von Kay Schweigmann-Greve
Allein schon die Wahl des Themas für dieses Heft ist verdienstvoll. Selten werden die sozialistischen Strömungen des Zionismus wahr- und ernst genommen. Hier werden sie zum Schwerpunkt des ganzen Heftes gemacht. Jüdische wie nichtjüdische Sozialisten des 19. Und 20. Jahrhunderts hatten ganz überwiegend ein ambivalentes Verhältnis zum Judentum. Während der Einsatz für jüdische Emanzipation und bürgerliche Gleichberechtigung selbstverständlich war und auch eine Mehrheit den Antisemitismus verabscheute, findet sich Sympathie für Projekte jüdischer Selbstbehauptung fast nirgends.
Bereits Karl Marx hatte in seinen Beiträgen Zur Judenfrage diese Haltung eingenommen. Der Staat setze sich, so schrieb er, in ein ihm angemessenen Verhältnis zu den Juden, wenn er sich von der Religion überhaupt emanzipiere, d.h. in religiösen Fragen neutral werde und Juden behandle wie jedermann anders auch. An den Inhalten der jüdischen Religion ist er nicht interessiert (er kennt sie gar nicht), gleichzeitig benutzt er den Terminus ›Jude‹ als Chiffre für Geldzirkulation, Kommerzialisierung und Kapitalismus. So kommt er zu der Aussage, die gesellschaftliche Emanzipation des Juden sei die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum. Kautsky nahm durchaus Anteil am Schicksal verfolgter Juden in Osteuropa. Er meinte, das Proletariat, in das die Juden sich möglichst schnell und rückstandslos assimilieren sollten, sei ihr bester Freund. Vom Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund mit seiner Forderung nach kultureller Autonomie, über alle territorialistischen jüdischen Parteien bis zum Zionismus – nationalbewusste Juden konnten der prinzipiellen Ablehnung der Vordenker der 2. Sozialistischen Internationale und später der Kommunisten und demokratischen Sozialisten ganz überwiegend sicher sein. Auch viele sozialistisch gesinnte Juden teilten das Verdikt von der notwendigen Assimilation des Judentums spätestens in einer sozialistischen Gesellschaft und engagierten sich in den sozialistischen Parteien der Mehrheitsbevölkerung, Rosa Luxemburg oder auch Trotzki sind Beispiele hierfür.
Instruktiv ist die historische Einordnung und Hinführung zum Thema von Ralf Hoffrogge (S.7-14). Dieser skizziert kurz die Bedeutung der Poalei Zion (PZ) für die israelische Gesellschaft, die Kibbutzbewegung und die linken Parteien bis weit nach der Staatsgründung Israels. Mit der Spaltung des Weltverbandes der PZ 1920 in eine – in sich wiederum inhomogene – Gruppe, die an den Siedlungsprojekten festhielt und von deren Anhängern eine beachtliche Zahl ins türkische, später britische Palästina auswanderte und denjenigen Gruppen, die sich politisch auf die 3. Internationale zubewegten und größtenteils der stalinistischen Repression oder der Shoah zum Opfer fielen. «Die Allianz mit der Komintern führte somit zur Liquidierung, nicht zur Verwirklichung jüdisch-sozialistischer Autonomie» (ebd. S. 13). Keiner der engagierten Akteure, die an diesen Auseinandersetzungen teilnahmen, konnte zu seiner Zeit die Stalinisierung der Komintern, die stalinschen Säuberungen oder gar den deutschen Mord am europäischen Judentum vorhersehen, jedoch beide veränderten «nicht nur alle späteren Auseinandersetzungen um Judentum und Revolution, sondern auch die Perspektiven sozialistischer Politik an sich» (ebd. S. 14).
Mario Kessler: Die Komintern und die Poale Zion 1919 bis1922. Eine gescheiterte Synthese von Kommunismus und Zionismus (S. 15-30)
In einem differenzierten Beitrag stellt Mario Kessler die Auseinandersetzung der linken Zionisten mit den Bolschewisten und der Komintern dar. Ber Borochow (1881-1917), der bereits 1906 seine eigene marxistisch-zionistische Partei Poalei Zion (Arbeiter Zions) gründete, weil er sich dem Assimilationsparadigma nicht unterwerfen wollte, hatte die theoretische Grundlage eines marxistischen Arbeiterzionismus geschaffen, der versuchte, den Interessen jüdischer nationaler Selbstbestimmung neben den anderen Völkern der Welt im Rahmen einer revolutionären Strategie Rechnung zu tragen. Unter den Bedingungen des Zarenreiches mit seiner grausamen Judenverfolgung erschien das Konzept der jüdischen Wiederansiedlung in Palästina und der Aufbau eines jüdischen Arbeiterstaates vielen russischen Juden attraktiv. Die nichtjüdischen sozialistischen Parteien Russlands und Polens waren sich jedoch in ihrer Ablehnung des ›kleinbürgerlichen‹ Zionismus einig und auch die größte jüdische Partei – deren Existenzberechtigung von den anderen sozialistischen Parteien durchaus selbst in Frage gestellt wurde – der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, lehnte den Zionismus ab und sprach sich für die kulturelle Autonomie der Juden im russischen Reiche aus. Viele jüdische Arbeiter organisierten sich daher bei den Poalei Zion, die in Abgrenzung zur bürgerlichen zionistischen Bewegung für territoriale jüdische Selbstbestimmung eintraten. Die Arbeiterzionisten entwickelten sich schnell zur zweitgrößten jüdischen Partei mit vielen Zehntausend Mitgliedern. Mit der Beseitigung der Zarenherrschaft im Februar 1917 und der alsbaldigen Aufhebung der judendiskriminierenden (über 650) Sonderbestimmungen gewann jedoch die Perspektive jüdischer Fortexistenz in einem befreiten Russland plötzlich an Attraktivität. An dieser Stelle beginnt Kessler`s Betrachtung.
Die Mehrheit der jüdischen Arbeiter unterstützte nicht die Bolschewiki, sondern die anderen sozialistischen Parteien, den Bund und die Menschewiki, die zur Wahl zur Nationalversammlung mit einer gemeinsamen Liste antraten. Selbst bei den Sozialrevolutionären, der Hauptvertretung der russischen Bauern, spielten engagierte Juden wie Grigori Gerschuni oder Abram Goz eine Rolle. Wie Kessler zutreffend anmerkt, gewannen die Bolschewiki erst während des Bürgerkrieges und unter dem Eindruck der Pogrome der Weißen Garden vermehrt jüdische Unterstützung. Verübten doch auch die ›Roten‹ gelegentlich Pogrome, insgesamt waren sie jedoch unter den schlechten Alternativen die bessere.
Zu Ergänzen wäre an dieser Stelle, dass abgesehen von der massiven Repression der Bolschewiki gegen Menschewiki, Bund und die sonstigen sozialistischen Parteien ein erheblicher Teil der in diesen Parteien organisierten Juden angesichts der deutschen Novemberrevolution 1918 meinten, Lenin und Trotzki hätten wohl doch Recht gehabt, die Weltrevolution stünde nun bevor, und suchten in Abspaltungen ihrer Parteien oder als Einzelpersonen die Aufnahme in die russische KP.
Vor diesem Hintergrund fanden die Auseinandersetzungen unter den Arbeiterzionisten statt, die zur Jahreswende 1918/1919 zur Spaltung führten: Während der ›rechte‹ Flügel den Parteinamen ›Jüdische Sozialdemokratische Arbeiterpartei - Poalei Zion‹ beibehielt und weiterhin für das Siedlungsprojekt in Palästina eintrat, konstituierte sich die ›Jüdische Kommunistische Partei-Poalei Zion‹ (JKP-PZ) neu. Diese strebte die Aufnahme in die Komintern an. Kessler zeichnet nun akribisch die Verhandlungen dieser Gruppierung – deren Mitglieder im russischen Bürgerkrieg als ›Borochow-Brigaden‹ auf Seiten der Bolschewiki kämpften – mit der Komintern nach. Zunächst legte die JKP-PZ den Schwerpunkt der Arbeit auf den Aufbau der Sowjetunion, ohne das Siedlungsprojekt in Palästina – wie es die Forderung der Komintern war – vollständig aufzugeben.
Wie ›links‹ die gesamte PZ zu jener Zeit war, lässt sich am Abstimmungsergebnis über die Frage des Beitritts zur Komintern auf dem Kongress des Weltverbandes Poalei Zion, der der Zweiten Internationale angehörte, am 27. Juli 1920 in Wien ablesen: 178 Delegierte stimmten für den Beitritt und 179 Delegierte enthielten sich, Gegenstimmen: keine. Auch der spätere israelische Ministerpräsident Ben Gurion, Leiter der Delegation aus Palästina, enthielt sich der Stimme. Die Poalei Zion spaltete sich, verließ die 2. Internationale. Zu einem Beitritt der Linken zur 3. Internationale kam es kurzfristig dennoch nicht, da man die dort geforderte zentralistische Parteistruktur ablehnte und die Komintern ihrerseits die Aufgabe des Siedlungsprojektes zur Voraussetzung machte. Interessant sind die einzelnen Schritte der Verhandlungen zwischen dem neukonstituierten Weltverband der Linken Poalei Zion, die sich selbst als kommunistisch verstand, und der Komintern. Sie ist ein für linke Debatten geradezu paradigmatisches Beispiel für die völlige Weigerung, sich inhaltlich auf die jüdische Perspektive einzulassen, verbunden mit der Bereitschaft auf jüdischer Seite, (fast) jede Verrenkung und Selbstverleugnung mitzumachen, um dazu gehören zu dürfen. Beispielhaft ist hier der Versuch, zwischen dem Jischuw, den in Palästina lebenden jüdischen Arbeitern, und dem Zionismus zu unterscheiden – obwohl diese doch unverkennbar mit zionistischer Motivation dorthin gekommen waren, um den sozialistischen Judenstaat aufzubauen. So sah sich die entstehende (rein jüdische) kommunistische Bewegung in Palästina vor die Aufgabe gestellt, sich zu ›arabisieren‹, d.h. arabische Arbeiter für die Sache des Kommunismus zu gewinnen. Die Araber zeigten sich jedoch zunächst abweisend: sie weigerten sich größtenteils überhaupt zwischen den ›gottlosen Zionisten‹ und den ›gottlosen Kommunisten‹ zu unterscheiden. Überhaupt fand eine Übernahme der kommunistischen Kritik am Zionismus, dieser sei die ›Vorhut‹ des reaktionären britischen Imperialismus, durch die arabische Welt erst seit den Fünfzigerjahren statt, bis dahin bekämpfte man im Zionismus den eindringenden materialistisch-atheistischen Westen, ergo: die säkulare Moderne.
Nachdem 1922 die Verhandlungen zwischen der Komintern und der linken Poalei Zion letztlich daran scheiterten, dass die KI den Beitritt einer weltweit aktiven jüdisch-kommunistischen Organisation und die Ansiedlung von Juden in Palästina ablehnte, gründete sich 1924 die Kommunistische Partei Palästinas – in Konkurrenz zu den linken Poalei Zion, die ebenfalls das «Heimatland aller Werktätigen» unterstützten, nur dessen Position zur ›jüdischen Frage‹ für einen Irrtum hielten.
Abschließend konstatiert Kessler eine von Anfang an angelegte Unvereinbarkeit zwischen einer auf die Weltrevolution hoffenden kommunistischen Bewegung, die meinte, bereits in Kürze Ausbeutung, Unterdrückung und auch den Antisemitismus im Weltmaßstab abschaffen zu können und die gerade linke Zionisten für eine besonders gefährliche Maskierung von Imperialismus und Kolonialismus hielt, und andererseits einer jüdischen Arbeiterbewegung, die sich eine sozialistische Revolution, die ihre Probleme als Arbeiter und Juden lösen werde, nur auf einem eigenen Territorium vorstellen konnte.
Jan Rybak: Sozialistischer Zionismus in der europäischen Revolution 1917 bis 1923. Widersprüche emanzipatorischer Identitäten (S. 31-48)
Rybak wendet sich den europäischen Sektionen der Poalei Zion zu und untersucht die Frage, ob sich die Spaltung der Bewegung in den Zwanzigerjahren auf die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost- und Westeuropa zurückführen lassen. Die osteuropäischen Gruppierungen seien durch die russischen Revolutionen und die Auseinandersetzung mit den anderen starken sozialistischen Kräften dort von der Basis her in Richtung 3. Internationale und Abwendung vom Ziel zionistischer Emigration radikalisiert worden, während die westeuropäischen Gruppen sich an die Sozialdemokratie und die allgemeine zionistische Bewegung annäherten (S. 32).
Die Beobachtung einer starken Hinwendung großer Teile der jüdischen Bevölkerung zu den nichtjüdischen Parteien in Russland wird mit Berichten zionistischer Autoren belegt und trifft, obwohl es sich um subjektive Eindrücke und keine repräsentativen Untersuchungen handelt, sicher zu einem erheblichen Teil zu. Leicht irreführend ist dabei der Hinweis, dass mit 4,3 % Juden an der Parteimitgliedschaft der Bolschewiki doppelt so hoch gelegen habe, wie der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung (S. 33) – handelte es sich in absoluten Zahlen dabei laut Zwi Gitelman doch lediglich um 948 Personen. Dass die PZ 1917 zur Unterstützung der Bolschewiki aufrief, ist angesichts ihrer Versuche, Teil der kommunistischen Weltbewegung zu werden, nicht erstaunlich.
Am Beispiel Polens zeigt Rybak das starke Engagement der PZ in Fragen der Alltagsorganisation der Juden, bei der Errichtung von Arbeiterheimen, -küchen, Arbeitsvermittlungsstellen und Kinderheimen und zitiert die jiddische Tageszeitung Heint (Heute) vom 24.10.1917, die mitteilt, die Warschauer Organisation der PZ sei von 500 Mitgliedern im Jahre 1915 auf nunmehr 8.000 angewachsen. Der Kampf der PZ richtete sich unter diesen Bedingungen sowohl gegen die polnischen Behörden, als auch gegen die deutsche Besatzung, die insbesondere Juden brutal zu Zwangsarbeiten rekrutierte. Fragen der Auswanderung traten, so Rybak, zu dieser Zeit gegenüber der Aktionseinheit mit der polnischen Streikbewegung und allgemeiner revolutionärer Forderungen in den Hintergrund.
Auch in Österreich radikalisierte sich die PZ angesichts der Entwicklungen in Russland, sie spielte eine wesentliche Rolle bei der Organisation der ›Jännerstreiks‹ 1918 unter jüdischen Rüstungsarbeitern. Als im April 1918 Hungerdemonstrationen polnischer Zivilisten und österreichisch-ungarischer Soldaten in Krakau in ein Pogrom umschlugen, organisierte die jüdische Jugend unter Führung der PZ den bewaffneten Selbstschutz (S. 39). An den revolutionären Erhebungen nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte beteiligte sich die PZ, die zunächst mit der österreichischen Sozialdemokratie verbunden war, in lokaler Kooperation mit der jungen Kommunistischen Partei Österreichs sowie dem Bund. Bei der Neukonstitution der PZ im Nachkriegsösterreich setzte sich die prokommunistische Fraktion durch, in ihrer Resolution kehrten sie die poaleizionistische Auffassung von der Erringung eines jüdischen Territoriums als Voraussetzung für den Klassenkampf des jüdischen Proletariates um und erklärten nunmehr die proletarische Weltrevolution zur Voraussetzung der Lösung des «für das jüdische Proletariat überragend wichtigen Problem[s] der jüdischen Exterritorialität» (S. 40). Die PZ entwickelte sich von einer zionistischen zusehends zu einer jüdisch-österreichischen Partei, die mit den Kommunisten und dem linken Flügel der Sozialdemokratie gegen die Beschwichtigungspolitik Alfred Adlers agitierte. Während in den Wirren des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit in Österreich der Schulterschluss mit der nichtjüdischen Arbeiterbewegung gelang, waren die jüdischen Proletarier aller Richtungen in Polen einem weit bis in die polnische Arbeiterbewegung reichenden Antisemitismus ausgesetzt. Die dortige PZ beteiligte sich zwar ebenfalls an den Versuchen zur revolutionären Umgestaltung des neuentstandenen Polens, dessen antisemitische Repression dürfte jedoch die Ursache dafür gewesen sein, dass die polnische PZ an den Siedlungsprojekten in Palästina festhielt. Auch wenn man die Balfour-Deklaration und den bürgerlichen Zionismus scharf bekämpfte, war – ohne dass Rybak hierauf eingeht – vielen jüdischen Arbeitern in Polen klar, dass sie auch in einem polnischen Nationalstaat unerwünscht waren. So richtete die polnische Landeskonferenz der PZ 1920 einen flammenden Appell an die jüdischen Arbeiter, wenn immer möglich, nach Palästina auszuwandern und «dort in die Reihen der kämpfenden und bauenden jüdischen Sozialisten zu treten» (S. 40).
Ganz anders verhielt es sich bei den westeuropäischen und der palästinensischen Partei. Die russlandorientierten Kräfte hatten sich dort, wie von Kessler dargestellt, von der PZ getrennt. Die verbliebene Linke Poalei Zion, wie die Gemäßigten waren bemüht, während des Krieges die Errungenschaften der Siedlungsbewegung zu erhalten und auszubauen. So wie die Entwicklung des jüdischen Jischuws in Palästina für die jüdischen Arbeiter Osteuropas abstrakt und fern erschien, so die Revolution in Russland für die Pioniere im Nahen Osten. 1920 kam es zur unvermeidlichen Spaltung des Weltverbandes. Die Linken titulierten ihre vormaligen Genossen als ›Verräter an der jüdisch proletarischen Revolution und frei- oder unfreiwillige Schergen der Zionistischen Reaktion‹ und meinten ›Zwischen ihnen und uns kann es nur eine Beziehung geben: Kampf bis zur gänzlichen Vernichtung des Menschewismus auf der jüdischen Arbeitergasse‹. Die ›Rechte‹ betonte, es gäbe keine wirklichen ›Differenzen der sozialistischen Theorie und Praxis‹, vielmehr habe sich die Linke auf Grund falscher Interpretation der Losung der Diktatur des Proletariats gänzlich dem revolutionären Kampf der Herkunftsländer verschrieben und sich damit außerhalb des juedischen Lebens gestellt und, anstatt bestrebt zu sein, die sozialistische Führung des juedischen Lebens zu uebernehmen, ignoriert man die brennendsten Volksbedürfnisse. Ähnlich wie Kessler kommt auch Rybak zu dem Ergebnis, die jeweiligen Erfahrungen der jüdischen Arbeiter von Revolution und Krieg bzw. dem Überlebenskampf in einer feindlich-arabischen Umgebung prägten ihre Anschauungen und politischen Optionen. Zwischen der universalistischen und autoritären Bewegung der kommunistischen Weltrevolution und dem auf jüdischem Eigensinn bestehenden territorialistischen Konzept linker Zionisten habe es letztlich keinen Kompromiss geben können. Rybak verortet diese Aporie bereits im Konzept des Linkszionismus selbst.
Christian Dietrich: Zwischen Sowjetrussland und Eretz Israel. Die Radikalisierung des Österreichischen Arbeiterzionismus (S. 49-64)
Der Beitrag Dietrichs betrachtet die Freie Tribüne, das Wiener Organ der Jüdischen Sozialdemokratischen Partei Poaei Zion, liefert also eine Detailstudie zu den vorangehenden Überblicksartikeln. Gleich eingangs konstatiert er einen ›Spagat‹ innerhalb der kontrastierenden Ansprüche des Arbeiterzionsmus, »einerseits eine nationale Neuorientierung und jüdische Heimstätte in Palästina zu fordern (und) sich andererseits als Teil des internationalen Proletariats zu verstehen« (S. 49). Wodurch sich dieser Spagat von dem anderer revolutionärer sozialistischer Parteien, etwa der Polen, Letten oder der Georgier unterscheidet, die ihre nationale Befreiung als einen Aspekt des Beitrags des Proletariates ihrer Nation zur Weltrevolution ansahen, bleibt leider offen.
Der Beitrag will die Radikalisierung der Zeitung vom sozialdemokratischen Arbeiterzionismus hin zur 3. Internationale und das teilweise Fortbestehen zionistischer Positionen in diesem Kontext beleuchten. Anhand der Häufigkeit der namentlichen Nennung von Protagonisten der allgemeinen Arbeiterbewegung in dem Blatt werde deutlich, dass sich Lenin, Luxemburg und Trotzki einer deutlich größeren Popularität erfreuten, als etwa Karl Kautsky (der allerdings als einziger Sozialdemokrat in der Zählung auftaucht). Aufgrund der geringen Zahl an ausgewerteten Beiträgen erscheint mir die angewandte Methode hier allerdings wenig aussagekräftig. Interessant ist jedoch der Hinweis, dass auch nach der Wende zum Kommunismus Ende 1920 noch der Beitrag Ber Borochows ›Die wirtschaftliche Entwicklung des jüdischen Volkes‹ in dem Blatt erscheint – in klarem Gegensatz zu den Positionen der Komintern. Der Wandel von einer sozialdemokratischen Zeitung zu einem kommunistischen Blatt ging in wenigen Monaten von statten. Noch am 01.01.1919 berichtete die Freie Tribüne positiv über Debatten in der 2. Internationale und den Fakt, dass die Arbeiterzionisten als Teilnehmer zu einer internationalen Sozialistenkonferenz in Lausanne eingeladen waren. Bereits im Sonderheft zum 1. Mai jenen Jahres wurde die 3. Internationale hochleben gelassen (S. 55). Ab September fänden sich regelmäßig positive Bezugnahmen auf die 3. Internationale. Die dargestellte Entwicklung entspricht, wie bereits Rybak gezeigt hat, der der österreichischen Poalei Zion insgesamt. Auch die zunehmende Distanz zum Polezionistischen Weltverband, der ja von der ›Rechten‹ dominiert wurde, ist wenig erstaunlich. Dennoch erhielten, etwa mit dem Vorstandsmitglied des Weltverbandes Berl Locker, auch Vertreter der Gegenposition das Wort. Die hegemoniale Position war jedoch diejenige Michael Kohn-Ebners, der als linker Arbeiterzionist während der Jännerstreiks auch in der österreichischen Arbeiterbewegung als einflussreicher Agitator anerkannt war. Er vertrat die Auffassung, es komme auf die politische Tendenz der Besiedlung an: Nicht als Kooperationspartner der jüdischen Bourgeoisie und im Gefolge des britischen Imperialismus, sondern als »Pioniere der Weltrevolution im Vorderen Orient« und als »Zellen der zukünftigen sozialistischen Wirtschaftsform« (S. 62), müsse das jüdische Proletariat dort auftreten. Letztlich spiegele die Freie Tribüne das Zerbrechen der Arbeiterzionistischen Bewegung in einen kommunistischen und einen sozialdemokratischen Teil. ›Zionistisch blieben vorerst beide: der rechte Flügel im Rahmen der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (IASP) [die 1923 zur Zweiten Internationale zurückkehrte], der linke bei seinen letztlich gescheiterten Anschlussbemühungen an die Dritte Internationale‹ (S. 64).
Orel Beilinson: Judentum, Islam und Russische Revolution. Betrachtungen aus der Sicht vergleichender Geschichtswissenschaft (S. 65-84)
Der letzte Beitrag zum Schwerpunktthema befasst sich mit dem Stand vergleichender Geschichtswissenschaft zu Juden und Muslimen im Zarenreich, dem Schicksal zweier religiöser und nationaler Minderheiten im durch das pravoslaver Christentum und die russische Kultur und Sprache dominierten Imperium. Beiden Gruppen sei als Ausgangspunkt ihrer Bestrebungen gemeinsam, nicht aus freien Stücken unter die Herrschaft der Zaren gelangt zu sein und die russische Politik habe die durchgehende Tendenz beiden Gruppen gegenüber verfolgt, Emanzipation und Teilhabe an der allgemeinen Gesellschaft nur um den Preis ständig verschärfter staatlicher Kontrolle und erzwungener Russifizierung zu gewähren. Es wird über die Anfänge gemeinsamer Forschung berichtet. Außerdem werden Aspekte der historischen Entwicklungen beider Gruppen skizziert, insbesondere die beginnende Rezeption der Moderne und religiös geprägte Gegenbewegungen. Interessant ist auch die referierte Vermutung, Muslime hätten die Zusammenarbeit mit den Juden nicht aus religiösen Gründen vermieden, sondern da sie trotz ähnlicher politischer Probleme deren gesellschaftliche Stellung für schlechter als die eigene hielten und bei einer Kooperation einen Statusverlust für sich selbst befürchteten (S. 67). So fruchtbar die aufgeworfene Fragestellungen erscheinen, so bedauerlich ist es, dass die genannten historischen Beispiele eine Vielzahl von Defiziten und Fehlern aufweisen. Während die Heterogenität der muslimischen Gruppen herausgearbeitet wird, werden leider nur die jiddische sprechenden aschkenasischen Juden betrachtet, die in Polen, der Ukraine, Weißrussland und im Baltikum lebten. Ethnische Sondergruppen, wie die einen jüdischen Dialekt des Tatschikischen sprechenden bucharischen Juden, die judeo-persisch sprechenden sog. Bergjuden in Dagestan und Aserbaidschan oder die religiöse und ethnische Sondergruppe der tatarisch sprechenden Karaäer auf der Krim geraten nicht in den Blick. Auch bei der Darstellung der Geschichte der osteuropäischen Juden gerät einiges durcheinander: Bis ins Jahr 1804, so erfahren wir, habe es eine relativ »milde Einflussnahme auf die Kahal, die traditionelle jüdische Gemeinde (gegeben). In diesem Jahr erließ Alexander II. dann erste umfassende Gesetze zum Status der Juden…« (S. 69). Alexander II wurde 1818 geboren und bestieg 1855 den Zarenthron, gemeint ist Alexander I, sein Vorvorgänger. Auch die Darstellung der Folgen dieses Gesetzes, dass ein Verbot für Juden vorsah, in der Schankwirtschaft und dem Pachtwesen zu arbeiten, und damit die Vertreibung von zehntausenden jüdischer Familien aus den Dörfern plante, ohne ihnen anderweitig eine Perspektive bieten zu können, gerät schief: Das von Beilin erwähnte Recht, »in allen West- und Südprovinzen Russlands Ackerland zu erwerben, so(-wie) das Recht auf Bildung und Handel, unter der Voraussetzung, dass sie sich in die Gesellschaft des Reiches assimilierten« (S. 70) lief weitgehend leer. Tatsächlich wurde der Ansiedlungsrayon, in dem Juden leben durften, um zwei Gouvernements (Astrachan und Kaukasus) für die nicht existierende Klasse jüdischer Ackerbauern erweitert, die auch das Recht erhielten, in den drei neurussischen Gouvernements, die bereits zum Rayon gehörten, Boden für landwirtschaftliche Tätigkeit zu erwerben. Der einzige tatsächlich bedeutsame Fortschritt für die Juden lag darin, dass ihnen der Zugang zu den russischen Elementar- Mittel- und Hochschulen gewährt wurde und sie eigene Lehranstalten gründen durften, allerdings mit Bindung an die russische, polnische oder deutsche Sprache (vergl. statt vieler Dubnow, Simon: Weltgeschichte des Jüdischen Volkes, Bd. 8, S. 360-375). Auch die Darstellung der Einführung der Wehrpflicht durch Zar Nikolaj I (1827) befremdet: »Maßnahmen der Regierung in den folgenden Jahrzehnten zielten darauf ab, Juden und Muslime verstärkt in die verschiedenen Bereiche und Aspekte des Lebens innerhalb des Reiches einzubeziehen. Was die Juden betraf, so war einer der kühnsten Schritte die Entscheidung, die allgemeine Wehrpflicht auf Juden auszudehnen« (S. 70). Tatsächlich handelte es sich um brutalste Repression, dauerte diese Wehrpflicht doch 25 Jahre und sollte dazu dienen, die ausgehobenen jungen Männer unter übelster körperlicher Mißhandlung von ihrer jüdischen Herkunft abzuschneiden. Diese Maßnahmen riefen laut Gershon David Hundert massive Fluchtbewegungen und sogar Selbstverstümmelungen bei den von der Einberufung bedrohten hervor.
An späterer Stelle erfahren wir dann, dass die mit dem Bund konkurrierenden Parteien Poalei Zion, die Zionistisch-Sozialistische Arbeiterpartei und die Jüdische Sozialistische Arbeiterpartei nach der Revolution 1905 dem Bund beigetreten seien (S. 80), was schlicht unzutreffend ist. Zur Poalei Zion wurde der Leser in den vorangegangenen Beiträgen eines Besseren belehrt und auch die beiden anderen Parteien vereinigten sich niemals mit dem Bund. Die Jüdische Sozialistische Arbeiterpartei, dies wäre erwähnenswert gewesen, stand zur Partei der Sozialrevolutionäre in einem ähnlichen Verhältnis, wie der Jüdische Arbeiterbund zur Sozialdemokratie. Die Zionistisch-Sozialistische Arbeiterpartei und die Jüdische Sozialistische Arbeiterpartei verbanden sich 1917 zurVereinigten Jüdischen Sozialistischen Arbeiterpartei, ihr Vertreter Mosche Silberfarb war vor dem Einmarsch der Bolschewiki in die freie Ukraine dort Minister für die jüdische Autonomie. Erstaunlicher Weise tauchen die angeblich im Bund aufgegangenen Parteien wenige Absätze später bei Beilinson wieder auf und nun wird ihre weitere Geschichte zutreffend referiert (S. 81).
Interessant sind die Feststellungen des Autors dazu, wie Juden und Muslime die relativ liberale Nationalitätenpolitik der Bolschewiki nutzten: Bei den Muslimen setzten sich Strömungen durch, die anstelle souveräner muslimisch-nationaler Staaten eine weitgehende kulturelle (aber wohl kaum religiöse) Autonomie innerhalb der Sowjetunion wählten; parallel hierzu wählten die Juden, die für den Bolschewismus optierten, anstelle eines zukünftigen souveränen Judenstaates den (zunächst existierenden) Freiraum für eine jiddisch/jüdische, säkulare kulturelle Autonomie in ihrer alten Heimat.
In seiner Schlussbemerkung wägt der Autor die noch ungenutzten Möglichkeiten vergleichender Betrachtung der jüdischen und muslimischen Geschichte im Russischen Reich ab und stellt die damit verbundenen Potentiale dar. Eine weiterführende Forschung in dieser Richtung wäre sicher zu begrüßen.
Für Beschäftigung mit der Geschichte des äußeren linken Flügels des Arbeiterzionismus bietet das Heft 2017/2 von ›Arbeit Bewegung Geschichte‹ sehr anregende Beiträge. Dies auch wegen der umfänglichen Literaturverweise in allen vier Beiträgen, die für eine vertiefte Beschäftigung hilfreich sind.