von Detlef Müller
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Meine Heimatstadt Chemnitz steht seit Ende August als bedrückendes Sinnbild für die Zerrissenheit dieses Landes. Sie, Herr Kollege Gauland, haben gestern gesagt, der innere Frieden in unserem Land sei gefährdet, ein Riss gehe durch unsere Gesellschaft. Aber Sie, die AfD, wollen gar keinen inneren Frieden in unserem Land. Sie reißen diesen Riss und diesen Graben immer weiter auf. Das wird auch heute hier im Plenum wieder deutlich.
Der feige Mord in Chemnitz – an Daniel – kam Ihnen doch ganz recht und hat Ihnen wieder die ersehnte Gelegenheit gegeben, diese innere Zerrissenheit Deutschlands weiter zu verschärfen. Herr Braun, das Einzige, was am 3. September am Rande des Konzerts »Wir sind mehr« stattgefunden hat, wo die Polizei aus Niedersachsen übrigens eingreifen musste, war, als eine Gruppe aus Ihrem oder eher dem rechten Spektrum schnellen Schrittes auf Konzertbesucher zugelaufen ist, dass die Polizei dort lediglich deeskalierend eingegriffen und die beiden Lager getrennt hat. Es kam zu keiner Auseinandersetzung und keinen Ausschreitungen, auch nicht am Trauerort. Was Sie verbreiten, ist Lüge, Hetze, Fake News.
Herr Gauland hat sich gestern auch redlich Mühe gegeben, die Beteiligung von Hooligans und Neonazis an den Chemnitzer Demonstrationen kleinzureden. Ich zitiere: Nur »ein paar aggressive Hohlköpfe, die ›Ausländer raus‹ riefen und den Hitlergruß zeigten«, hätten sich unter den Demonstranten befunden. Wäre es nur so gewesen!
Am Sonntag nach der furchtbaren Tat gab es zunächst – ja – die Zusammenrottung des Mobs aus Neonazis und rechten Fußballhooligans aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen, Bayern und Tschechien, keine angemeldete Demonstration. Zuerst 800, dann 1 000 Menschen. Die Menge ruft Parolen wie ›Kanaken klatschen‹ und ›Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer‹. Die Polizei, die anfangs nur mit 50 Beamten vor Ort war, ist mit der Situation völlig überfordert. Ihre Versuche, den Demonstranten den Weg abzuschneiden, scheitern. Aus der Menge fliegen Bierflaschen. Es gab aus der Demonstration heraus Angriffe auf Polizisten, Migranten, Journalisten und Linke. Menschen wurde nachgestellt, sie wurden verfolgt. Ob man das nun ›Jagdszenen‹ oder ›Hetzjagd‹ nennt, ist für mich völlig nebensächlich; den Menschen, die sich dort in Sicherheit bringen mussten, übrigens auch.
Am Montag dann die Mobilisierung aller rechten Gruppierungen zur Demonstration vor dem Marx-Monument. 6 000 Teilnehmer, das komplette rechte Spektrum: Hooligans, Identitäre Bewegung, Junge Nationaldemokraten, Der dritte Weg, NPD und eben auch die AfD. Sie kamen aus Sachsen, Berlin, Brandenburg, Bayern, Thüringen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen. Ja, auch Chemnitzer Bürger mit Wut, Frust, Sorgen und Trauer waren vor Ort. Es hat die Gefolgsleute der AfD zu keinem Zeitpunkt gestört, dass in der Menge der Hitlergruß mehrfach gezeigt wurde. Bei dem Zusammenschluss ihres sogenannten Trauermarsches am 1. September mit Pro Chemnitz, mit Pegida und Co ist dann endgültig ihre bürgerliche Maske gefallen.
Herr Gauland, Sie haben gestern halbherzig versucht, sich von den Neonazis abzugrenzen. Aber schauen Sie sich doch bitte einmal an, wer in Chemnitz im Kreisvorstand der AfD sitzt, und denken Sie dabei im Hinterkopf an die beiden Stichworte ›NSU‹ und ›Pro Chemnitz‹.
Es hilft nicht, dass man sich biedere Hündchenkrawatten umbindet und behauptet, der Neonazi neben mir geht mich nichts an. In dieser innenpolitischen Debatte ein Wort zu Herrn Bundesinnenminister Seehofer. Meine Heimatstadt Chemnitz hätte in jenen unseligen Tagen die starke Hand des Staates gebraucht. Am Sonntag und Montag waren die Polizeikräfte, denen großer Dank und Anerkennung gebührt, unterbesetzt, deshalb überfordert, unterlegen und eigentlich nur zum Eigenschutz in der Lage. Am Montag waren 591 Polizeikräfte zwischen rund 7 000 Demonstranten. Danach aber, nach ein paar Tagen des sich Sammelns und der Bestandsaufnahme, hätte es eines Wortes, einer klaren Äußerung auch des Bundesinnenministers bedurft.
Die Bürger erwarten, dass der Rechtsstaat im Alltag funktioniert und notfalls auch mit Härte in Erscheinung tritt. Sie erwarten zu Recht, dass Gesetze und Regelungen von allen eingehalten und durchgesetzt und Straftaten konsequent verfolgt werden. Ich habe jahrzehntelang für ein modernes, attraktives, erfolgreiches Chemnitz gearbeitet. Ich, wir werden uns dabei auch nicht unterkriegen lassen. Wir werden dabei immer, wie auch in den letzten Jahren, das Gespräch suchen, zuhören, diskutieren – offen, ohne Verallgemeinerung, ohne das übliche Schwarz-Weiß.
Dazu muss man aber auch bereit sein. Das jedoch, sehr geehrte Damen und Herren von der AfD, ist man sicher nicht im Verein mit Neonazis und rechten Hooligans.
Das hier ist das Grundgesetz, meine Damen und Herren. Lesen Sie es! Schauen Sie rein! Sie können dabei viel lernen: über Menschenwürde, Menschenrechte und demokratische Kultur.
Vielen Dank.
(Rede von Detlef Müller (Chemnitz – SPD) im Deutschen Bundestag – 19. Wahlperiode – 49. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. September 2018)