von Herbert Ammon
I.
Das Gewissen des citoyen hatte in der Karwoche (abgel. von ahdt. karâ = Kummer, Sorge, Trauer, nicht verwandt mit lat. cura) 2012 Grund zur Sorge: Wie hält er´s mit der zu Lyrik formatierten Kurzprosa eines spätbekennenden Endsiegers, des aus Danzig exmittierten, in Gdánsk geehrten Nobelpreisträgers (und Globkult-Autors!) G.G.?
Den Dichter trieb seinerseits das Gewissen, präsumptiv und »mit letzter Tinte« die Feder zu zücken, um vor atomarer Apokalypse in Nahost zu warnen, um Israel – eigentlich gemeint war, so in nichtlyrisch nachgeschobener Selbstinterpretation, Bibi Netanjahu – vor einem präventivem oder präemptivem Erstschlag gegen die mit atomarem Feuer spielenden schiitischen Nachfahren des mächtigen Königs Ahasveros abzuhalten. Nicht bedacht hatte der Dichter, dass der Erstschlag, wenn er denn – entgegen den Warnungen israelischer Militärs – vom Kalkül zum Ratschluss werden sollte, gekonnt, gezielt und nichtnuklear stattfinden soll. Ebensowenig hatte der Lyriker erkannt, dass erst beim nuklearstrategisch womöglich nötigen Zweitschlag die von der Bundesrepublik gesponserten U-Boote – Produkte eines exportorientierten Arbeitsbeschaffungsprogramms – zum Einsatz kommen sollen.
Wie reagiert auf derlei Dichtkunst inmitten allgemeiner Aufregung das Gewissen des citoyen? Zunächst bundesrepublikanisch korrekt: Was ist angesagt? Die Kanzlerin, die sonst immer weiß, was »nicht hilfreich« und was deutsche Staatsräson ist, zieht sich hinter dem Bekenntnis ihres Regierungssprechers zur Freiheit der Kunst »in diesem Lande« zurück. Aus Staatsräson lässt sie den Bürger in seiner unsicheren Gefühlslage allein. Also was? Schäbige Schadenfreude (»Hat´s der alte Moral- und Blechtrommler, vermeintlicher Flakhelfer, nicht längst verdient, dass das Trommelfeuer aus den Feuilletons über ihn hereinbricht.«), risikofreie Parteinahme nach Maßgabe von Henryk M. Broder (»nicht ganz dicht, aber ein Dichter«) oder kühle désinvolture? Was geht’s mich an? Die Dinge sind, wie sie sind. Es wird sich nichts ändern lassen, weder an der aufgeregten Langeweile deutscher Feuilletonisten, noch am ideellen Zustand der postnationalen Nation, noch an der umfassend heillosen Lage in Nahost.
Nein, derlei bequeme Überheblichkeit verbietet sich dem empfindsamen Gewissen. Ja, gewiss doch: Spätestens seit Niklas Luhmann (1927-1998) wissen wir, dass Gewissen, ehedem bekannt als die »Stimme Gottes« im Menschen oder, für aufgeklärte Gemüter, der kategorische Imperativ, immerhin auch noch ableitbar vom gestirnten Himmel über mir, nichts anderes sei als ein funktional nützliches, irgendwie notwendiges soziales Konstrukt, ideeller Lückenfüller im System.
II.
Nochmals nein. Mit derlei existenziell so ernüchternder wie bequemer Funktionsanalyse kam der moralisch bemühte citoyen in der diesjährigen Karwoche nicht davon. Geistig-geistliche Einkehr war geboten, die Früh- und Sekundärsozialisation, das protestantische Gewissen rief den Karfreitagschristen in die Kirche.
Quälende Frage: in welche? Er versucht´s in der zweitnächstgelegenen.
Im Rollenspiel zweier Frauen vernimmt er am hinteren Rande einer überschaubaren Schar von ergrauten Frommen die unfrohe Botschaft zum »höchsten christlichen Feiertag«, als welchen eingangs die Pastorin in protestantischer Selbstgewissheit den Karfreitag deklariert. Dass im Raum der »heiligen, allgemeinen, christlichen Kiche« – so der in älterer Version (»niedergefahren zur Hölle«) hinter dem Altar die Innenfront des Kirchenschiffes zierende Text des Credo – die österliche Auferstehung des Gekreuzigten als höchstes Fest der Christenheit begangen wird, spielt im Bewusstsein sünden- und schuldbewusster Protestanten keine Rolle.
In der verknappten Karfreitagsliturgie ragt das Responsorium hervor – die Lesung des 22. Psalms, »Ein Psalm Davids, vorzusingen nach der Weise ›Die Hirschkuh, die früh gejagt wird‹.« Die im zweiten Vers ausgesprochene Klage des Psalmisten (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«) korrespondiert mit den Worten Jesu am Kreuz (Eli, eli, lama asabthani), wie sie im Text des Matthäus-Evangeliums (Matth. 27, 46) - dem vorgesehenen Predigttext – sowie bei Markus 15, 34 hebräisch und in Übersetzung zitiert sind.
Der Gottesdienstbesucher findet den im Wechsel zwischen Liturg und Gemeinde zu sprechenden Psalm auf einem gesondert kopierten Textblatt, wenngleich der Text (mutmaßlich) auch im Gesangbuch zu finden wäre. Der Grund der umweltpolitisch bedenklichen Papiervorlage erschließt sich aus den eingerückten Anweisungen zur Rezitation. Den einen Vers liest Eine (kursiv geschrieben), den folgenden »Alle« (nichtkursiv). Aha, die Pastorin nimmt sich eingedenk der von Luther proklamierten Priester(Innen)schaft gänzlich zurück und reiht sich bescheiden ein unter »Alle« (gemeint ist vermutlich die überschaubare Gemeinde) – wäre da nicht der dezente Kursivdruck für die Eine.
Eine Bagatelle. Auf die Predigt kommt es an. Zu erwarten sind Ausführungen zur Thematik Leiden, Todesnot und Opfertod des Gottessohnes sowie zu Paradigmen menschlicher Existenz. Zum Vortrag kommt vornehmlich die Rezeptionsgeschichte des David zugeschriebenen Psalms. Für den schriftgläubigen Reformator Luther fanden die Worte des Psalmverses aus dem Munde Christi am Kreuz ihre Offenbarung und Erfüllung. Die thematisch gebotene Frage nach der Relevanz der Botschaft von Kreuz und Erlösung im Lichte agnostisch aufgeklärter Diesseitigkeit vermeidet die Pastorin. Vielmehr lenkt sie kulturhistorisch weit zurück: In spätjüdischer Zeit wurden die Worte mit dem Purim-Fest, dem Gedenken zur Errettung der Juden vor Vernichtung im Perserreich, verknüpft. Sie wurden der von Todesangst geplagten Esther in den Mund gelegt, als sie sich ungerufen zu ihrem Gemahl, dem Großkönig Ahasveros (Xerxes) begibt, um den von ihm bereits gebilligten Mordplänen seines Wesirs Haman abzubringen. Dass die Geschichte der Errettung dank Esthers Tapferkeit eine Wendung nimmt, in deren Folge seinerseits Haman an den Galgen kommt und dazu noch eine Unzahl von judenfeindlichen Persern umgebracht werden, erfährt die Gemeinde aus der Exegese der Pastorin nicht, wohl aber, dass Else Lasker-Schüler sich im Gedicht als Esther imaginierte.
Dann gelangt die Predigt zum aktualisierenden Höhepunkt: Empörung über das »in einer deutschen Zeitung« tatsächlich und in der Zeit immerhin fast veröffentlichte Poem des Günter Grass. Ein, richtig, »mit letzter Tinte« verfasstes antisemitisches Machwerk (gr. poíema = Machwerk; Gedicht) eines alten Mannes, der darin seinen geistigen Urgrund als jugendlicher SS-Angehöriger zum Vorschein brachte. Die Botschaft zum Karfreitag ist jetzt klar: Für den dereinst zum Protestantismus übergetretenen Ex-Katholiken und Agnostiker Grass gibt es sowenig Hoffnung auf Gnade wie bei Matthäus für die mitgekreuzigten Mörder.
III.
Karsamstagabend bewegt die von der Lautten Compagney Berlin, der Capella Angelica, dem Kammerchor der Singakademie zu Berlin samt vier Solisten (m/w) getragene Aufführung der Bachschen Johannes-Passion in der bis zum letzten Platz besetzten Gethsemanekirche die Sinne – zeitlos ungeachtet aller barocken Zeitgebundenheit, inspiriert von anderem Ernst als der von Grass-Verdammnis geprägte Vortrag zum Karfreitag. Geistig-geistliche Befreiung vom Zwang des Alltags und von politischer Stellungnahme vermitttelt am Ostermorgen der Gottesdienst in der gleichfalls bis in die Empore besetzten Zehlendorfer Pauluskirche. Er wird eingeleitet von dem an das Weihnachtsoratorium angelehnten Jubel der Trompeten, er ist liturgisch gegliedert und umrahmt von Bachs selten dargebotenen Osteroratorium.
Die tagespolitische Ernüchterung folgt auf dem Fuße, im zufälligen Gespräch mit der Nachbarin, als Doppelstaatsbürgerin (IL/D) politisch doppelt engagiert. Nach wenigen Worten der Begrüßung kommt die Rede auf den Dichter Grass, auf Ahmadinejad, auf Israel, das selbst noch nie mit der Atombombe gedroht habe, obwohl es sie seit 40 Jahren besitze (wenn es sie denn besitze). Sodann, da ich gesprächsweise meine österlichen Bach-Erlebnisse erwähnt hatte, geht es um den christlichen Antijudaismus (= Antisemitismus) im allgemeinen, um den von Luther bis zu den Passionsoratorien im besonderen. Behutsam relativierende, historisch präzisierende Einwände – mit dem Johannes-Evangelium habe es eine besondere Bewandtnis, der Antijudaismus habe im Protestantismus bis ins aufgeklärt-liberale 19. Jahrhundert hinein keine Rolle gespielt und dergl.– kommen nicht recht zur Geltung. Zur Erläuterung bringe ich Lagarde, Gobineau, Houston Stewart Chamberlain, Bayreuth ins Spiel, dann wechselt das Thema zur Kontroverse um die im Berliner Dom zur Aufführung gebrachte, ›bereinigte‹ Johannes-Passion. Dass dabei nicht nur Gedichte von Else Lasker-Schüler und Paul Celan eingefügt wurden, sondern in alles umschlingender Ökumene auch ein hinduistischer Text, fand in den Berichten über den Passions-Streit immerhin Erwähnung.
Am Montagmorgen führt der Osterspaziergang eher zufällig in ein Café. Bereits im Aufbruch begriffen, begrüßt uns eine frühere Studentin, Perserin, liberal geprägt und entschiedene Gegnerin des Mullah-Regimes. Die Aufregung um Grass, der Inhalt, nicht die Qualität seiner Friedenslyrik, hat auch sie ergriffen. Der habe doch völlig recht, er habe den Mut auszusprechen, was sonst keiner zu sagen wage. Zum Glück für den in Gewissensnöten befangenen citoyen vertagt man die vertiefende Aussprache über das heiße Thema auf ein späteres Treffen.
IV.
In summa: eine politreligiös leidensvoll grundierte Karwoche, gefolgt von emotionalen Erhebungen und Erschütterungen an den Ostertagen. Inzwischen dominieren wieder die Leiden des Alltags: FAZ-Morgenlektüre, die politisch korrekten Stimmen aus dem Internet: welt-online, Spiegel-online, gelegentlich taz-online, Zentralorgan ›linker‹ Selbstgenügsamkeit.
Immerhin, ein paar Dinge wurden in diesen österlichen Tagen wieder einmal klar: 1) Grass muss um sein politisches Seelenheil bangen, auch wenn ihm inzwischen ein paar Nothelfer beigesprungen sind – die Ostermarschierer, ein unbekannter SPD-Landtagsabgeordneter, dazu Egon Bahr, nicht zu vergessen Uri Avneri. 2) Mit dem Pazifismus deutscher Protestanten ist es nicht weit her, schon gar nicht, wenn es um Israel geht. Selbst ein Präventivschlag – militärischer Erfolg vorausgesetzt – ginge in Ordnung. 3) In der säkularen und ›pluralistischen‹ Gesellschaft erfüllt der EKD-Protestantismus kaum mehr denn eine legitimatorishe Hilfsfunktion der Zivilreligion. 4) Religion und Zivilreligion sind heutzutage nahezu ununterscheidbar. 5) Politische Dogmen sind im »Konsens der Demokraten« vor Kritik besser geschützt als ehedem die der Religion.
Es bleiben bedrängende Fragen zum Schluss: Wer hilft dem gepeinigten citoyen aus seinen Seelennöten? Wo findet sein Gewissen Ruhe vor den Forderungen der Zivilreligion? Wo findet seine Seele einen behaglicheren Platz als im kalten Raum der politischen Realitäten?