von Lutz Götze
Alle Welt spekuliert darüber, was wohl der Herr im Kreml plane. Sogenannte Russlandexperten werden nicht müde, ihre Erklärungen über die Absichten des Wladimir Putin in die Welt zu posaunen. Oft beträgt deren Halbwertzeit nicht einmal einen Tag. Daher erstaunt es keineswegs, wenn jetzt, nach der völkerrechtswidrigen Anerkennung der Separatistenregime in Donezk und Luhansk durch Putin, der Westen in toto erschüttert ist und, in völliger Selbstüberschätzung wie Außenministerin Baerbock, den Rückzug der russischen Invasionstruppen fordert. Vollkommen überrascht sind auch Kanzler Scholz und der französische Präsident Macron, die nach ihren Gesprächen mit Putin vor einer Woche optimistisch gestimmt nach Haus zurückkehrten. Haben sie Putin nicht zugehört? Oder haben sie ihn lediglich nicht verstanden?
Dabei sind Putins Gedankengänge leicht zu begreifen. Sie resultieren aus einer sehr einseitigen Sicht auf die russische und osteuropäische Geschichte, gepaart mit Großmannssucht und einem Inferioritätsgefühl, das nach Rache verlangt.
Beginnen wir mit der Geschichte. Putin hat immer wieder erklärt, dass für ihn die größte Tragödie des vergangenen Jahrhunderts nicht etwa die beiden Weltkriege oder der Bau der Berliner Mauer gewesen seien, sondern der Zusammenbruch der Sowjetunion nach 1989. Der Abfall zahlreicher ehemaliger Mitgliedsstaaten – Ukraine, Georgien, die baltischen und mittelasiatischen Staaten – und ihre Verbindung in einem losen Verband namens ›Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)‹ waren für ihn unerträglich und seinem Geschichtsdenken zutiefst zuwider: Putin geht seit Jahren von einem russischen Riesenreich aus, im Westen vorerst von Polen und im Osten vom Pazifischen Ozean begrenzt. Getreu seinem geistigen Vorbild Zar Alexander III (1845-1894, Zarenherrschaft von 1881-1894) versteht er Russland als eine einheitliche Nation, gestützt auf eine einzige Religion, nämlich die orthodoxe und eine Sprache, das Russische. Ausschließlich Slawen sollen das Reich beherrschen; Minderheiten, Andersgläubige und Anderssprachige wurden bereits im Reiche Alexanders bekämpft. Der war ein überzeugter Antisemit, schaffte die liberalen Reformen seines Vaters Alexander II, darunter eine Bildungsreform, wieder ab, formierte eine allmächtige Geheimpolizei, die Lenin später als Vorbild der Tscheka diente (in ihrer Nachfolgeorganisation, dem KGB, wuchs Putin auf und hier rekrutiert er seine Spitzenberater). Die Bevölkerung Russlands war Alexander vollkommen gleichgültig: Die Hungerkatastrophe von 1891/92, die schätzungsweise eine halbe Million Menschenleben kostete, war ihm keinerlei Nachdenken wert, desto mehr die massive Aufrüstung der Armee. Alexander verstand sich als Sachwalter der Tradition der Zaren Peter I und Katharina der Großen. Sein außenpolitisches Ziel war einzig auf Expansion, Eroberung und Unterwerfung gerichtet. Lenin und Stalin setzten später das Werk fort, das, vorerst, 1989 sein Ende fand. Putin will die Wiederherstellung alter Macht und Größe, mindestens aber den Zustand vor 1997, als die ersten ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakt-Systems – Polen, Tschechien und Ungarn – NATO-Mitglieder wurden. 2004 kamen Estland, Lettland, Litauen und weitere vier Länder hinzu.
Eine besondere Rolle in diesem hegemonialen Denken Putins spielen die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland. Sie sind das Kerngebiet des alten Russlands, das ›Herz‹ gewissermaßen. Die Kiewer Rus, auch Altrussland genannt, war ein altslawisches Reich, das 882 in Kiew gegründet wurde, der alten russischen Hauptstadt. Ihr Reich umfasste Teile der Territorien des heutigen Russlands, dazu die Ukraine und Belarus. In seinem panslawischen Bewusstsein ist es deshalb für Putin schlechthin normal, die ›abtrünnige‹ Ukraine heim in sein Reich zu holen. Belarus hat er sich ohnehin längst unterworfen. Wenn er also jetzt seine Truppen in das seit acht Jahren bestehende Kriegsgebiet der Ostukraine sendet, unternimmt er lediglich einen ersten Schritt. Die gesamte Ukraine ist sein nächstes, vorläufiges Ziel.
Das Endziel aber ist eine Neuordnung Europas: ein Europa unter russischer, also diktatorischer, Herrschaft. Demokratien sind Putin zutiefst zuwider; Gedanken-und Meinungsfreiheit hält er für eine Schwäche des Westens, freilich bedrohlich für die Stabilität seines Systems. Das freie Recht eines Landes, einem Bündnis seiner Wahl beizutreten, kennt er nicht oder verachtet es zumindest. Offene Diskussionen oder Gespräche sind ihm lästig; deshalb waren das Minsker Abkommen 2014/15, der NATO-Russland-Rat oder das Normandie-Format, das Macron und Scholz immer erneut würdigten, für Putin lediglich Hinhaltemanöver. Stattdessen formuliert er inakzeptable ›Sicherheitsinteressen‹.
Dazu passt, dass er die jungen Leute auf dem Maidan 2014 für vom Westen infizierte Terroristen hielt, die es zu bekämpfen galt. Kritiker im eigenen Lande werden entweder inhaftiert oder gleich liquidiert: Nawalny, Politkowskaja oder der Tiergartenmord sind lediglich die Spitze des Eisbergs: Nicht ohne Grund flüstert man in Moskau hinter vorgehaltener Hand: ›Es gibt keine ehemaligen KGB-Leute!‹. Oder, auf Putin gemünzt: ›Einmal KGB, immer KGB!‹
Folgt die Großmannssucht: Putin leidet vehement darunter, nicht ernst genommen zu werden. Der Westen ist auf seine Tricks, dies zu kaschieren, permanent hereingefallen. Als Präsident Obama den Fehler beging, das Russland Boris Jelzins eine ›mittelgroße Regionalmacht‹ zu nennen, schwor Putin Rache. Zwar weiß er, dass Russland ein militärischer Riese, aber ein ökonomischer Zwerg mit einem geringeren Bruttosozialprodukt als Italien ist, aber das ficht ihn nicht an. Zwar weiß er ebenso, dass zumal die Landbevölkerung außerhalb von Moskau, Petersburg und einigen anderen Großstädten nach wie vor unter erbärmlichen sozialen und sanitären Verhältnissen lebt und schlechte Schulen hat, aber das ist ihm, wie seinem Idol Alexander III, vollkommen egal. Zudem baut er auf Desinformation in den ihm ergebenen Medien und die traditionelle Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung.
Großmannssucht heißt aber vor allem: Putin will auf Augenhöhe mit Präsident Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping sein und von ihnen als gleichberechtigt behandelt werden. Alle anderen Staats-und Regierungschefs, die derzeit nach Moskau pilgern und froh gestimmt zurückkehren, behandelt er wie Untertanen. Der überlange Tisch im Kreml, der die Akteure trennt, ist überzeugendes Symbol dieses Denkansatzes.
Diese Großmannssucht basiert auf einem eklatanten Gefühl der Inferiorität. Wer sich regelmäßig als sportlich-durchtrainiert im Fernsehen zeigt, Judogegner auf den Rücken wirft, wer mit Waffen hantiert und wilde Tiere vor laufender Kamera besiegt, hat ein Problem. Es potenziert sich, wenn man keine 1.70 Meter misst. Also muss er umso markanter auftreten und reden, Gegner zu Feinden erklären und Riesenarmeen-und Flotten befehligen. Dergleichen, so hofft er, gefalle seinen Untertanen.
Dieses Gefühl der Unterlegenheit verleitet ihn auch dazu, in seinen engsten Beraterkreis nur Vasallen und Jasager aufzunehmen. Kritiker, die ihm etwa zu widersprechen wagten, meidet er oder stößt sie vom Thron. Seine offensichtliche Vereinsamung verführt ihn dazu, nur sich selbst zu vertrauen. So baut er sich eine Welt, die mit der Wirklichkeit immer weniger zu tun hat. Das alles schafft eine Situation, die brandgefährlich für die Nachbarn, für Europa und die Welt ist. Die Annexion der Separatistenregime Donezk und Lugansk beweist das.
Warum München 1938? Damals kamen der britische und der französische Regierungschef, Chamberlain und Daladier, nach München, um Adolf Hitler ihr Placet für die Besetzung der sudetendeutschen Gebiete zu geben. ›Appeasement‹ wird dieser Fehler seither genannt; der Vorgang gleicht der Besetzung der Ostukraine durch Putins Truppen auf´s Haar. Beide Raubgesellen – Hitler wie Putin –betonten anschließend, sie hätten keinerlei weitere Besitzansprüche. Die Geschichte lehrt, dass Hitler gelogen hatte.
Putin hat gleiche Ziele wie Hitler, wenn ihn nicht eine entschiedene westliche Gegenmacht daran hindert. Die bisherigen Sanktionen des Westens waren Nadelstiche, die in Moskau belächelt wurden; auch der jetzt endlich beschlossene Stopp der von Anfang an unsinnigen und gefährlichen Ostsee-Ölleitung ›North Stream II‹ reicht beileibe nicht aus.
Auch der Vorschlag, die Ukraine solle einer ›Finnlandisierung‹, also einer vermeintlichen Neutralität, wie Finnland sie seit Jahrzehnten praktiziert, zustimmen, ist keine Lösung, eher eine Demagogie. Sofi Oksanen, finnische Journalistin mit estnischen Wurzeln, hat in der ZEIT (17.2.22) beschrieben, wie diese ›Neutralität‹ in Wahrheit aussieht: Zwar könnten die Finnen frei sprechen und ins Ausland reisen, aber bei Themen wie Gefangenenlager, Zensur, von Russland verursachten Verseuchungen der Ostsee oder Deportationen finnischer Bürger nach Russland schweige die Regierung, die Presse ohnehin. Die Reinwaschung der UdSSR war Landessitte, schreibt Oksanen. Sie befürchtet, einer etwaigen Finnlandisierung der Ukraine könnte, ginge es nach Moskau, eine Finnlandisierung ganz Europas folgen.
Nach der Aufkündigung des Minsker Abkommens durch Putin wird es ohne harte, möglicherweise auch militärische, Auseinandersetzungen nicht gehen. Waffenlieferungen an die Ukraine gehören dazu. Deutschland muss Farbe bekennen, welche Bedeutung unsere demokratischen Grundwerte in Wahrheit haben.