von Herbert Ammon
I
Politik spielt sich auf verschiedenen Ebenen, Schauplätzen und Lokalitäten ab: in den Medien, im Parlament, in illustren Zirkeln und in Netzwerken – den realen oder projektiven Entstehungsorten von Verschwörungstheorien –, in den Universitäten, in den Schulen, neuerdings auch in den Kitas, in den Kirchen, auf der Straße und vor Gericht. Was die Straße betrifft, so werden die nächsten Wochen und Monate zeigen, ob die seit Mitte Januar – im Gefolge der Aufregung um ein ›Geheimtreffen‹ von AfDlern und der ›Werteunion‹ zugehörigen CDU-Mitgliedern in Potsdam – allerorts inszenierten Demonstrationen ›gegen rechts‹ bis zu den EU-Wahlen im Juni sowie zu den Landtagswahlen im September unvermindert anhalten.
Den Parolen nach geht es um die Verteidigung der Demokratie und der offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde, d.h. gegen die rechts bis weit rechts von der CDU/CSU angesiedelte AfD. Ihr Überleben als politischer Störfaktor verdankt sie der ›Flüchtlingskrise‹ 2015 im Gefolge der von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel verfügten Grenzöffnung. Ihr Aufstieg zu einem Machtfaktor im politischen System ist dem unverminderten Zustrom von Migranten zuzuschreiben, von denen die wenigsten Anspruch oder Aussicht auf Asyl gemäß Art. 16a GG haben.
Seit Jahren wird in der Bundesrepublik eine fruchtlose Debatte über das Thema ›Migration‹, über die Belastbarkeit der Sozialsysteme und – mit nachlassender Emphase - über ›Integration‹ der ›Zugewanderten‹ geführt. Bis auf eine lautstarke Minderheit von Aktivisten (No nations! No borders!) sind sich dabei fast alle – selbst diejenigen, die eine „Obergrenze“ ablehnen – einig, dass ›wir nicht alle aufnehmen können‹. Nichtsdestoweniger hat sich am Faktum der massiven illegalen Einwanderung, befördert von allerlei Hilfsorganisationen, seit dem ›Krisenjahr‹ 2015 nichts geändert .Abgeschoben wird – entgegen aller Rhetorik der Regierenden, obenan Bundeskanzler Scholz – von Hunderttausenden Migranten ohne Aufenthaltsrecht - fast niemand. Allein im Jahr 2023 kamen wieder weit über 300 000 Asylbewerber ins Land. Dank derlei Fakten konnte sich die AfD – laut Meinungsumfragen bis dato kaum beeinträchtigt von der breit angelegten Kampagne ›gegen rechts‹ – als zweitstärkste Partei in der Bundesrepublik etablieren.
Die prognostizierten Wahlerfolge signalisieren nicht nur den dramatischen Machtverlust der Sozialdemokraten und der den medialen Diskurs beherrschenden Grünen. Sie stellen das alte Parteiensystem in einigen Bundesländern – und den parteipolitisch verfassten ordre établi im ganzen Land – in Frage. Politisch bedeutsamer als die vielen Demonstrationen gegen AfD erscheint daher die Auseinandersetzung, die auf der juristischen Bühne stattfindet.
II
Angestoßen wurde der Prozess vor dem OVG Münster von der AfD Partei selbst, nachdem der von Kanzlerin Merkel anno 2018 – als Nachfolger des konservativen Hans-Georg Maaßen – zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) berufene Thomas Haldenwang (CDU) die Partei 2021 als ›rechtsextremistischen Verdachtsfall‹ bezeichnet hatte. Parallel dazu stuften die Verfassungsschutzämter mehrerer Bundesländer die AfD – und insbesondere die ›Junge Alternative‹ – auf ihrer politischen Negativskala als ›gesichert rechtsextremistisch‹ ein.
Gegen die vom BfV verfügte Indikation als undemokratischer Verdachtsfall wehrt sich die AfD – nach einer Niederlage vor dem Verwaltungsgericht Köln – mit einer Flut von Anträgen vor dem Oberverwaltungsgericht Münster. Der Ausgang des Verfahrens ist ungewiss. So oder so birgt der Prozess enorme Brisanz.
Der von von der Partei bestrittene Extremismusvorwurf bezieht sich auf das als subversiv bzw. verfassungswidrig befundene Verhältnis der AfD zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dabei geht es um die Interpretation und Gewichtung von Proklamationen von Führungsfiguren wie Bernd Höcke und unterer Parteichargen sowie um die Auswertung von Druckerzeugnissen oder medialen Bekundungen der Partei und deren geistigem Umfeld, obenan das ›Institut für Staatspolitik‹ Schnellroda und die ›Identitäre Bewegung‹.
Die bundesdeutsche Verfassung, in wichtigen Punkten – zuletzt mit der erneuten Ausweitung der deutschen Staatsangehörigkeit – mehrfach geändert, gründet – laut Definition des Bundesverfassungsgerichts im Verbotsverfahren gegen die NPD 2017 – auf drei Prinzipien: Menschenwürde und Rechtsgleichheit, Volkssouveränität, Gewaltentrennung. Lässt man alle anderen Vorwürfe gegen die als ›rechtsextremistisch‹ (oder ›in Teilen rechtsextremistisch‹) unter Verdacht gestellte AfD beiseite, so rückt ins Zentrum der Auseinandersetzung deren Selbstverständnis, genauer: der von ihr propagierte Volksbegriff.
Von Anbeginn verstand sich die – anfangs nur als ›rechtspopulistisch‹ etikettierte – AfD als demokratisches Sprachrohr des von den abgehobenen ›Eliten‹ mit Geringschätzung regierten Volkes. Die Verteidiger der repräsentativen Demokratie hielten mit dem Vorwurf des ›Populismus‹ – Synonym für eine vermeintlich simplistisch und emotionale begründete Vorstellung von Demokratie – dagegen. In der vor dem OVG Münster ausgetragenen Kontroverse über den Charakter der AfD geht es längst nicht mehr um ›Populismus‹. Es geht um die Ausdeutung des im Grundgesetz an mehreren Stellen – obenan in der Präambel in großen Anfangsbuchstaben – invozierten Begriffs ›deutsches Volk‹ – und damit einhergehend um den materiellen Kern der Metaphysik der ›Volkssouveränität‹.
Die Verfassungsschützer werfen der AfD – und der ihr ideologisch zugeordneten Neuen Rechten - vor, einen ›völkischen‹, ehnisch-identitären, mit dem Grundgesetz unvereinbaren Volksbegriff zu verfechten. In ihrer Kritik an der anhaltenden Einwanderung – soeben erfahren wir von einer Werbekampagne des AA in arabischen Ländern – operiere sie mit verfassungswidrigen, nazistisch oder rassistisch eingefärbten Schlagworten wie ›Umvolkung‹ und verbreite die Verschwörungstheorie von dem angeblich von globalistischen Eliten vorangetriebenen ›großen Austausch‹ – eine Begriffsübernahme aus dem Arsenal der französischen extrême droite. Mit ihrer ethnozentrischen Polemik, allgemein mit ihrem auf Abstammung gegründeten Volksbegriff verletze die Partei den universalistischen Geist des – als Absage an die Nazi-Ideologie – formulierten Grundgesetzes.
Die Verfassungsschützer und ihre links-progressiven Stichwortgeber beanspruchen eine – von Geschichte und Kultur losgelöste, ›moderne‹ Interpretation des Subjekts der res publica. Mit der Brandmarkung als ›ethnisch/ethnizistisch‹, ›völkisch‹ oder gar ›rassistisch‹ wird das – nicht nur von der AfD geforderte – Festhalten an einem historisch-kulturellen Volksbegriff und Kritik an einer vermeintlich eindeutigen, postnationalen Definition von Demokratie von vornherein abgewiesen. Das als Subjekt eines modernen, demokratischen Staatswesens ausgewiesene ›Volk‹ – konstituiere sich von Mal zu Mal durch von allen Staatsbürgern ausgeübte Wahlakte. Die Zugehörigkeit zum ›Volk‹ gründe allein in der Staatsbürgerschaft.
Die AfD wehrt sich gegen den mit ›Rassismus‹ begründeten Extremismusverdacht mit dem Verweis auf ihr Programm, wo als ›deutsches Volk‹ alle Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft benannt sind. Zur Widerlegung des vom Verfassungsschutz behaupteten Ethnizismus und/oder Rassismus hat sie zudem vor dem OVG Münster mehrere Mitglieder mit migrantischer Herkunft als Zeugen aufgeboten.
III
Im Folgenden geht es nicht um Parteinahme pro/contra AfD, sondern um kritische Präzisierung des dem Grundgesetz zugrundeliegenden Begriffs. Das semantische Verdikt über den ›rechten‹ Begriff ›deutsches Volk‹ basiert auf einem von seinen Autoren überspielten Widerspruch: Als Letztbegründung für die Verfassungswidrigkeit des vermeintlich ›ethnisch‹ reduzierten Volksbegriffs dient stets das Verbrechensregime des Nationalsozialismus, d.h. der für Deutsche, genauer: für die heutigen und künftigen Nachfahren des mit dem Nazismus historisch belasteten deutschen Volkes, verpflichtende Bezug auf die deutsche Geschichte.
Der von links-progressiver Seite propagierte, politische beliebige Volksbegriff ist nicht nur ahistorisch, sondern zielt evident am Selbstbewusstsein der ›neuen Deutschen‹ vorbei. Die Veränderung der Gesellschaft im Zeichen von ›Multikultur‹ und/oder unter den – in sich widersprüchlichen Leitbildern von ›Vielfalt‹ hier und ›Identität‹ dort (diversity vs. identity) – führt entgegen aller Intention dazu, dass in der ›demokratisch‹ deklarierten politischen Sozialisation der NS-Bezug an Relevanz verliert. Sichtbar und lautstark hörbar wurde diese Negativkonsequenz für das am Gegenbild des Nazi-Regimes orientierte nationale – zugleich postnationale – Selbstbild der Bundesrepublik in den antiisraelischen – und antisemitischen – Parolen (›Free Palestine From German Guilt‹) auf den Demonstrationen im Gefolge des Gaza-Krieges.
Mit Betroffenheitsritualen ist den in den europäischen Einwanderungsländern aufgeflammten ethnisch-nationalen Konflikten nicht beizukommen. Kurden, Türken, Araber, jüngst auch Eritreer- denken mehrheitlich gar nicht daran, sich hierzulande in unsere postnationale Demokratie – mit einer spezifisch nationalgeschichtlicher Gedenkkultur – zu ›integrieren‹. Sie halten an ihren eigenen ethnisch-nationalen und religiös-kulturellen Identitäten fest. Sie agieren inmitten der Multikultur (›bunt statt braun‹) und ungeachtet aller interkulturellen Bildungsbestrebungen politisch als Völker in eigener Sache.
Die Widersprüchlichkeit des gegenüber dem ›rechten‹ Nationalismus behaupteten ›modernen‹ post- und antinationalen ›demokratischen‹ Volksbegriffs tritt zudem nicht nur in dem von links-progressiver Seite stets propagierten Eintreten für die Belange unterdrückter Völker und/oder Indigenen hervor.
Wer sind wir? Wer ist das Volk? Noch immer nimmt die Erinnerung an den 20. Juli und das Vermächtnis des Kreisauer Kreises in den Gedenkriten der Bundesrepublik einen hohen Rang ein. Es bleibt zunächst zu fragen, inwieweit derlei Gedenken überhaupt noch zum ›modernen‹, ahistorischen Selbstbild der als Staatsziel proklamierten ›modernen Einwanderungsgesellschaft‹ passt. In dem im August 1943 von den ›Kreisauern‹ verabschiedeten Verfassungsentwurf lautetet Grundsatz 7: »Die besondere Verantwortung und Treue, die jeder Einzelne seinem nationalen Ursprung, seiner Sprache, der geistigen und geschichtlichen Überlieferung seines Volkes schuldet, muss geachtet und geschützt werden.« Im Sinne der Umdeutung eines historisch-kulturellen Volksbegriffs zu einem ›ethnischen‹ Abstammungsmythos hätte der zitierte Passus heute als verfassungsfeindlich zu gelten.
Ein Blick auf die jüngere politische Gegenwart genügt, um die Unhaltbarkeit des von den universalistisch-progressiven Demokratie-Interpreten als einzig zulässig verfochtenen Begriffs zu demonstrieren: Die nach dem Mauerfall auf den Montagsdemonstrationen proklamierte – von vielen ›antinationalen‹ Westdeutschen mit Widerwillen vernommene – Parole Wir sind ein Volk! eröffnete und forcierte 1989/90 den Weg zu der im Grundgesetz als Staatsziel definierten Wiedergewinnung der deutschen Einheit. Zeitlich parallel nutzten die Völker des Baltikums, die Georgier und nicht zuletzt die Ukrainer die Krise des Sowjetimperiums zur Erringung ihrer staatlichen Unabhängigkeit. Die Litauer, Letten, Esten, Moldavier, Ukrainer und Georgier – und vergeblich die Tschetschenen – agierten als Völker mit ethnisch-nationalen Traditionen, nicht als postnationale Bürgerinnen und Bürger der Staaten (Sowjetrepubliken) in den von den Sowjets definierten Grenzen.
IV
Conclusio: Bei der als vermeintlich verfassungsgemäßen Separation und Unterscheidung von ethnos und dêmos. handelt es sich um eine falsche Antithese. Gleichwohl besitzt sie im Hinblick auf die demografische Entwicklung Deutschlands (und anderer Länder Westeuropas) sowie im Hinblick auf die tabuisierte ›Leitkultur‹ einer demokratischen Gesellschaft theoretische und politisch-praktische Relevanz. Mehr noch, sie birgt hinsichtlich der – allein im ›Kampf gegen rechts‹ beschworenen – Spaltungstendenzen hohe politische Brisanz. Die allerorts – im Gefolge missglückender ›Integration‹ – erkennbaren kulturellen, sozialen und ethischen Bruchlinien verlangen längst nach einer offenen Debatte über die Zukunft ›unserer modernen Einwanderungsgesellschaft‹.
Unabhängig davon, ob man der AfD ein lupenreines demonkratisches Leumundszeugnis auszustellen bereit ist, befinden sich die Verfassungsschützer um Haldenwang sowie die links-grünen ›opinion leaders‹ auf dem Holzweg zu glauben, mit der Perhorreszierung der Partei wegen ihres Festhaltens an einem für obsolet erklärten Volksbegriff seien alle damit zusammenhängenden, bedrängenden Zukunftsfragen aus der Welt zu schaffen. Nicht zufällig – vor dem Hintergrund des für die Demokratie als lebensnotwendig beschworenen gesellschaftlichen ›Zusammenhalts‹ – gewinnt der islamistisch erhobene Zeigefinger des Fußballspielers Antonio Rüdiger an Symbolkraft.
Für die Zukunft des ›deutschen Volkes‹ ist nicht die Hautfarbe entscheidend, wohl aber die religiös-kulturellen – und ethnisch-kulturellen – Bruchlinien. Es ist angebracht, an das vielzitierte Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wilhelm Böckenförde zu erinnern, das für die Lebensfähigkeit der freiheitlichen Demokratie eine gewisse Homogenität und insbesondere ein stets prekärer, kulturell vermittelter Grundkonsens Voraussetzung ist. Der Bannfluch der um das ›Volk‹ – um die Reinheit des postnationalen Begriffs – besorgten Verfassungsschützer träfe posthum auch den als Autorität noch unangefochtenen katholischen Sozialdemokraten.