Wer rettet den Westen?
Der Westen braucht eine neue Soft Power, die an die besseren Elemente der alten Kultur anknüpft. Der amerikanische Vizepräsident sieht die Redefreiheit als wichtigstes Element der Freiheit und der Demokratie überhaupt. Im Hinblick auf das neue Paradigma der amerikanischen Regierung einer Selbstbehauptung des Eigenen beruft er sich auf den »ordo amoris« der christlichen Soziallehre, welcher aus dem Geist der Subsidiarität die Hilfe zuerst dem naheliegenden Raum zuweist. Darüber wird der zuvor universalistische und globalistische Eifer erst wieder in eine tragfähige Reihenfolge gebracht. Diese Dezentralität macht nicht nur demokratische Verfahren allein möglich, sondern ist auch der Problemlösung dienlich.
In der Personalität als einem weiteren Grundprinzip der Soziallehre könnte der Ausgangspunkt für eine Erneuerung des Bürgertums liegen. Personalität bedeutet anders als eine radikalisierte Individualität, dass Bürger sich berufen fühlen, neben den eigenen Interessen auch immer die Gemeinwohlinteressen zu bedenken. In der dem Bürgertum spezifischen Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten, von Arbeit und Freizeit, von Individualität und Gemeinschaft müsste der Bürger wieder zu einer Restrukturierung seines Ethos finden.
Orbán, Trump und die Gegenseitigkeiten der multipolaren Welt
Als Fellow am Mathias Corvinus Collegium in Budapest konnte ich einige Monate aus nächster Nähe erleben, wie die Regierung Orbán an einer immer neuen Ausgestaltung der Synthese von Liberalismus und Kommunitarismus und zugleich am Aufbau eines weltweites konservatives Netzwerkes baute.
Der Hass der Globalisten auf Orbán und Trump resultierte aus deren Weigerung, sich als Liberale zu bekennen. In seinen Reden bekennt sich Orbán zu einer »christlichen Demokratie«, die die Werte des Christentums, von Freiheit und Menschenrechten vertritt. An der leitkulturellen Rolle des Christentums lässt er keinen Zweifel. Christen glaubten an den freien Willen des Menschen, sie hätten einen moralischen Kompass und wären immun gegen dekonstruktivistische und neomarxistische Ideologien. Ein großer Vorteil christlich fundierter Politik sei die Selbstprüfung vor Gott. Europas Erfolge entstammten dem Geist der ständigen Selbstreflexion.
Die Christliche Soziallehre schlägt sich auch in der Verbindung von personaler Verantwortung, gegenseitiger Solidarität und Subsidiarität nieder. In der ungarischen Sozialpolitik gilt die Devise: »Sozial ist, was Arbeit schafft.« Sozialhilfe wird in Ungarn – hier schlägt der Calvinismus durch - nur bei Gegenleistungen gewährt und trägt eher zur gesellschaftlichen Integration bei als ein voraussetzungsloses »Bürgergeld«. In der Verfassung Ungarns werden gemeinschaftliche Grundrechte den individuellen Rechten beigeordnet, Rechte und Pflichten miteinander verknüpft.
Der kommunitarischen Sozialpolitik zufolge gelten Individuen als Mitglieder von Gemeinschaften und der konservativen Kulturpolitik gilt die Nation als die größte Identitäts- und Wertegemeinschaft. Der Gemeinwohlbegriff setzt die Existenz einer umgrenzten Gemeinschaft voraus, die in der Regel über lange Zeiträume gewachsen ist und gepflegt werden muss. Ungarns Politik beruht auf einer durchdachten Ordnungskonzeption, die man den zahlreichen Interviews von Viktor Orbán und einschlägigen Schriften seiner Mitarbeiter entnehmen kann. Auch darüber ist Budapest zu einem geistigen Zentrum von Konservativen aus aller Welt geworden. Ihre programmatischen Bemühungen wollen vor allem der Versuchung widerstehen, sich - wie die Britischen Konservativen oder die CDU – von Wahl zu Wahl immer mehr dem Wunschdenken »fortschrittlicher« Parteien anzunähern und von den Notwendigkeiten des Bewahrens abzuwenden.
Orbán kämpft für neue Mehrheiten in den alten Bündnissen. Ein Austritt aus EU oder Euro sei nur für kleine Minderheit noch eine attraktive Option. Auch das amerikanische Bündnis werde nur ein kleiner Teil der Europäer aufgeben wollen, solange das Machtvakuum nicht aus eigenen Kräften gefüllt werden kann.
Orbán, der beinahe täglich Interviews gibt, weiß um die Bedeutung der metapolitischen Ebene, ohne die auf Dauer keine Ordnungsvision durchgesetzt werden kann. Mittelfristig muss vor allem die Brandmauer zwischen bürgerlichen, gemäßigten und radikaleren Kräften fallen, zwischen denjenigen, die an den Symptomen herumwerkeln und denjenigen, die auch die Ursachen der Krisen analysieren und kurieren wollen.
Die Präsidentschaft von Donald Trump bedeutet eine strategische Revolution. Sie geht über von der Überdehnung der eigenen Macht zu deren heilsamen Selbstbegrenzung. Ihr Ziel ist nicht eine fiktive Universalität westlicher Werte, sondern die Konzentration auf eigene Interessen bei Respekt anderer Kulturen und anderer konkurrierender Mächte. Sie bedeutet eine Anerkennung der Verschiedenheit einer multipolaren Welt. Die Gegenrevolution von Donald Trump besteht darin, keine moralischen Ziele, sondern die Interessen des Eigenen zu befürworten. Als Geschäftsmann geht er nicht Kompromisse auf Kosten Dritter, in der Regel des Steuerzahlers, sondern versucht im gegenseitigen Geben und Nehmen realistische Geschäftspolitik zu betreiben.
Bei Trumps »America first« handelt es sich um die Rekonstruktion eines Wirtschaftsnationalismus, der das Gute nicht mehr in alle Welt verteilen möchte, sondern das Gute der Welt zu sich ziehen möchte. Das schließt die Anerkennung der eigenen Grenzen und dies wiederum die Möglichkeit ein, sich mit anderen Mächten auf Abgrenzungen und neutrale Zonen zu einigen. Europa bleibt im Moment demgegenüber nur die Hoffnung, dass aus den USA immer noch Gutes und Schlechtes nach Europa übergeschwappt ist und sich die realitätsentrückten Eliten Europas den neuen strategischen Leitlinien der USA beugen werden.
Trump schließt keine Kompromisse auf Kosten Dritter, in der Regel des Steuerzahlers, sondern fordert Gegenseitigkeit ein. Das Prinzip Gegenseitigkeit ist der Kern seines neuen Realismus. Es bedeutet das Ende von Gemeinschaftsträumereien. Der Anspruch auf Realpolitik unterstellt dem Gegner keinen Wahnsinn, sondern versucht, sich in dessen Ziele und Strategien hineinzudenken. Sie respektiert die Geopolitik, in der die Geographie kaum änderbare Realitäten definiert, woraus Einsichten in Einflusssphären und damit auch für notwendige Grenzziehungen erwachsen. Oft ist ein Blick auf die Landkarte wichtiger als ins Völkerrecht. Die Einflusssphären der anderen Großmächte Russland und China müssten eine ähnliche Berücksichtigung finden wie sie die USA etwa im mittelamerikanischen Raum und in Westeuropa für sich erwarten.
Religion entscheidet: Israel als Menetekel und Modell für den Westen
Die Zugehörigkeit Israels zum Westen kommt indirekt dadurch zum Ausdruck, dass an es im Westen immerzu höhere moralische Ansprüche gestellt werden als an seine Feinde. Ohne die jüdische Leitkultur wäre die Existenz Israels weder möglich geworden noch ihr Zusammenhalt auch nur eine Woche denkbar gewesen. Israel lehrt uns die Bedeutung von Religion für den Fortbestand einer Kultur.
Im auch in der westlichen Welt allgegenwärtigen Hass auf Israel bündelt sich auch der Hass gegen den erfolgreichen »postkolonialistischen« Westen. Das winzige Israel wird zum Kolonisator und Unterdrücker ernannt. Aus dieser postkolonialistischen Perspektive erwuchsen dann auch die idealistisch-humanitären Ansinnen zur Ausrufung einer für Israel selbstmörderischen Zweistaatenlösung.
Der Westen sollte von der einzigen multireligiösen Demokratie im Nahen Osten lernen, dass er nur durch ein Bekenntnis zu sich selbst seine Verteidigung überhaupt möglich machen wird und nur so im Kampf der Kulturen bestehen kann. Dieses Selbstbewusstsein beginnt im alltäglichen Zusammenleben. Die fast zwei Millionen meist muslimischen Palästinenser Israels sind in Israel nicht integriert, sondern entweder assimiliert oder sie leben getrennt in eigenen Städten. Es wird Religionsfreiheit gewährt, aber die Leitkultur ist das Judentum. Andere Kulturen in Israel partizipieren am Bildungs- und Sozialsystem in dem Maße, wie sie sich selbst in dieses einbringen. Teilnahme und Teilhabe stehen in einem Verhältnis der Gegenseitigkeit.
Im Hinblick auf seine Nachbarschaft betreibt Israel eine »Balance of Power«, welche zwischen kleineren und größeren Übeln, zwischen gemäßigten islamischen Staaten und islamistischen Akteuren unterscheidet. Israels Kampf um seine Existenz verlängert sich durch die offenen Grenzen Europas zum Kampf sowohl um die christliche als auch um die relativistische Kultur Europas.
Im Nahen Osten haben sich Teile der arabischen Welt mit den Israelis und den USA zu einem Entwicklungsfrieden verbündet. Jede Macht im Nahen Osten muss sich entscheiden, ob sie die wirtschaftlich-technische Entwicklung oder die islamistische Vision unterstützen will. Indem sich immer mehr arabische Staaten dem Abraham-Abkommen einer zivilisierten Zusammenarbeit mit Israel annähern, räumen sie der Meerwasserentsalzung, Begrünung von Wüsten, Handel und Tourismus einen höheren Stellenwert als dem Heiligen Krieg ein.
Auch die Palästinenser lassen sich entlang ihrer Teilhabewünsche an den Erfolgen der Zivilisation differenzieren. Das Westjordanland und die dort regierende Fatah sind gespalten nach denjenigen, die mit Israel Geschäfte machen, und denjenigen, die den Endsieg anstreben. Die Palästinenser in Israel sind angesichts der Vorteile des zivilen Lebens in Israel weitgehend loyal. Mit der Wahl der Hamas haben sich viele Palästinenser für den Islamismus und damit für ein Leben im Kampf und in Not entschieden.
Langfristig soll in Gaza ein Terminal für den asiatisch-europäischen Handel errichtet werden, zu dessen Aufbau die Palästinenser des Gaza-Streifens eingebunden werden könnten. Über die Teilnahme am Aufbau erhalten die Palästinenser erneut die Chance, sich vom Kampf der Kulturen abzuwenden und dem Kampf für die Zivilisation zuzuwenden.
Weisheit des Christentums: Subsidiarität und Personalität
Die Demokratie – so David Engels - schuldet ihre Existenz dem Christentum; sie ist an dem Tag entstanden, als der Mensch begonnen hat, in der Zeitlichkeit des Diesseits die Würde des Menschen zu verwirklichen.
Man muss nicht einmal gläubig sein, um im Christentum die geistige Grundlage des Abendlandes zu erkennen. »Abendländer« sehen Europa daher nicht als »Projekt«, sondern als geschichtlich gewachsenen Kulturraum, der, wie jeder Raum, der sich erhalten will, weder nach innen unbegrenzt offen noch nach außen unbegrenzt ausdehnbar sein darf. Dafür bedarf es zunächst eines Sturzes der falschen Götter, den wir im Paradigmenwandel dieser Zeit in manchen Ländern erleben. Am Beispiel zweier Grundprinzipien der christlichen Soziallehre, von Personalität und Subsidiarität soll gezeigt werden, was dieser Wandel für ein neues bürgerliches Ethos bedeuten würde.
Einer Generation ohne nennenswerte religiöse Rückbindung diente die globalistische Ethik der Regenbogen-Kultur als Religionsersatz. Die Fernstenliebe entlastet sie zugleich vor einem konkreten Engagement gegenüber dem Nächsten, deren Probleme den kosmopolitischen Eiferern ziemlich egal zu sein scheinen. Die eigene Wohlfühlgesinnung erhebt einen moralisch soweit über andere hinaus, dass man sich nicht einmal zum Gespräch mit ihnen herabbeugen muss. Ohne Hierarchie des Guten, wie sie das Subsidiaritätsprinzip der Christlichen Soziallehre postuliert, endet grenzenloser Idealismus in Naivität gegenüber dem Fernen und in Verachtung des Nächsten.
Der Fortschrittsbegriff ist im Wanken und das Bewusstsein von den Verlusten der Modernisierungsprozesse prägt heute das Denken und Empfinden. Noch begnügt man sich mit der Förderung kläglicher sexueller Identitäten, aber dies könnte der Vorlauf zu größeren identitären Wahrnehmungen sein. Ohne eigene Identität gibt es keinen Grund, das Eigene über vordergründige und oft widerstreitende Interessen zu behaupten. Wir müssen daher unbedingt darüber streiten, was unsere kollektiven Identitäten ausmacht.
Der Verzicht auf die kulturprägende Rolle einer Religion erzeugt ein geistiges Vakuum, welches dann etwa eine falsche Toleranz gegenüber dem religiös von seiner Wurzel her uns feindseligen Islam, aber auch Fehleinschätzungen im Verhältnis zu Russland und weiterhin ersatzreligiöse Regenbogenvisionen vordringen lässt. Die Migrations- und Klimapolitik lässt sich als Perversion der christlichen Lehre verstehen. Die bedeutungsvolle Rolle diverser Geschlechter und die Fernstenliebe zu weit entlegenen Weltregionen beanspruchen in beiden Fällen ein Selbstschöpfertum des Individuums und die göttergleiche Herrschaft über das Schicksal der Erde.
Der Rückzug des Westens auf seinen westchristlichen Kulturraum wäre ein Beitrag zu einer friedlichen multipolaren Weltordnung. Diese Begrenzung und Besinnung würde den Westen zugleich auch über die Grenzen des Christentums aufklären und daher eine wesentlich defensivere Außenpolitik begründen helfen.
Eine Restrukturierung auf den spezifisch westlichen Ausgleich vor allem zwischen Kultur, Gesellschaft, Staat und Markt muss nicht neu gedacht werden. Sie ist unter anderem in der Österreichischen Schule der Nationalökonomie überzeugend dargelegt worden. Im Hinblick auf den Konflikt zwischen Globalisten und Protektionisten würde allein der Rekurs auf eines der drei Hauptprinzipien der christlichen Soziallehre – die Subsidiarität – genügen, um einen neuen Mittelweg zu finden, der die Fernstenliebe nicht ausschließt, sie aber in eine tragfähige Reihenfolge mit der vorrangigen Aufgaben bringt.
Der zum Katholizismus konvertierte US-Vizepräsidenten J. D. Vance besteht auf Meinungsfreiheit und daher auf dem Einriss der Brandmauern zwischen links und rechts. Schon als Senator hatte er durch seinen Einsatz für verfolgte Christen – nicht zuletzt in der Ukraine – von sich reden gemacht.
Indem er die christliche Ordnung der Nächstenliebe (ordo amoris) wieder zum Leitbild der Politik erklärte, brachte er die neue Politik der Selbstbehauptung in einer globalisierten Welt auf den Punkt. Es gelte, zuerst die Aufmerksamkeit auf das Gedeihen der kleineren Einheiten - von der Familie bis zum eigenen Staat – zu richten und erst danach den Blick auf die ganze Welt zu werfen.
Subsidiarität: Einhegung der Globalisierung in dezentrale Strukturen
Bei den so genannten »Rechten« handelt es sich um heterogene Bewegungen, vereint nur im Bestreben, der Selbstauflösung des Eigenen die Selbstbehauptung des Eigenen entgegenzusetzen. Es wäre ein Fehler, das Eigene auf die nationale Dimension zu reduzieren, zur Dezentralität gehören Familie, Region, vor allem aber auch die eigene Kultur. Der Nationalstaat bildet konkurrenzlos die effektivste Form der Selbstbehauptung, die sich in der abendländischen Geschichte der Neuzeit aber allzu oft durch Selbstübersteigerung diskreditiert hat.
Die politische Rechte in der westlichen Welt besteht nicht nur aus einem Mainstream. Sie ist geeint darin, die selbstauflösende Politik der global denkenden Eliten zu stoppen und diese in eine Politik der Selbstbehauptung umzuwandeln. Ungarn ist die Behauptung seiner nationalstaatlichen Souveränität gelungen, schon indem es sich allen Trends der Weltoffenheit widersetzte und seine Grenzen vor der muslimischen Invasion zu bewahren verstand. Zugleich pflegt das Land seine Mitgliedschaft in inter- und übernationalen Systemen. Orbán besteht aber darauf, dass EU und Nato ihre Grenzen nach außen nicht nur sichern, sondern auch einhalten und sich aus den Händeln fremder Völker heraushalten – eine zugleich politisch schützende und wirtschaftlich offene Politik.
Sozialdemokraten in Dänemark haben sich schon vor Jahren entschlossen, ihren Sozialstaat durch Schutz vor einer zügellosen Migration zu retten. In Italien sitzen angebliche »Postfaschisten« in der Regierung, in den Niederlanden bestimmt der »islamophobe« Geert Wilders die Richtlinien der neuen Regierung.
Im Hinblick auf die Europäische Union verbindet sie die Option für eine dezentralere Politik, die den globalen Entgrenzungen entgegengehalten werden müsse. Die globalen Prozesse in Wissenschaft, Technik und Ökonomie bedürfen schon deshalb im Umkehrschluss dezentraler politischer Prozesse, weil diese allein mit demokratischem Verfahren, mit Souveränität der Staaten und mit der Selbstbestimmung des Menschen kompatibel sind.
Der Ausgleich von Konnektivität und Selbstbehauptung des Eigenen wäre der Weg einer neuen liberalen Mitte. Auf diese Weise könnten die Gesinnungskriege zwischen utopischen Globalisten und den zumeist nationalen Protektionisten in Dritte Wege überführt werden. Statt einem absurden Pro oder Contra zur Globalisierung das Wort zu reden, ginge es darum, die besseren Globalisierungsprojekte zu fördern und die schlechteren zu unterbinden. Natürlich brauchen wir auch weiterhin weltweite Netzwerke, aber deren Knoten – zumeist die Nationalstaaten – müssten auch im Sinne der Netzwerke gestärkt und gefestigt sein.
Personalität: Bürgerliches Ethos der Gegenseitigkeit
Der »Weltbürger« ist ein Widerspruch in sich selbst. Bürger kommt von Burg. Bürgerrechte sind auf einen umgrenzten und zugleich geschützten Raum angewiesen. Der gesunde Menschenverstand resultiert aus der Alltagsbewältigung. Sein Realismus ist weitaus ausgeprägter als die Phantastereien halbgebildeter Akademiker, die, längst an Zahl und Qualität inflationiert, oft nur zum Lernen, aber nicht mehr zum eigenständigen Denken ausgebildet werden. Ihr Mangel an Urteilskraft ist allzu oft bestürzend. Während jeder Handwerker über grüne Phantastereien pleitegehen würde, sichern sich die Projektarbeiter der sich immer weiter ausdehnenden öffentlichen Dienste auch in den so genannten NGO’s untereinander in einer Weise ab, die an eine neue Form der Ausbeutung erinnert.
Je mehr sich der Westen aus den ihm kulturell fremden Weltregionen heraus hält, desto mehr Mittel stehen ihm für die Sicherheit daheim bereit. Freilich können sich die Bewahrer des Eigenen in Extremen wie Isolationismus und übersteigerten Nationalismus verrennen. Es braucht daher Dritte Wege jenseits von oder zwischen Fern- und Nah-Interessen und letztlich einen Ausgleich zwischen Offenheit und Eigensinn. Die Dialektik der Weltoffenheit erfordert Gegenseitigkeit und Gleichgewicht, Klugheit und Tapferkeit, Maß und Mitte, lauter Kardinaltugenden von zeitloser Gültigkeit.
Am Wiederaufbau solcher bürgerlichen Tugenden müssten sich große Teile des Bürgertums beteiligen. Ohne den Zwang der Not ist dies jedoch nicht realistisch zu erwarten. Bisher haben sie sich an dem Niedergang ihrer einstigen Rechte- und Pflichtenethik eher beteiligt als dass sie sich ihm entgegengestemmt hätten. »Links zu sein, bedarf es wenig«. (Johannes Groß) Wenn aber an immer mehr Stellen Knappheit ausgebrochen sein wird, werden diejenigen, für die reale Arbeit kein Problem ist, eher Wege zu ihrem Auskommen finden als die Utopisten des Regenbogens, die meist außer verwegenen Träumen und Forderungen an andere wenig zu ihrer und unserer Existenzsicherung zu bieten haben. Wenn es denn bald eng wird, werden diejenigen, die reale Kompetenzen erlernt haben, wesentlich besser dastehen und auch wieder den Ton angeben (Held, VW – die Rekonstruktionsaufgabe).
Fazit: Noch ist der Westen nicht verloren
Aus den deutlicher erkennbar gewordenen Bedrohungen des Eigenen ergibt sich auch die deutlichere Notwendigkeit von dessen Selbstbehauptung. Dies erleichtert den Konsens für die einigende Aufgabe. Darüber würden sich falsche Gegensätze aufheben. Die im rechten Lager notorischen Konflikte zwischen Patrioten und Europäern machen längst Vorstellungen von einer Europäischen Union der »Vielfalt nach innen und Einheit nach außen« Platz, in denen sich Nationalstaat und Union ergänzen. Zwischen Weltoffenheit und Schutz liegen auch Dritte Wege zwischen Links und Rechts auf der Hand. So ist eine leichtere Einbürgerung von Arbeitskräften genauso notwendig wie die Abwehr illegaler Zuwanderer. Am Ende des Regenbogens angelangt, müssen wir uns dem unbedingten Muss der bloßen Selbsterhaltung beugen.
Kurzfristig bräuchten wir die Rekonstruktion unserer Strukturen, mittelfristig die Rekonstruktion unserer Kultur und jederzeit die Rekonstruktion von Nüchternheit und Realismus. Uns wird nicht weniger als die Besinnung auf Voraussetzungen und Strukturen unserer Kultur, der sich daraus ergebenden Grenzen, der eigenen Interessen abverlangt. Die spezifisch bürgerliche Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten müssen wir kommenden Generationen sogar vorleben.
Angesichts der Größe dieser Aufgabe könnte man von einer umgekehrten Utopie sprechen. Die aufgeführten Aufgaben und Beispiele zeigen aber, dass es Gegenmodelle und hier auch hoffnungsvolle Ansätze gibt. Europa hat den Dreißigjährigen Krieg und zwei Weltkriege überstanden. Spanien war 781 Jahre von Muslimen besetzt und wurde doch wieder eine christliche und später eine demokratische Nation. Unmittelbar nach der Vertreibung der Sarazenen 1492 kapitulierte Granada, im selben Jahr entdeckte Kolumbus Amerika und die Blüte des spanischen Weltreiches nahm ihren Anfang.
Eine neue Blüte des Westens wird aber nicht mehr in fernen Erdteilen, sondern eben umgekehrt in der Rückkehr zu seinen eigenen Aufgaben, seinen eigenen Grenzen und Räumen zu suchen sein. Im anstehenden Paradigmenwandel zu einer Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung braucht der Westen keine Transformation zu ganz neuen Ideen und Ufern. Es kann auf den ungeheuren Schatz seiner Vergangenheit und Möglichkeiten zurückgreifen.
Literatur
David Engels, Défendre l'Europe civilisationnelle : petit traité d'hespérialisme, Paris 2024
Gerd Habermann, Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Reinbek, 2. Aufl. 2022
Andreas Reckwitz. Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin 2024
Heinz Theisen, Die Normalität der Selbstbehauptung. Löst Ungarn Europas gordischen Knoten, in: Cato. Magazin für neue Sachlichkeit, Nr.5, 2024