von Ulrich Schödlbauer und Gunter Weißgerber

Auch das Verhängnis macht Fortschritte. Jedem geläufig ist das Bild der tickenden Zeitbombe, die rechtzeitig entschärft werden muss, damit ›wir alle‹ noch einmal davonkommen dürfen, sei es als Kinobesucher, sei es als Börsenanleger oder Rentenbezieher. Die Öffentlichkeit ist an dieses Bild so gewöhnt, dass eine bürgernahe, verantwortungsbewusste Politik in der Regel daran gemessen wird, inwieweit es ihr gelingt, tickende Zeitbomben zu entschärfen oder zumindest den Zeitpunkt der Detonation in die nächste Legislaturperiode oder in die nächste Generation zu verschieben.

Dabei ist der Aufschub nur eine der Formen, in denen das Verhängnis sich naht. Tückischer sind Entscheidungen, die irgendwann fallen und ihre Wirkungen sofort entfalten, ohne dass über den Kreis der direkt Betroffenen hinaus jemand Kenntnis davon erhält. Sie verrätseln den Gang der Welt für alle, die ihm ausgeliefert sind und sich umsonst nach den Gründen fragen. Das ist Stoff für Historiker, die nach intensivem Quellenstudium darüber aufklären, wie es wirklich war, und gern zur Erbauung des Publikums mit liebgewonnenen Vorurteilen aufräumen, die oft nichts anderes sind als der Anschein, den Beteiligte zu ihrer Zeit der Sache zu geben wussten.

Im Kleingedruckten der Geschäftsordnung verborgen bleiben sollten offenbar auch Neuerungen, mit denen sich das Europäische Parlament eine ganz spezielle Waffe im Kampf gegen die Mächte der Finsternis in die Hand gedrückt hat, deren Einsatz zwar Wirkung zeigen, aber am besten unentdeckt und für Uneingeweihte möglichst unentdeckbar bleiben soll. Rule 165 befasst sich zunächst mit Ordnungsrufen, Geldbußen und Sitzungsausschlüssen für Abgeordneten, deren Benehmen nicht im Einklang mit der Würde des Hauses steht. Die ergänzenden Paragraphen hingegen lauten:

  • 5. Der Präsident kann im Fall verleumderischer, rassistischer oder fremdenfeindlicher Äußerungen oder Verhaltensweisen durch ein Mitglied beschließen, die Direktübertragung der Sitzung zu unterbrechen.
  • 6. Der Präsident kann beschließen, die Teile einer Rede eines Mitglieds aus den audiovisuellen Aufzeichnungen der Sitzung zu entfernen, die verleumderische, rassistische oder fremdenfeindliche Äußerungen enthalten.
    Dieser Beschluss wird sofort wirksam. Er muss jedoch vom Präsidium spätestens vier Wochen nachdem der Beschluss gefasst wurde bzw., sofern das Präsidium in diesem Zeitraum nicht zusammentritt, bei dessen nächster Sitzung bestätigt werden.
    (http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+RULES-EP+20170116+RULE-165+DOC+XML+V0//DE&language=DE&navigationBar=YES)

Demnach hat der Parlamentspräsident das Recht, die öffentliche Übertragung von Reden an allen Stellen, an denen der Redner in Sprache und Verhalten beleidigende, rassistische oder fremdenfeindliche Stereotype bedient, unverzüglich zu unterbinden. Die Entscheidung darüber, ob die inkriminierte Entgleisung nicht nur in der Einbildung eines oder mehrerer mehr oder minder aufmerksamer, mehr oder minder empörungsbereiter Zuhörer, sondern tatsächlich vorliegt, obliegt – in der Situation – dem Parlamentspräsidenten und ihm allein.

Das erinnert, wie so manches in der Politik, an den heißgeliebten Fußball, bei dem echte oder vermeintliche Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern noch Jahre später die Gemüter der Fans erhitzen. Ein kleiner Unterschied fällt allerdings auf: Da die Entscheidung des amtierenden Präsidenten zugunsten des »kill switch« (The Telegraph), anders als der Ordnungsruf eines herkömmlichen Parlamentspräsidenten, den Redefluss des Abgeordneten nicht unterbricht, sondern nur den Augen und Ohren der sich über den Fernsehkanal informierenden Bürger entzieht, dürfte nach menschlichem Ermessen schon aus technischen Gründen keine Debatte darüber stattfinden, ob die getroffene Entscheidung klug oder gerecht war, weil es keine Zeugen gibt und selbst die Abgeordneten im Dunkeln tappen, solange der Vorgang nicht vom Präsidium bestätigt wurde – was dauern kann.

Das ist schade, denn das öffentliche Debattieren ist nun einmal der Kern des Parlamentarismus. Man könnte auch sagen, in ihm liegt der Sinn, wenn schon nicht der Zweck der Veranstaltung. Nun, werden sich die Verantwortlichen gedacht haben, der Sinn des Europäischen Parlaments ist so oft in Zweifel gezogen worden, da wird ein weiteres Mal wohl nicht auffallen. Was so nicht stimmt, denn jene Zweifel waren ein Teil der Debatte über die politische Gestalt Europas, diese hingegen, sofern sie nicht gründlich ausgeräumt werden, entwerten die Parlamentsarbeit und damit das Parlament.

Wann soll ein Parlamentspräsident, der einen Abgeordneten jederzeit rügen und des Saales verweisen, überdies, um eine Situation in den Griff zu bekommen, die Sitzung schließen kann, dieses neue Instrument überhaupt sinnvoll zur Anwendung bringen? Und selbst wenn sich eine passende Situation fände: Warum sollte er dies tun? Anders als die Schiedsrichter-Entscheidung, die, einmal getroffen, dem Spiel der Fußball-Götter eine unwiderruflich andere Richtung gibt, unterbricht die Entscheidung des Präsidenten, die Live-Sendung zu unterbrechen, den Abgeordneten nicht in seinen als beleidigend oder rassistisch empfundenen Ausführungen. Sie hindert auch anwesende Kollegen oder Journalisten nicht daran, ihnen zu folgen. Der Präsident könnte ja, statt den Redner zu unterbrechen, sie bei Gefahr für ihre moralische Gesundheit bitten den Saal zu verlassen und etwa die Toiletten aufzusuchen.

Daran scheint nicht gedacht worden zu sein – was im Grunde bereits zeigt, für wie geringfügig die Ansteckungsgefahr garstiger Reden im Parlament realiter gehalten wird, während es umgekehrt Rückschlüsse darauf zulässt, was die gewählten Repräsentanten Europas in Wahrheit von ihren Bürgern halten. Das ist schade, denn die Mündigkeit der Bürger, des ›Wahlvolks‹, ist die – zu Recht oder Unrecht angenommene – Grundlage der parlamentarischen Demokratie.

Leider lässt sich den Regularien nicht entnehmen, ob den Parlamentsrednern, etwa durch ein blinkendes Lämpchen, signalisiert werden soll, wann sie online sind und wann ihre Rede gleich den Abzweig ins Archiv nimmt. Immerhin könnten, je nach Abgeordneten-Temperament, die Folgen ganz unterschiedlich ausfallen: vom wüsten Jetzt-erst-recht bis zum resignierten Hat-ja alles-keinen-Zweck. Auch inszenierte Tumulte sind denkbar, von denen die Welt, sofern sie den Weg ins Archiv scheut, nie erfahren wird. Und wer weiß schon, wie zuverlässig, wenn einmal das Schneiden begann, das Archiv all das verwahrt, was doch wirklich stattfand? Der ausgeschaltete Stream erinnert an Hollywood-Filme, in denen politische Morde just in Momenten elektronisch ausgelöster Verwirrung stattzufinden pflegen. Was, wenn der Präsident, kurzfristig eingenickt, vergisst, den Übertragungsfluss wiederherzustellen? Was, wenn die Parlamentslieblinge mit diesem Instrument zu spielen beginnen, so wie sie immer mit Ordnungsrufen zu spielen wussten?

Ordnungsrufe haben es an sich, dass sie auf offener Bühne ergehen und entsprechend vor aller Augen und Ohren gekontert werden können. Das digitale Instrument hingegen, unsichtbar, unhörbar, von manchen gewusst, von manchen geahnt, von der Menge, sei es der Abgeordneten, sei es der Zuschauer, zum Tatzeitpunkt weder gewusst noch geahnt, womöglich nicht einmal in Erwägung gezogen, leistet seine Dienste nicht dem parlamentarischen Umgang, sondern denen, die klammheimlich darüber entscheiden, was davon an die Öffentlichkeit dringen soll. Das ist ein Skandal.

Europas Bürger, wenn sie denn solche sind, haben ein Recht darauf zu erfahren, welche Reden in ihrem Parlament gehalten werden. Sie haben ein Recht darauf zu erfahren, wer unter ihren Gewählten sich zu welchen Entgleisungen hinreißen lässt. Sie haben ein Recht darauf, den öffentlichen Auftritten beizuwohnen, bei denen die eine oder andere Maske fällt. Sie haben ein Recht darauf zu sehen und zu hören, welchem Abgeordneten bei welcher Gelegenheit aus welchem Anlass das Wort entzogen wird. Sie haben ein Recht darauf, über ihre Angelegenheiten so unterrichtet zu werden, wie es dem Stand der Technik entspricht. Alles andere wäre Scharade – so als führen die Abgeordneten in Kutschen vor, um sich hinter verschlossenen Türen in Sprechkabinen zu begeben, um in einer digitalen Simulation, genannt Parlament, den Leuten draußen den Disput der Demokraten vorzugaukeln. Wird ihnen dieses Recht genommen und durch ein vermeintliches Recht ersetzt, sich aus edlen Motiven täuschen zu lassen und verschwiegene Manipulation als Instrument geistig-moralischer Gesundheitspflege gutzuheißen, so wird man nicht verhindern können, dass sie sich ihrerseits das Recht nehmen, das verbleibende Spektakel abzulehnen – aus innerster demokratischer Überzeugung und einem wundersamen, nicht ganz realitätskonformen, aber nachhaltigen Verlangen nach Integrität.

Wie man liest, haben, immerhin, verschiedene Abgeordnete gegen das Verfahren Bedenken geäußert, da die Tatbestände, die das Abschalten rechtfertigen sollen, ›nicht eindeutig definiert‹ seien. Was ist rassistisch? Was ist fremdenfeindlich? Die Fragen stellen heißt die Erinnerung an die grimmigen Diskussionen heraufbeschwören, die um sie geführt wurden. Was die streitenden Parteien entzweit, sind aber nicht Definitionen, sondern Wertungen: ein kleiner Unterschied, der einigen Werteträgern in den Parlamenten nicht recht geläufig zu sein scheint. Wer sich zu Unrecht als Rassist angegriffen fühlt, stellt in der Regel nicht den Begriff in Frage, sondern die Zuschreibung. Ebenso streitet, wer sich durch rassistische Äußerungen diffamiert sieht, eher selten über Definitionen: er zielt auf das Menschenbild, das vorzugsweise über gewisse belastete Wörter bedient wird, und die dahinter zu vermutende Praxis. Das bedeutet fast zwangsläufig: Politische Gegnerschaft schärft das Sensorium, Parteifreundschaft schläfert es ein. Ginge es nur darum, die eindeutigen Fälle auszusondern, dann könnte man die Arbeit getrost einem Parlaments-Algorithmus überlassen.

Vollends grotesk wird es, wenn einem Parlamentspräsidenten angetragen wird, Äußerungen zu bewerten – und auszusondern –, die noch gar nicht gefallen sind. Über diese Brücke zieht die Figur des Gefährders, die Kriminalisten vor Ort noch immer Kopfzerbrechen bereitet, ins Parlament ein. Nicht grundlos wählten eine Reihe von Presseorganen ein Bild des UKIP-Stars und Brexit-Betreibers Nigel Farage, um die Nachricht zu illlustrieren. Man kann sich die geistig-moralischen Spannkräfte vorstellen, die einem Sitzungspräsidenten zuwachsen, sobald ein subversionsverdächtiger Abgeordneter das Pult betritt. Da weiß man doch, was es heißt, den Finger am Drücker zu haben.

Aber, so erfährt der staunende Europäer, dahinter verbirgt sich, recht bedacht, bloß ein technisches Problem. Der Livestream, so er denn einer ist, hat die Eigenschaft, live, also ohne zeitlichen Verzug gesendet zu werden. Eine kleine Verzögerung, eine kleine zeitliche Versetzung könnte dem Präsidenten Gelegenheit verschaffen, den vollzogenen Bruch mit der parlamentarischen Konvention aus der Welt zu schaffen. Live wäre dann, wie in der DDR-Satire »Das Land aller Übel« von Thomas Körner nachzulesen, nicht mehr live, sondern »LIVE – in Vorbereitung« und »LIVE – sendebereit«, eventuell angereichert mit ein wenig Archivmaterial, um den faden Geschmack des Wirklichen nachzubessern.

Auch ohne schwarzen Humor: Wie soll das gehen? Bei fortlaufender Sitzung? Bei fortlaufender Rede? Bei fortlaufender Aufnahme? Möglich ist alles. Möglich auch, dass künftig – aus verständlichen Entlastungsgründen – eine unsichtbare, von keiner parlamentarischen Regel autorisierte Hand ins Spiel kommt, deren Entscheidungen, wir lasen es, nicht revidierbar sein werden. Aber natürlich kann man auch nach der Sitzung senden und vor den Schnitt die reifliche Überlegung setzen. Dann wäre es allerdings klug, sie nicht dem Präsidenten allein zu überlassen. Wem dann? Wir schlagen vor: den Wählern.

Jeder Staat der Europäischen Union verfügt über eine eigene Parlamentsgeschichte. Die Deutschen sollten, was ihre angeht, ein Elephantengedächtnis besitzen. Es waren Sozialdemokraten, die im Parlament des Kaisers (»Dem Deutschen Volke«) das Recht auf freie Rede in Anspruch nahmen, während draußen bereits die Polizei auf sie wartete. Es waren Sozialdemokraten, denen die Redefreiheit im Parlament über alle anderen bürgerlichen Freiheiten ging. Es wäre ihnen sicher merkwürdig vorgekommen, unter der Ägide eines der ihren den ›kill switch‹ für Abgeordnete beschlossen zu sehen. Es war, an dieser Stelle nicht zu vergessen, der sozialdemokratische Abgeordnete Otto Wels, der 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz im Parlament die Stimme erhob ... für uns Nachgeborene eine Heldentat, für Hitler und Goebbels mit Sicherheit reinster hate speech. Aber lassen wir das. Abgeordnete sind die gewählten Repräsentanten des Volkes, das Parlament ist der verfassungsrechtlich geschützte Raum, in dem sie tun, wozu sie gewählt und entsandt wurden. Was da in Straßburg oder Brüssel hinter dem Rücken des Wahlvolks eingeschlagen wurde, zählt zu den reichlich vorhandenen Sargnägeln des vereinten Europa und der Parlamentarischen Demokratie. Es erscheint fast unbegreiflich, dass gestandene Politiker darüber hinwegsehen und -gehen können.

Die einfacheren Gemüter unter ihnen wissen Bescheid: Es geht um Hassrede und die muss weg. Hass ist ein Affekt, der aus sehr unterschiedlichen Anlässen entsteht. Man kann ihn zu wecken oder einzudämmen versuchen, er ist nicht schön, er ist kontraproduktiv, er kann gefährlich werden, die Ethik lehrt ihn verachten, aber verbieten lässt er sich nicht. Was gegenwärtig unter dem Tarnnamen ›Hate Speech‹ gehandelt wird, hört in der Geschichte des Parlamentarismus auf viele Bezeichnungen: Propaganda, Brandrede, Schandrede, Hetze, Volksaufwiegelung, Pöbelsprache, Majestätsbeleidigung, Zersetzung, Verrat. Übriggeblieben im rechtlichen Sinn ist der klar umrissene Straftatbestand der Volksverhetzung. ›Hate Speech‹ hingegen, so lesen wir, ist kein juristischer, sondern ein politischer Begriff, ein Kampfbegriff also, der dazu dient, den Gegner herabzusetzen und mundtot zu machen. Lässt man die genannten Bezeichnungen Revue passieren, so begreift man rasch, dass es in der Geschichte fast immer Demokraten waren, deren öffentliche Bekundungen vom politischen Gegner mit dergleichen Ausdrücken bedacht wurden. Das freie Wort wird durch das freie Wort reguliert, nicht durch steckerziehende Präsidenten.

Der Präsident des Europäischen Parlaments kann einem Abgeordneten, der sich im Wort vergreift, das Wort entziehen, er kann ihn in gröberen Fällen des Saales verweisen – Martin Schulz hat es getan und es hat genügt. Diesem Parlament stehen, falls Europa beisammenbleibt, noch stürmischere Zeiten bevor. Die Technologie ist, wie die Psychologie, ein Stock mit zwei Enden: Wer Manipulations-Schnittstellen schafft, sollte sich nicht wundern, wenn irgendwann andere sich ihrer bedienen.

 

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