von Herbert Ammon
I.
In einem Artikel für den Berliner Tagesspiegel beklagen Antje Vollmer und Peter Brandt das Fehlen einer linken Alternative zur seit nunmehr zwölf Jahre anhaltenden »Alternativlosigkeit« in der deutschen Politik. Vom angestrebten Ziel ins Kanzleramt seien die Sozialdemokraten derzeit weit entfernt, und es führe auch kein Weg »der politischen Linken zurück zu gesellschaftlichen Mehrheiten«. Ungeachtet dieser ernüchternden Diagnose fordern Vollmer-Brandt: »Raus aus der Gefangenschaft der Merkel-Politik!« (Der Tagesspiegel vom 5. 6. 2017) .
Zu würdigen sind die Positiva des Artikels. Das gilt obenan für die Reduktion der von den Medien beförderten Umfrage-Euphorie für Martin Schulz auf das – angesichts des Fehlens einer realen Schulz-Alternative zu Merkel in allen relevanten Fragen – politisch realistische Niveau. Hervorzuheben ist ferner die verhaltene Kritik an der – mit wenigen unerwähnten Ausnahmen wie des Tübinger OBs Boris Palmer – kritiklosen sozialdemokratisch-grünen Bejahung der kopflosen ›Flüchtlingspolitik‹ der CDU-Kanzlerin. Dazu hätten jedoch die Konsequenzen oder die – verpassten – Alternativen benannt werden müssen.
Dass die führenden Sozialdemokraten Merkels Einladung an alle Welt – sie selbst wollte sie nach ein paar Tagen plötzlich wieder stornieren (siehe das in den ›Leitmedien‹ weithin ignorierte Buch von Robin Alexander Die Getriebenen) – nicht verantwortungsvoll zurückgewiesen, in der entscheidenden Phase etwa die Koalitionsfrage gestellt haben, hat anno 2015 die Chancen für einen ›Politikwechsel‹ zerstört. Natürlich hätte es angesichts der ideologisch aufgeladenen Stimmungslage unter dem grün-›linken‹ Führungspersonal nicht für einen Koalitionswechsel gereicht – wohl aber für einen Koalitionsbruch und Neuwahlen, welche die AfD gar nicht erst wieder hochgebracht hätten.
Wie aber könnte oder sollte ein derartiger ›Politikwechsel‹, sprich: eine linke Alternative zum ewigen alternativlosen Gleichen unter Merkel und Schäuble heute aussehen? Wie sind ›gesellschaftliche Mehrheiten‹ zu gewinnen? Zunächst einige grundsätzliche Fragen zur Terminologie, in der alle anderen Fragen aufgehoben sind: Was ist heute links? Sodann: Zielt der Begriff auf Wählerstimmen, auf Gramscis Kulturhegemonie oder auf beides? Um die im Politgeschäft handelsüblichen Suggestionen von vornherein zu blockieren, eine Klarstellung: Selbstverständlich geht es zuvörderst um die Bewahrung – und/oder die Gewinnung – von innerem und äußerem Frieden, d.h. um ethisch begründete Politik. Inwiefern der sakroksankte linke Begriff ›Emanzipation‹ darin aufgehoben ist, sei dahingestellt, denn: Geht's um Freiheit, so gälte es heute – da inmitten des vorgeblichen Pluralismus alles ›links‹ zu sein scheint – auch wieder mal nach den Bedingungen von Gedankenfreiheit zu fragen, etwa in concreto bezüglich der Migrations- bzw. Immigrationspolitik in Deutschland und im westlichen Europa...
II.
Es ist leider anzunehmen, dass die große Mehrheit der heutigen Sozialdemokratie von der ›links‹-grünen Begeisterung für den Karneval der Kulturen ergriffen ist und die politischen Folgekosten ignoriert. Immerhin erwähnen Vollmer-Brandt, dass Merkels Öffnung der Einfallstore nach Europa ausschlaggebend für den Brexit war, obgleich die Leitmedien stets auf britische Aversionen gegenüber EU-Europäer abheben. Unerwähnt bleibt die Tatsache, dass durch die unter Grün-Rot 1999 durchgesetzte Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes die Einwanderung von Personen aus Ländern erleichtert, wenn nicht forciert wurde, welche die in den ›Problembezirken‹ der Großstädte bereits in extenso bestehende Integrationsproblematik verschärfen. Längst hat man auf der ›Linken‹ die eigene Polemik vergessen, die sich gegen das angebliche ius sanguinis richtete – ein zielgerichtetes Missverständnis (›rassistisch‹) des real bestehenden Rechtszustandes. Es gab auch schon vor 1999 – nicht allein durch Eheschließung – die Chance zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft. Voraussetzung war nach etwa 9 Jahren Aufenthalt eine Erklärung zur deutschen Kulturzugehörigkeit. Schnee von gestern?
Ach ja, jetzt geht's um ›unsere Werte‹. Inzwischen hätte man längst erkennen müssen, dass die Neuregelung im Hinblick auf das von den Neubürgern erwartete ›Werte‹-Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie – soweit nicht ohnehin ›bildungsferne‹ Analphabeten – geistig wenig abverlangt. Längst hätte man auf der ›Linken‹ sehen müssen, dass aktivistische Gruppen unter den wachsenden communities von Immigranten, weithin aus ihren Herkunftsländern importierte politische Zielvorstellungen verfolgen. Die sog. ›Linke‹-Partei verfügt seit je mit den hiesigen PKK-Kurden über ein kämpferisches Stammpersonal. Gewiss: Man wird zur Beruhigung auf die trotz aller einstigen Geld- und Waffensammlungen für die IRA komplett gelungene Integration der Iren in den USA – das von der Linken so bewunderte wie ungeliebte Modell eines Einwanderungslandes – verweisen. Falsch. Die Protagonisten und P-innen der Migration überziehen – in Kollusion mit deutschen Selbsthassern – die einheimische Bevölkerung (›Biodeutsche‹, ›die schon länger hier Lebenden‹ etc.) mit gezielten Denunziationen. Die Vokabel ›rassistisch‹ trifft immer, auch wenn sie begrifflich verfehlt ist.
III.
Ironischerweise ist Sarah Wagenknecht, ihre Genossen von der Partei Die Linke geistig überragend, eine der wenigen Persönlichkeiten in der deutschen Politik – eben nicht nur auf dem Terrain der Linken –, die das Thema ›Immigration‹ aufgreift und differenziert diskutiert. Sie hat Merkels unverantwortliche Grenzöffnung sowie den sodann als Notbremse erdachten ›Deal‹ mit Erdogan kritisiert, sie spricht von ›Gastrecht‹ und nicht vom ›Menschenrecht auf Einwanderung‹ in die Sozialsysteme. Die Anarcho- und Kirchentagsparole ›Keiner ist illegal‹ kommt nicht aus ihrem Mund. Sie verteidigt auf unzweideutige Weise das Recht auf Asyl bei politischer Verfolgung, nicht als Instrument der Immigration. Es bliebe hinzuzufügen: Unter den weltweiten politischen Umständen, stößt selbst ein derart definiertes Asylrecht an seine Grenzen.
Wagenknecht, orientiert an ›traditionslinker‹ Kapitalismuskritik, benennt den neoliberalen Globalismus als Hauptquelle aller derzeitigen Übel, nicht zuletzt des Migrationsdrucks. Darüber wäre eine nüchterne Debatte zu führen. Was wäre eine nichtprotektionistische Alternative zu den derzeitigen globalen Marktbewegungen? Weiter: Wie gelangen wir in Europa zu einer ›Entwicklung‹, welche die massenhafte Jugendarbeitslosigkeit in den ›Südstaaten‹ sowie in Frankreich beseitigt oder wenigstens mindert?
Vollmer-Brandt nennen die von Merkel und Schäuble betriebene Krisenpolitik mit der ständigen Forderung nach ›Reformen‹ – eine Mischung aus Drohgesten, kontinuierlicher Kreditausweitung und faktischen Schuldenschnitten – als abschreckendes Beispiel, welches Deutschland zur allenthalben ungeliebten Vormacht in EU-Europa gemacht habe. Sie klammern dabei die Vorgeschichte und den Verlauf der betreffenden Krise aus: Unter der rot-grünen Regierung gelangte Griechenland mit fingierten Wirtschaftsdaten in die Eurozone. Danach schwoll der schon vorher beträchtliche Zustrom von EU-Subventionen sowie Bankkrediten (vornehmlich aus Frankreich) weiter an. Die durchaus notwendigen ›Reformen‹ – aufgeblasener Staatsapparat, Steuerprivilegien, fehlende Investitionen im Produktivsektor – blieben vor und nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers in New York aus. Die ›Rettung‹ vor dem im Gefolge der Finanzkrise faktisch unvermeidlichen Staatsbankrott erfolgte unter Maßgabe der EZB, des IWF und der EU.
Merkel, Schäuble etc. agierten innerhalb des von der Euro-Konstruktion, dem – in der Ära Clinton – deregulierten Finanzsystem und der EZB unter Mario Draghi vorgegebenen Handlungsrahmen – sofern man Griechenland nicht zum Ausstieg aus dem Euro und der Rückkehr zur (abzuwertenden) Drachme bewegen wollte. Zur Erinnerung: Tsipras und Varoufakis spielten mit der Hinwendung zu Putin, dem neuen russischen ›Gottseibeiuns‹. Derlei Teufelsspiel war zu verhindern: Westliche Politik und westliche Finanzwirtschaft operierten in Parallelaktion. Was wäre angesichts von derlei ›Zwängen‹ die ›linke‹ Alternative gewesen, außer einer generösen Streichung der griechischen Staatsschulden, die de facto tranchenweise erfolgt ist – und nach den deutschen Wahlen im September 2017 fortgeführt wird?
Inzwischen schädigt die Nullzins-Politik der EZB längst auch in Deutschland die untere Mittelschicht, die, unvertraut mit der Kunst gewinnbringender Anlagen (Aktien, Anleihen, Fonds) materielle Vorsorge mit Spareinlagen und Lebensversicherungen zu treffen gewohnt ist. Wie will ›linke‹ Politik dieser finanzpolitischen Logik entgegenwirken? Eine ›Reichensteuer‹ wird an dem von der EZB unter Draghi in Allianz mit dem IWF unter Christine Lagarde verfolgten Konzept wenig ändern...
Kritikwürdig ist schließlich das nach den Bundestagswahlen am 24. September – mit neuen Anleihekäufen, versteckten Euro-Bonds und ähnlichen Kreditmechanismen – fraglos ins Werk zu setzende Investitions- und Innovationsprogramm des liberalen Emmanuel Macron. In welchen Sektoren soll das konzeptionell neo-keynesianische, aber zinsfreie Programm ansetzen? Wie kann die französische Wirtschaft ohne eine grundlegende Verbesserung des Bildungssystems, last but not least ohne eine wirkungsvolle kulturell-soziale Integration der Banlieue-Bevökerung mobilisiert werden? Zusatzfrage: Wohin gehen sodann – bei angenommenem Wachstum – die Exporte?
IV.
Angesichts des unverminderten Zustroms von Migranten (›Wirtschaftsflüchtlinge‹, siehe meinen Globkult-Aufsatz v. https://www.globkult.de/politik/deutschland/1057-fluechtlingsstroeme-einspruch-gegen-die-leichthaendige-behandlung-eines-schwierigen-themas) stellt sich die Frage nach einer zukunftsträchtigen ›linken‹ Politik für all jene Weltregionen, die in der OECD-Skala als LDC (least developed countries) eingestuft werden. Was Afrika, insbesondere Schwarzafrika, betrifft, so lautet meine Antwort: Ich habe keine. Wo aber findet man auf der Linken überzeugende Antworten auf die Unzahl von Fragen? Nur soviel: Unübersehbar findet in vielen Regionen Afrikas eine von westlichen – und chinesischen – Konzernen betriebene Ausbeutung der Ressourcen statt, z.T. im Zusammenspiel mit den entsetzlichen Praktiken von ›Rebellen‹-Gruppen wie beispielsweise in der Republik Kongo. Allein, es genügt ein Verweis auf die Zustände in einem Lande wie Simbabwe, um das allfällige ›Kolonialismus‹-Argument zu entkräften. An geistiger Schlichtheit nicht zu übertreffen ist der jüngst von Merkel in Kirchentagsdeutsch produzierte Satz: »Wir haben uns an Afrika versündigt.« (Adnote: Im Afrikanischen Viertel zu Berlin-Wedding forciert eine Geschichtsinspektionstruppe derzeit die Umbenennung von Straßennamen. Um Figuren wie Carl Peters ist es nicht schade. Jetzt soll aber auch der Name des als Vorkämpfer gegen die von Arabern betriebenen Sklavenjagden bekannten Afrikaforschers Gustav Nachtigal (1834-1885) zugunsten einer im 17. Jahrhundert zu Zwecken des Sklavenhandels mit den Portugiesen zum Christentum konvertierten, bis dato unbekannten Königin – offenbar eine starke Frau - ausgewechselt werden.)
Die Ursachen für ›Unterentwicklung‹ sowie der nach Europa strebenden Massenmigration sind – abgesehen vom eher deskriptiv als analytisch brauchbaren Push-Pull-Mechanismus – derart komplex, dass alle herumgereichten Konzepte nur als gutgemeint und/oder simplifikatorisch zu bewerten sind – vom neuen ›Marshall-Plan‹ (für Nachkriegseuropa unter gänzlich anderen historisch-politischen Bedingungen konzipiert und umgesetzt) bis zur ›gesteuerten‹ Einwanderung in die hochentwickelten Länder Europas. Soll die Zukunft Afrikas fortan aus Überweisungen an die zurückgelassenen Großfamilien (sowie deren Familiennachzug) gesichert werden? Es gibt noch nicht einmal irgendein plausibles Konzept zur Minderung des exorbitanten Bevölkerungswachstums. Wer verfügt über ein Konzept, wo besteht der Wille zur Etablierung von verantwortungsvollen, nichtkorrupten Eliten in den aus den Kolonien hervorgegangenen Staatsgebilden – dereinst konzipiert als funktionsfähige ›nation states‹, heute mehrheitlich ›failing states‹? Wo findet man – selbst bei Afrika-Experten - brauchbare Analysen bezüglich der Zukunft des Kontinents?
V.
Mit der angestrebten Befestigung einer gemeinsamen deutsch-französischen Führungsrolle in der EU dürfte Merkel nach den kommenden Septemberwahlen als Personifikation germanischer Übermacht im linksliberalen Spektrum der ›öffentlichen Meinung‹ kaum noch apostrophiert werden. Dies umso weniger, als sie in den letzten Jahre als moralisch unerbittliche Widersacherin Putins in Erscheinung getreten ist.
An diesem Punkt ist Vollmer-Brandt noch einmal zuzustimmen. Eine zukunftsgerichtete deutsche Politik sollte – ungeachtet aller bestehenden Konflikte – aus historischen sowie aus gesamteuropäischen Gründen um ein vernünftiges Verhältnis zu der seit alters ungeliebten Großmacht Russland bemühen. Bei aller Kritik an Putin und Distanz zu dessen Praktiken führt ein Schwarz-Weiß-Denken politisch nicht weiter. Wo es – unter realpolitischen Bedingungen – um Friedenspolitik geht, bestünden beispielsweise – unter Einbezug Putins und Assads – durchaus Chancen für eine Beendigung der mörderischen Zustände in Syrien. Eine solche Übereinkunft eröffnete auch wieder Chancen für eine Beilegung des Konflikts mit der Ukraine.
Die hier zuletzt skizzierten Überlegungen sind angesichts der realen Lage der Dinge weithin hypothetisch. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass es alsbald zu einer Befreiung aus der Merkelschen Gefangenschaft kommen wird. Derzeit verfügt Merkel, Meisterin der politisch-ideologischen Stellungswechsel, in allen Bereichen der Innen-, EU- und Außenpolitik wieder über eine breite Mehrheit in der politisch-medialen Klasse, nicht zuletzt bei der große Mehrheit der gemäß Selbstdefinition auf der ›Linken‹ angesiedelten Grünen.