von Boris Blaha
Haben Sie in letzter Zeit etwas vom Parlament gehört? Parlament? Wieso? Hatten wir eins? Ach, Sie meinen das, wo diese komische Frau mit den bunten Haaren und den bunten Tüchern sitzt und ein wichtiges Gesicht macht? Ist das nicht eine Folklore-Veranstaltung für Touristen, die den Reichstag besuchen?
Im Mutterland des Parlamentarismus hatte sich das Parlament als Vertretung des Landes seinen bleibenden Rang in mehreren fulminanten Auseinandersetzungen gegen die Versuche der Krone, eine Alleinherrschaft zu etablieren, erkämpft und diesen Rang seither nicht wieder verspielt. In Deutschland lief das anders, lange gab es keines, es gab ja auch kein Deutschland. Der erste nennenswerte Versuch, die Frankfurter Nationalversammlung, scheiterte gleich auf ganzer Linie, fasste zwar einen Beschluss, konnte ihn aber nicht durchsetzen. Das Parlament war, wenn es überhaupt eines gab, eine, wenn es gut lief, fast bedeutungslose Veranstaltung, meist eher ein Element von Hohn und Spott. Schwatz- oder Quasselbude waren noch die harmloseren Bezeichnungen. Wenn Wilhelm II. vom Reichsaffenstall sprach, klopfte sich der schneidige Offizier draußen im Lande begeistert auf die Schenkel und im Stammtischmilieu der Arbeiter dürfte es nicht viel besser gewesen sein. Das Europaparlament ist heute die Entsorgungsanstalt für abgebrannte Politelemente, die zu Hause und erst recht in der freien Wirtschaft keiner mehr gebrauchen kann. Als christlich-humanistisches Haus Europa kann man sie ja nicht verhungern lassen. Da bekommen sie wenigstens ihr Gnadenbrot.
Der Deutsche mag es eben nicht, wenn gesprochen und gestritten wird, schon gar nicht, wenn etwas lange hin und her wogt und zu keiner Entscheidung kommt: Die sollen sich gefälligst einigen. Zwei- oder gar Mehrdeutigkeiten sind nicht sein Metier. Wo die Gewissheiten abhanden kommen, fühlt sich der Deutsche nicht wohl, den politischen Kern der antiken Tragödie versteht er nicht. Anders als verwurzelte regionale Identitäten wie die Sachsen, zeigten sich die Deutschen nur selten renitent und freiheitssüchtig. Der Deutsche hat es lieber klar und deutlich. Er liebt den Befehl, einerlei, worum es sich handelt; Befehl ist Befehl, man handelt man ja nicht selbst, sondern führt nur aus, was andere von einem verlangen. Wenn Mutti sagt, zieht alle eine Maske auf, dann zieht der Deutsche eben eine Maske auf und denunziert jeden als Staatsfeind und Verräter, der nicht sofort gehorcht. Und wehe, die Familien spuren nicht und sondern ihre verdachtsfälligen Kleinkinder im eigenen Haus nicht ordentlich ab, da kommt die Gesundheitspolizei, nimmt die Kleinen in Obhut und bringt ihnen in der passenden Anstalt die richtige Staatsgesinnung bei.
Eigentlich hätte das alles anders werden sollen, nach 45. Die Bundesrepublik sollte ihre innere Unruhe beruhigen, vom deutschen Sonderweg ablassen und eine so normale Demokratie werden, wie die anderen Länder des Westens auch. Auch die DDR nannte sich eine Demokratie, war aber keine, denn, wie man vom Handwerksgesellen Ulbricht, Stalins Mann fürs Grobe, weiß, es muss nach Demokratie aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.
Eine liberal-demokratische Ordnung, das lernt man gewöhnlich schon in der Schule, besteht aus einer Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Judikative und Legislative. Eigentlich dürfte es nicht Gewaltenteilung, sondern müßte Machtgleichgewicht heißen, das amerikanische ›checks and balances‹ klingt angemessener, denn, so Arendt, wo die Gewalt beginnt, endet die Politik. Im Unterschied zu Volksdemokratien kommunistischer Prägung, in denen nur einer herrscht, ist, zumindest soll es in der Theorie so sein, die Macht in liberalen Demokratien auf mehrere Machtfaktoren verteilt, wobei dem Kräftegleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative eine besondere Bedeutung zukommt, weil die Judikative immer zu spät kommt. Wo kein Kläger, da kein Richter und bis Verfahren den gesamten Instanzenweg durchlaufen haben, kann bei der sprichwörtlichen Langsamkeit der Bürokratie viel Wasser den Rhein hinunterlaufen, die normative Kraft des Faktischen.
Man hat sich zu Beginn ja auch redlich bemüht. Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Ludwig Erhardt, später Karl Schiller und Franz-Josef Strauss, Brandt, Schmidt und Wehner waren noch politische Größen, selbst Helmut Kohl, den wir in meiner Jugend dumm und eingebildet, wie wir waren, als Birne verspotteten, erweist sich im Lichte heutiger Figuren als großer Staatsmann. Es gab auch lebendige Auseinandersetzungen, man denke nur an die Ostpolitik, den Paragraphen 218 oder die Nachrüstungsdebatte unter Helmut Schmidt.
Das Verschwinden des Parlaments kündigte sich schleichend an. Anfangs bemerkte man gar nicht, dass eine sozialistisch geprägte Bundeskanzlerin einen, auch bezogen auf die liberale Ordnung, neuen Stil einführte. Man bewunderte ihre unauffällige, stille Art, das gegenüber Schröders Macherattitüde dezentere, moderierende Auftreten und sah nicht so genau hin. Wer sich näher mit der Operationsweise der Moskauer beschäftigt, Stalins Gruppe der Zehn, die schon vor der Kapitulation in die spätere SBZ eingeschleust worden sind, wird auffällige Ähnlichkeiten entdecken.
Gestützt auf eine jahrzehntelange ideologische Unterwanderung der Bundesrepublik begann die finale Ausschaltung des Parlaments 2011, als die Bundeskanzlerin ein Atom-Moratorium verkündete, das nur vom Gesetzgeber hätte beschlossen werden können. Den Staatsrechtlern standen ob dieses ersten klaren Verfassungsbruchs, die Haare zu Berge, aber ihren Unmut konnte man nur in esoterischen Fachzeitschriften lesen. Die Juristen, die als Organ der Rechtspflege besondere Privilegien genießen, pflegten bestenfalls ihr Image oder den eigenen Geldbeutel, aber nicht das Recht. In diesem Moment hätte ein Parlament, das seinen Verfassungsauftrag ernst nimmt, den Versuch seiner eigenen Entmachtung mit einem erfolgreichen Mißtrauensvotum beantworten müssen. Das deutsche Parlament, ohnehin schon parteipolitisch domestiziert, ließ sich seine Kernkompetenz widerstandslos aus der Hand nehmen. Murrte es überhaupt? Ich fürchte, nicht einmal das. Wehret den Anfängen scheint der Deutsche nur für künstlich erzeugte Feindbilder gelten zu lassen. Die wirklichen, die politischen Gefahren bemerkt er gar nicht. Mein persönliches Erweckungserlebnis hatte ich bei Merkels Neujahrsansprache 2014/15, als ganz nebenbei aus einem Versammlungsrecht eine Versammlungsvorschrift wurde. Da wusste man: Frau Merkel hat, wie so viele Sozialisten, ein defizitäres Verhältnis zur Bindung des eigenen Handelns an das Recht, stand für solche doch immer schon der exekutierende Wille über dem Gesetz des Landes. Man hat schließlich weit Größeres im Sinn und erfüllt als eigens Auserwählter wenn schon nicht Gottes, dann wenigstens das Gesetz der (Natur-)Geschichte. Im Kontext der Bedeutung der ›rule of law‹, in die Urteile zahlreicher Generationen eingegangen sind, erwähnte Arendt einen Satz von Adolf Hitler, der gesagt haben soll, er sehne den Tag herbei, an dem es in Deutschland für eine Schande gehalten werde, ein Jurist zu sein.
Der nächste große Schlag erfolgte mit der einsamen Grenzöffnungsentscheidung Mitte 2015 aus humanitären Gründen, wie es genannt wurde. Merke: humanitäre sind Gesinnungs-, keine rechtlichen Gründe. Das Parlament, die Vertretung des Landes hatte zur Öffnung seiner Landesgrenzen schon nichts mehr zu sagen. Der bayerische Löwe brüllte kurz etwas von der ›Herrschaft des Unrechts‹ und verschwand wie stets als Maus im Loch, das bereits fertig geschriebene Gutachten von Bundesverfassungsrichter Di Fabio verschwand mit ihm in der Schublade. Neben der legislativen blieb auch die judikative Gewalt aus dem Spiel. Gewaltenteilung? Machtgleichgewicht? Seither ist Horst Seehofer nur noch ein wandelndes Nichts.
Die endgültige Verabschiedung des Parlaments erfolgte im März 2020, als der Deutsche Bundestag, getrieben von einer bislang beispiellosen medialen Panikwelle bar jeder Besonnenheit eine ›epidemische Lage nationaler Tragweite‹ beschloss, seinen fatalen Irrtum nicht korrigierte und die Macht damit vollständig an die Exekutive abgab, die sich damit inzwischen vollständig verrannt hat. Seither ist zwar die äußere Hülle des Parlaments noch da, die Abgeordneten tragen sich noch brav in die Listen ein, aber seine Macht ist unwiderbringlich dahin, auch das Parlament ist nur noch ein wandelndes Nichts. Während viele die Ergebnisse der aktuellen Kommunalwahlen in NRW kommentieren, als sei die Zeit 1984 stehengeblieben, gerät die liberal-demokratische Machtbalance aus den Fugen, das Haus stürzt gerade ohne eine seiner drei tragenden Wände in sich zusammen. Wir sind wieder da, wo wir eigentlich nicht mehr hinwollten.
Der einzige Hoffnungsschimmer: Wenn das Parlament als Vertretung des Volkes aus dem Spielfeld verschwunden ist, wer vertritt dann das Volk? Wer kontrolliert und begrenzt die Machtgelüste der Exekutive? Wer sorgt dafür, dass bei weitreichenden Entscheidungen Risikofolgenabschätzungen vorgenommen werden? Wer blockiert rechtzeitig überflüssige Maßnahmen, die einen in Friedenszeiten beispiellosen Schaden anrichten? Einer Mainzer Anwältin, die vom bayrischen Verwaltungsgerichtshof die Verhältnismäßigjeit der getroffenen Corona-Maßnahmen überprüfen lässt, wurde jetzt vom bayrischen Gesundheitsministerium mitgeteilt, es gäbe darüber keine Akten. Wurde etwa nach Gefühl entschieden? Nach Tageslaune? Wurden Maßnahmen per Los aus dem Hut gezaubert? Ein Fb-Freund hat es schön formuliert: Wenn sich der ideologische Nebel verzogen hat, wird man beschämt feststellen, welch jämmerlichen Figuren man sein Land anvertraut hat.
Es scheint eine wachsende Zahl ganz normaler Menschen zu geben, die intuitiv verstanden haben, dass sie, wenn sie keine Vertretung mehr haben, selbst sprechen müssen. Zwei Dingen fallen dabei auf. Der bisherige Begriff ›soziale Bewegung‹ passt nicht, die neue Volksbewegung entstammt weder bestimmten Milieus, noch konstituiert sie sich über ein zentrales Anti-, Anti-Atom, Anti-Kapitalismus, gegen-rechts etc. Anders als die bisherigen Bewegungen (ich verweise auf meinen Text: »Die totale Bewegung«) erstrebt diese neue Bewegung weder ein zukünftiges ideales Ziel wie den klimaneutralen Musterstaat, noch möchte sie einen neuen Menschen schaffen. Sie will, weitaus bescheidener, nur die Rückkehr zu den rechtlich geregelten Zuständen, die das Grundgesetz garantieren sollte. Ist dies erreicht, wird sie sich wieder zerstreuen. Sind die Verantwortlichen für die Außerkraftsetzung der Verfassung und die maßlose Schadensanhäufung gerichtlich abgeurteilt und aus dem politischen Spiel entfernt, wird man allerdings fragen müssen, wie man den vorherrschenden Trend zur Negativauslese stoppen und umkehren kann und welche zusätzlichen Sicherungen man in die Verfassung aufnehmen muss, um das Auseinanderbrechen einer mühsam eingerichteten Machtbalance zukünftig zu erschweren.