von Markus C. Kerber

Aus Schloß Meseberg, dem Gästehaus der Bundesregierung, werden Bilder der Harmonie über das erste persönliche Treffen nach dem Lockdown zwischen Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Staatspräsidenten in die Welt gefunkt. Es soll einmal mehr bekundet werden, dass Deutschland und Frankreich im Gleichschritt zur Lösung der europäischen Probleme bereit seien. Der französische Staatspräsident hat gut lachen. Während ihm in Frankreich die letzten Reste seiner parteipolitischen Basis langsam aber sicher wegbrechen und der Vertrauensverlust in der Bevölkerung nach Gelbwestenkrise, Corona-Chaos und nunmehr den katastrophalen Ergebnissen der Kommunalwahlen irreversibel erscheint, vermag der junge Mann mit dem schneidigen Auftritt zumindest den heimischen Fernsehzuschauern den Eindruck zu vermitteln, in Deutschland alles fest im Griff zu haben.

Es ist in der Tat wie ein Wunder: Obschon Frankreich wirtschafts- und finanzpolitisch noch nie so angeschlagen war, führt der junge Herr aus Paris die deutsche Politik, weil Merkel auf eine eigene Strategie verzichtet und sich Frankreich, dem Land mit dem angeborenen Führungsanspruch, nahezu völlig untergeordnet hat.

Lange Zeit wiegte die Bundeskanzlerin die Deutschen in der Sicherheit, sich auf Gemeinschaftsschulden auf keinen Fall einlassen zu wollen. Diverse Vorschläge in diese Richtung waren immer wieder von den Pariser Machthabern im ›europäischen Interesse‹ an die Bundesregierung adressiert worden. Einmal ging es darum, sogenannte ›Eurobonds‹, also gemeinsame Anleihen, für die Deutschland natürlich sehr viel wichtiger wäre als Zypern und Griechenland, den Deutschen schmackhaft zu machen. Ein anderes Mal sollte ein sogenanntes ›Save Asset‹ kreiert werden, um die Dominanz der Bundesanleihen auf dem Markt für Staatsanleihen zu beseitigen. Im Kern geht es immer um das französischen Anliegen, Deutschland politisch an die Leine zu nehmen und finanziell dafür haften zu lassen.

Dies ist der französische Traum:

Ein Deutschland, das sich politisch aufgibt und mit seinem Bruttosozialprodukt ganz und gar der europäischen Integration unter französischer Führung zur Verfügung stellt. Diesem Ziel ist Macron deshalb ein gutes Stück näher gekommen, weil die Kanzlerin eine ihrer vielen Volten geschlagen hat. Schon bei der Griechenlandhilfe war sie wider Erwarten auf einmal spendenfreudig und zeigte Engelsgeduld mit den Griechen. Ähnlich ging es beim europäischen Rettungsfonds EFSF/ESM, den sie nach drei Jahren wieder aufzulösen versprochen hatte. Nun steht er nicht nur auf Dauer gezimmert da, sondern sucht sich permanent neue Aufgaben im Sinne eines europäischen Schatzamtes. Ganz zu schweigen von der europäischen Bankenunion, bei der Deutschland die Aufsicht über inländische Bankkreditinstitute aufgibt, aber für ausländische Kreditinstitute, die es nicht beaufsichtigen kann, im Rahmen des Abwicklungsfonds mithaftet.

Mit dem sogenannten Wiederaufbaufonds soll nun das Prinzip französischer Politik, zu herrschen und dabei Deutschland in Haftung zu nehmen, zur Vollendung gebracht werden. Der Preis, den Deutschland für diese neue Merkel-Volte zahlt, ist nicht nur finanziell denkbar hoch. Denn bei der dreißig Jahre währenden Rückführung einer Gemeinschaftsanleihe ab 2028 ist kaum damit zu rechnen, dass jedes der EU-Länder auf Dauer sein Scherflein entrichten wird. Vielmehr würden die Märkte ein solches Risiko nur querschreiben, wenn die großen Länder – darunter natürlich Deutschland – ihre unbeschränkte Haftungsbereitschaft signalisieren.

Aber auch strategisch ist der von Merkel gewagte Schritt für die Phalanx deutscher Ordnungspolitik eine Katastrophe. Stand Deutschland bislang stets mit Schweden, Österreich, Dänemark, Finnland in einer Reihe, um französische Umverteilungspläne, die imperial und im Namen Europas vorgetragen wurden, zu verhindern, so sind die sparsamen Vier nun auf sich alleine gestellt. Doch könnte der Unmut über das deutsch-französische Kondominium, das im Grunde genommen eine kaschierte französische Hegemonie darstellt, nicht nur bei den sparsamen Vier politisch in Widerstand umschlagen. Auch Tschechien und Polen sowie die Ungarn ganz zu schweigen von den baltischen Staaten dürften dem eigentlichen Anliegen der Europäischen Kommission, eine fiskalische Zentralgewalt zu Lasten der nationalen Demokratien zu erlangen, skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen.

Erstaunlich ist indessen, dass das politische Establishment Deutschlands und Frankreichs sowie die sie tragenden Staatsmedien neben der Übertragung der Ferienbilder aus Meseberg kein kritisches Wort über den Antagonismus zwischen wachsender Brüsseler Fiskalzentralgewalt und nationalen Demokratien verlieren. Die ›sparsamen Vier‹ werden wie Störenfriede behandelt, die im Grunde genommen den schon eingeleiteten Prozess der fiskalischen Zentralisierung nur zeitlich aufschieben und inhaltlich abmildern können.

Die deutsche Bundeskanzlerin wiederholt andauernd, dass es für Europa schädlich sei, wenn Deutschland und Frankreich uneinig seien. Die gegenwärtig praktizierte Einigkeit zwischen Paris und Berlin, der permanente Gleichschritt – um nicht zu sagen die Gleichschaltung der deutschen Politik nach französischen Maßgaben – ist langfristig gesehen die größte Bedrohung für einen pluralistischen Staatenbund, der von dem sense of belonging der Völker – dem Zusammengehörigkeitsgefühl – lebt. Von einem Europa, das von Deutschland und Frankreich dominiert und in das Abenteuer einer 750 Milliarden Subsidienwirtschaft gestürzt wird, dürften sich die mittleren Länder wie Österreich, Niederlande, Schweden, Dänemark, Tschechien, Slowakei und auch Portugal langfristig nicht angezogen fühlen. Aber es gibt in den gegenwärtigen Demokratien immer weniger Politiker, die das langfristige fiskalische Selbstbestimmungsrecht ihres Landes für wichtiger erachten als kurzfristige Fiskalgeschenke.