sich, einen NATO-Beitritt nur bei einer überwältigenden Zustimmung der Bevölkerung anzustreben. Die Hürde könnte beispielsweise bei 70 Prozent liegen. Dies macht die NATO-Mitgliedschaft sehr unwahrscheinlich, ohne sie formal auszuschließen.
- Die NATO sichert zu, für einen Beitritt der Ukraine zwar offen zu bleiben, ihn aber nicht aktiv anzustreben.
- Im Osten der Ukraine könnte eine Volksabstimmung durchgeführt werden, unter starker Präsenz von OSZE oder UN. Die territoriale Integrität der Ukraine stünde hierbei nicht zur Debatte, aber das Ausmaß der Selbstverwaltung der Region.
- Die Entscheidung über den endgültigen Status der Krim wird auf ein zweites Referendum verschoben. Dies sollte nach einer Übergangsphase unter internationaler Aufsicht und nach internationalen Verfahrensstandards abgehalten werden. Für die Übergangsphase bliebe die Krim Teil Russlands.
Eine einvernehmliche Wiederholung der Abstimmung würde allen Parteien ermöglichen, die Probleme der Ukraine gemeinsam anzugehen, ohne ihre unterschiedlichen Positionen zur Rechtmäßigkeit des ersten Referendums aufgeben zu müssen. Während Russland die Angliederung der Halbinsel somit unter den Vorbehalt einer erneuten Zustimmung in einem international anerkannten Verfahren stellen müsste, würden Kiew und der Westen den gegenwärtigen Zustand für diese Übergangszeit akzeptieren und den Bewohnern der Krim ein Selbstbestimmungsrecht einräumen. Es sollte klargestellt werden, dass die Ausübung dieses Rechts aus dem historischen Sonderstatus der Krim herrührt. Somit würde ein Präzedenzfall mit Auswirkungen auf Gebietskörperschaften anderer ukrainischer Regionen verhindert.
- Russland leistet der Ukraine Entschädigungszahlungen für den Verlust von Anlagen auf der Krim oder verrechnet diese mit nicht beglichenen Ansprüchen aus Gaslieferungen.

Diese Liste ist unvollständig und viele Fragen bleiben offen. Eines ist jedoch sicher: Eine anhaltende Konfrontation ist mit zu großen Risiken behaftet, um eine ernsthafte Alternative zu einem für alle Seiten gesichtswahrenden Kompromiss zu sein.

 

Zur vertiefenden Lektüre:

Christian Wipperfürth, Die Toten des Maidan, v. 24.03.2014, in: http://www.cwipperfuerth.de/2014/03/die-toten-des-maidan/ [26.08.14].

Ders., Ukraine: Meinungsumfrage, v. 10.05.2014, in: http://www.cwipperfuerth.de/2014/05/ukraine-meinungsumfrage/ [26.08.14].

Ders., Russland, der Westen und Afghanistan - und die Ukrainekrise, v. 04.08.2014, in: http://www.cwipperfuerth.de/2014/08/russland-der-westen-und-afghanistan-und-die-ukrainekrise/ [26.08.14].

Ders., Russland und die Sanktionen, Teil 1 und Teil 2, v. 12.06. und 23.06.2014, in: http://www.cwipperfuerth.de/2014/06/russland-und-die-sanktionen-teil-1/; http://www.cwipperfuerth.de/2014/06/russland-und-die-sanktionen-teil-2/ [26.08.14].

 

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