von Ulrich Schödlbauer
Am Dritten sind wir alle vereint.
Zu dem da fällt mir nichts mehr ein. Keine Sorge, ich werde mich nicht selbst Lügen strafen. Zu den Zuständen, die nur deshalb herrschen, weil niemand sie abstellt, ist aus meiner Sicht vorerst alles gesagt. Ich widerspreche nicht, wenn andere meinen, man müsse alles Gesagte immerfort wiederholen, damit es endlich ins Volk oder in die Psyche der Entscheidungsträger vordringt. Wenn ich mich nicht daran beteilige, dann deshalb, weil auch mich Pflichten binden. Damit wir uns recht verstehen: Das bedeutet keineswegs automatisch, es gäbe hier und heute Besseres zu tun. Ganz sicher bedeutet es das nicht – schon deshalb nicht, weil das da einschließt, dass nichts Besseres bleibt, gleichgültig, ob zu tun oder zu lassen. Allenfalls der Betrachtung bleibt es erlaubt, verstohlen auf ein Besseres hinzuweisen, das hinter den Kulissen oder darüber schwebt, ohne dass mit Sicherheit gesagt werden könnte, ob es sich um eine Fata Morgana handelt oder ein Inbild, denn Sicherheit – damit kehre ich auf vertrauten Boden zurück – Sicherheit existiert nirgends. Deutschland zerfällt – die Phrase ist allgegenwärtig. Auch Phrasen können wahr sein.
Man muss, um dem da gerecht zu werden, von anderem reden. Wer heute über dieses Land reden möchte, der sollte zuerst eine kleine Atlantiküberquerung vornehmen und sich in das Land begeben, das die Sprach- und Verhaltenshülsen für das da im industriellen Maßstab produziert. Es sind seine Machtverhältnisse, die für das da verantwortlich zeichnen, seine ideologischen Paroxysmen, seine ›Zustände‹, welche die westliche Welt in steigendem Maße in Atem halten, ohne dass sich angeben ließe, wie die Verantwortung für die hiesigen Zustände so völlig aus diesem Land diffundieren konnte, da sie so offensichtlich nirgendwo verantwortet werden – nicht in Brüssel, nicht in New York, nicht in Davos. Jenes große Land jenseits des Atlantik ist weit davon entfernt, für Zustände irgendwo auf dem Globus Verantwortung zu übernehmen. Es ist sich selbst so sehr das nächste und einzige, dass es eher die Welt zum Austragungsort seiner triple crisis (konstitutionell, institutionell, ökonomisch) bestimmt, als sich um ihr Wohl und Wehe zu bekümmern. Zweifellos zeugt es von politischer Klugheit, wenn ein Staat den schwelenden Bürgerkrieg soweit zu kontrollieren versteht, dass die mit ihm einhergehende Verwüstung auf anderen Kontinenten stattfindet. Das gelingt, wie der Augenschein amerikanischer Städte bezeugt, nicht gerade mit klinischer Präzision, doch verglichen mit dem da mit … sagen wir … mit einer gewissen Bravour.
Es gehört zu den Mysterien des erfolgreichen Wirtschaftens, dass ein Land auch an seiner Selbstdemontage verdient – nun ja, vielleicht nicht gerade das Land, aber doch beträchtliche Teile davon, auch wenn der Hauptgewinn außerhalb seiner Grenzen anfällt. Doch Zerstörung, vor allem intellektuelle, ist monodirektional. Es gibt keine Wiederkehr. Es gibt auch – was dieses Land immer wieder vergisst – kein Abonnement auf Auferstehung. Seit der Einführung des Euro hat dieses Land blendend von der Substanz gelebt und jetzt, da die Rechnungen anfallen, zieht es sich kollektiv zurück –: in eine Zukunft, die seine Elite lange genug im Gesinnungsschrein vor sich hertrug, um sie endlich für bewohnbar, in den Köpfen manch hartgesottener Jünger sogar für wohnlich zu halten. Wie jede Zukunft entsteht auch diese durch Ausschluss von dem und jenem, von Komplexität, wie sie Wirklichkeit nun einmal auszeichnet, schließlich von Menschen, denen nicht zu Kopf will, was gerade mit ihnen geschieht, sowie solchen, die nur zu gut begreifen, was da gerade geschieht. Und so ist dieses Land – nicht über Nacht, nein, nicht über Nacht! – Ausschluss-Land geworden, Land der (einander) Aussortierenden. Die einen setzen auf Technologien, die den Beweis ihrer Tauglichkeit erst noch erbringen müssen, aber ihre disziplinierende Kraft bereits entfalten, die anderen auf kommende Mehrheiten, während die Verrohung des Wirklichen ungebremst weitergeht. Der Tag, an dem das Eigene in die Schaufenster gerollt werden soll, ist auch der Tag, an dem man feststellt: Es ist verschwunden.
Die ›alte‹ Bundesrepublik, eine zu groß geratene Ökonomie auf der Suche nach einer Aufgabe, scheiterte an ihrem Erfolg. Die Ära Merkel wird als die Tragödie des wiedervereinigten Deutschland, die anhängende als Satyrspiel in die Geschichte eingehen. In ein paar Jahrzehnten werden andere Generationen feststellen können, wieviel die Herrschaft eines verfügten Wahns von Europa übrigließ. Dieses Wissen ist den Heutigen versagt. Historiker, die vielleicht gerade geboren werden, werden minutiös die Periode des aus dem Nichts geschöpften Geldes beschreiben, das bereit und entschlossen war, in jede Maske zu schlüpfen und jeden Spuk zu finanzieren, um die eigene Spukhaftigkeit zu verschleiern und seine ubiquitäre Herrschaft noch ins kleinste Glied zu injizieren. Heger des Hegemons werden nichts unversucht lassen, passende Mythen für das augusteische Zeitalter der (Post-)Moderne zu schneidern, dessen Kommunikationsjongleure es verstanden, die in Bedeutungslosigkeit versunkenen Fassaden der alten Republik zu konservieren und damit erfolgreich den Schein des Totalitarismus fernzuhalten. In diesen Darstellungen, immerhin, wird der Außenposten Europa ein bescheidenes Plätzchen beanspruchen dürfen. Die verbliebenen Deutschen aber, präponderant wie eh und je, werden stolz ihr »Mission accomplished« schmettern und ein dröhnendes Da simmer dabei.