von Lutz Götze
Die Nebel lichten sich. Die ubiquitär ob ihrer chaotischen Impfstoff-Ankaufstrategie gescholtene EU-Kommission samt deutschem Gesundheitsminister Spahn scheint, vorerst, nicht mehr das Ziel der Kritik zu sein. Investigative Journalisten von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung haben herausgefunden, wie es sich wirklich zugetragen hat: Brüssel, Berlin und andere EU-Länder haben im Sommer 2020 nicht sofort Dosen in großem Stil eingekauft, weil die Herstellerfirmen BionTech/Pfizer astronomische Preise verlangt hatten: 54,08 Euro pro Dosis. Offenbar dachten die Erzeuger, sie könnten sich eine goldene Nase verdienen: Basierend auf ihrer Monopolstellung, waren sie überzeugt, wenn sie erst einmal den weltweit größten Abnehmer, die Europäische Union, mit diesem Preis erpresst hätten, würden US-Amerika und weitere ›wohlhabende‹ Länder klaglos nachziehen. An Drittwelt-und Schwellenländer war ohnehin nicht gedacht.
Vorausgegangen war diesem Poker ein Schreiben der Mainzer Firma BionTech an die EU in Brüssel, in dem Firmenchef Ugur Sahin seine Redlichkeit beschwor: Niemand wolle in dieser Pandemie Gewinne erzielen. Weiter hieß es in dem Angebot »Expression of interest«: Rechne man die Abermilliarden, die die Pandemie an wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Schaden verursache, in ein ›traditionelles Kosten-Wirksamkeits-Modell‹ um, betrüge der Preis pro Dosis ein Vielfaches, ›unangemessen während einer globalen Pandemie‹. Der Preis sei auch deshalb so günstig, weil er den ›höchsten prozentualen Rabatt‹ enthalte, der einem Industrieland weltweit angeboten werden könne.
Freilich war die unendliche Güte des Pharma-Unternehmens damit noch nicht zu Ende: Das Schreiben enthielt die Behauptung, man habe die Entwicklung des Impfstoffes ›komplett selbst finanziert‹. Das nun, so rechneten die Journalisten vor, sei nichts als eine dreiste Lüge: Alle Finanzierungen seit Gründung des Mainzer Pharma-Unternehmens, die von Brüssel, der Bill Gates-Stiftung oder der Bundesregierung geleistet wurden, belaufen sich auf insgesamt etwa 450 Millionen Euro, zuzüglich eines im Juni 2020 gewährten günstigen Kredits der Europäischen Investitionsbank. Herr Sahin scheint das schlicht vergessen zu haben.
Im Sommer 2020, unmittelbar nach dem vergebenen Kredit, sandte BionTech/ Pfizer sein Angebot nach Brüssel: 54,08 Euro pro Dosis. Geht es noch dreister?
Doch im Herbst schlug der Wind um. Der öffentliche Druck auf Brüssel und Berlin war enorm gewachsen, die Veröffentlichung der Verträge wurde gefordert. Das geschah dann auch, freilich wurden von den Behörden etliche Seiten geschwärzt – indes so schlampig, dass doch alles lesbar war: Nicht einmal ordentlich mogeln können sie also!
Seither ist bekannt, dass Brüssel – die Kommissionspräsidentin von der Leyen und ihre griechische Gesundheitskommissarin – schlecht verhandelt hatten und nicht einmal ein Haftungsrisiko in den Vertrag einbrachten, geschweige denn auf die öffentlichen Vorauszahlungen für Forschung und Entwicklung des Impfstoffes verwiesen und daraus entstehende Rabatte beim Großeinkauf verlangten.
Erst im November 2020 kam es zu einem Vertragsabschluss der Europäischen Union mit Pfizer/BionTech. Der endgültige Preis wird bis heute ›aus vertragsrechtlichen Gründen‹ nicht genannt, doch die Journalisten sind auch hier fündig geworden: Er soll bei 15,50 Euro pro Dosis liegen, also lediglich 30 Prozent des vom Pharma-Unternehmen ursprünglich geforderten Preises betragen.
Firmenchef Sahin widersprach matt. Noch im Herbst 2020 war er als ›Retter‹ im Kampf gegen das Corona-Virus gefeiert worden. Bundespräsident Steinmeier hatte ihn empfangen und gelobt, Ministerpräsident Laschet rühmte Sahin als Glanzlicht deutscher Forschung. In Talkshows war er wohlgelitten; Politiker sonnten sich in seinem Glanz. Über Nacht wurde er jetzt zur Unperson degradiert: ein geldgieriger Aufsteiger, gerissen und heuchlerisch. Selbst wenn Sahins Firma in Zukunft die versprochene Menge des Impfstoffs liefern sollte, dürfte sein Ansehen ramponiert sein.
Freilich geht es hier nicht um Ansehen oder Anerkennung. Dieser Deal ist kein gewöhnlicher, bei dem Aktien abstürzen oder eine Firma wie Wirecard an die Wand gefahren wird. Hier geht es um Leben oder Tod – in den Industriestaaten wie in den Entwicklungsländern, die bei dem Desaster während Monaten vollkommen unberücksichtigt blieben. Erst vor wenigen Tagen haben die Staats- und Regierungschefs der G7 ihre finanziellen Zusagen für die internationale Impf-Allianz Covax zugunsten der armen Länder erhöht. Die hunderttausende Menschen weltweit, die wegen Wucherpreisen der Pharma-Industrie oder der Unfähigkeit der Behörden sterben oder gesundheitliche Schäden für ihr gesamtes Leben davontragen, klagen an. Viele von ihnen hätten gerettet werden können, wenn nicht der Raubtierkapitalismus hier den Sieg davongetragen hätte
Sind Brüssel und die Bundesregierung damit salviert?
Mitnichten. Denn sie haben das erpresserische Spiel der Pharma-Unternehmen mitgespielt und Nebelkerzen abgeschossen: Erst erklären sie unisono, nach Weihnachten 2020 ginge es richtig los mit dem Impfen, veranlassten Länder und Kommunen zur Errichtung sündhaft teurer Impfzentren und erstellten ›Prioritäts-Listen‹ der zu impfenden Bürgerinnen und Bürger. Doch dann geschah nichts, weil kein Impfstoff eintraf – bis heute eine Mangelware. Dann wurden die Parlamente – Europa-Parlament, Deutscher Bundestag, Assemblée Nationale und andere – konsequent von der Diskussion ausgeschlossen. Schließlich wurden die Pharma-Firmen wegen Lieferengpässen kritisiert, obwohl diese, im Regelfall, genau jene geringe Menge lieferten, die Brüssel mit ihnen vereinbart hatte. Dann wurden wochenlang jene Erpresserverträge unter Verschluss gehalten, statt der Bevölkerung zu erklären, welche Wucherpreise BionTech verlangt hatte. Dabei wurde immer erneut bekundet, wie wichtig es für die europäische Solidarität gewesen sei, Brüssel zu beauftragen, um für alle europäischen Länder gemeinsam einzukaufen.
Inzwischen ist Ungarn längst aus der Gemeinschaft ausgeschieden und kauft in Moskau das Vakzin Sputnik V, das bis heute keine Zulassung in Europa erhielt und in Russland selbst kaum verimpft wird. Minister Spahn wird indes nicht müde, an die Geduld und das Wohlverhalten der stressgeplagten Bürger zu appellieren. Inzwischen sind ihm die Mutanten und das qualitativ schlechtere Vakzin AstraZeneca zu Hilfe gekommen: Die Corona-Maßnahmen werden wahrscheinlich auch im März 2021 verlängert werden. Das alles hätte vermieden werden können, hätten in Brüssel und Berlin nicht Versager amtiert, die von ›Lernkurven‹ faseln, statt ihre Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Aber was soll man von einer Kommissionspräsidentin von der Leyen halten, die in Brüssel jene Ruinen errichtet, die sie bereits im Arbeits- und Verteidigungsministerium in Berlin hinterlassen hatte!