von Dirk Tänzler

Der Mordanschlag auf die Redaktionsmitglieder des Satiremagazins CHARLIE HEBDO und zwei Polizisten, die zum Schutz abgestellt waren bzw. den Tätern nachzustellen versuchten, hat weltweit zu einer Solidarisierung mit den Opfern geführt. Zum Motto dieser Kampagne - ­ getragen als Transparent auf Demonstrationen oder als Button an der Festgarderobe von Hollywoodsternchen ­ - wurde ein bekennerhafter Satz, der auf dem Titelblatt der Satirezeitschrift am Tag nach der Tat zu sehen war. Nach allgemeiner Meinung sei der Satz, den ein muslimisch aussehender Mann auf einem Schild vor seiner Brust hochhalte, als Identifikation der Muslime mit den Opfern des islamistischen Anschlages zu verstehen, woraufhin diesem ­ – angeblich Mohammed selbst ­ – stellvertretend für die Mehrheit der wahren Glaubensbrüder die Absolution und Vergebung aller Schuld erteil worden sei.

So viel political correctness weckt Zweifel, ob diese populäre Deutung mit den Intentionen des Zeichners und des Satiremagazins in Übereinstimmung gebracht werden kann. Bedenkenswert ist zudem die Reaktion der Muslime auf eine solche Gabe christlicher Barmherzigkeit. Ist die Botschaft der Karikatur wirklich so eindeutig? Ein Bild sage mehr als tausend Worte. Sagt man. Das Umgekehrte scheint genauso richtig: Ein Bild lasse viele Deutungen zu. Versuchen wir daher zunächst zu beschreiben, was auf dem Bild zu sehen ist, um dann eine (oder mehrere) Deutung(en) zu wagen.

Auf grünem Grund sehen wir einen völlig in Weiß gekleideten, dunkelhäutigen, bärtigen Mann, der vor seiner Brust ein Schild hält mit der Aufschrift JE SUIS CHARLIE. Die Person trägt eine weiße Kutte und eine Kopfbedeckung, die einem Turban ähnelt. Die längliche Form des Kopfes/Gesichts wird betont sowohl durch den halblangen, schwarzen Vollbart sowie eine extrem lange Nase. Aus den großen, weit aufgerissenen Augen, die an eine randlose Brille erinnern, schielen die nur als schwarze Punkte angedeuteten Augäpfel wie erstarrt auf das Schild. Unterhalb des linken Auges sieht man auf der linken Wange ein ebenfalls weißes, langgezogenes, nicht eindeutig identifizierbares elliptisches Etwas. Die Lippen sind voll und die Mundwinkel herabgezogen. Über der Figur steht in schwarzer Farbe und großen Lettern der handschriftliche Satz TOUT EST PARDONNÉ. Darüber befindet sich in weißen Drucklettern der Schriftzug CHARLIE HEBDO, dem mittig auf der Unterkante in weißer Schrift auf rotem Grund in deutlich kleinerem Format der Hinweis JOURNAL IRRESPONSABLE unterlegt ist. Rechts unterhalb des großen weißen Schriftzugs befinden sich ein Datum und eine vierstellige Nummer. Dem korrespondieren am unteren rechten Bildrand ein weißes Feld mit Strichcode und links unterhalb des Schildes die drei Buchstaben LUZ in handschriftlicher Manier. Welchen Sinn und welche Bedeutung schreibt ein Mann (oder eine Frau) auf der Straße in der westlichen Welt diesen Elementen des Bildes zu? Die Farben Grün und Weiß gelten hier als Symbole der Hoffnung, Wiederauferstehung und in einigen Ländern wie Irland des Katholizismus bzw. der Unschuld und des Heiligen. Die kuttenähnliche Kleidung samt Kopfbedeckung ist in unseren Breiten ungewöhnlich. Die stilisierten Rassemerkmale (dunkelhäutig, langer Schädel mit langer Nase), aber auch die Barttracht der Person verweisen eher auf einen orientalischen, ja arabischen Kontext. Dort gelten das Weiß der Kleidung, Qamis und Turban, wie das Grün des Hintergrundes als Farbe des Propheten -­ er soll sich in der Regel grün gewandet haben (siehe Abbildung unten), wie überhaupt Grün die Farbe des Paradieses und des Islams schlechthin ist. Die Abbildung zeigt demnach einen traditionsbewussten, und wie wir unterstellen dürfen, religiösen Muslim. Dieser schaut mit weit aufgerissenen Augen und schielendem Blick auf das Schild, das er vor seiner Brust hält. Folgt man etwa der von Charles Darwin entschlüsselten Typologie der Mimik, käme darin Überraschung und ggf. Angst zum Ausdruck. Die nach unten gezogenen Mundwinkel deuten eher auf Traurigkeit und Abscheu. Diesen zum Teil konfligierenden Haltungen ist allerdings eine Grundtendenz gemein: Distanzierung. Verstörend ist das weiße elliptische Etwas auf der linken Wange in Symmetrie zum rechten Zipfel der turbanähnlichen Kopfbedeckung: eine dem linken Auge entfließende Träne der Trauer oder vielleicht doch eher von der Stirn tropfender Angstschweiß? Die Deutung als Mitleidsträne wäre angemessen, handelte es sich tatsächlich um eine trauernde Person, die Betroffenheit zeige entweder unmittelbar aus persönlichem Selbstmitleid oder aus Mitgefühl für Andere, also mittels Identifikation mit einem Leidenden oder Opfer. Die Angstschweiß-Hypothese, für die es auch Anzeichen gibt, ist plausibel unter der Bedingung, dass sich die dargestellte Person in einer Krise befindet und ihr somit die in einer Kultur übliche Situationsdefinition und die damit verknüpfte Standardproblemlösung nicht mehr zur Verfügung steht.

Die durch das Grün des Hintergrunds suggerierte Entwarnung, Ordnungshaftigkeit und damit Normalität, die durch die Unschulds- und Friedensfarbe Weiß noch gesteigert wird, konkret: die Vergebung der Schuld, wird für die scheinbar reumütige Person zum Problem. Ebenso die Identifikation mit einem gewissen Charlie, die sowohl durch das Schild vor seiner Brust (»Je suis Charlie«) als auch durch den Text in der Kopfzeile (»CHARLIE HEBDO«) hergestellt wird. CHARLIE HEBDO klingt wie ein Eigenname, aber nach dem bisher Gedeuteten wohl nicht des Dargestellten. Das vorangestellte »Charlie« ist ein Vorname und zwar die verniedlichende, infantilisierende Koseform von Charles oder deutsch Karl, abgeleitet vom althochdeutschen »karal«, was »(Ehe-)Mann« oder »der Freie« bedeutet. Von daher scheint es nicht allzu weit hergeholt, wenn wir bei »Charlie« an Chaplin, den um Freiheit und Selbstbehauptung kämpfenden Tramp, an Charlie Rivel, den Hanteln aus Pappmaché stemmenden und für sein herzzereißendes Weinen berühmten »Akrobat schööön« oder an Charlie Brown, einen weiteren ewigen Verlierer und Pechvogel, aus der Comicserie Peanuts denken. Der britische Künstler Magnus Shaw stellte diese Beziehung zwischen den beiden Charlies in seiner Kondolenzadresse für die Ermordeten ausdrücklich wieder her.

»Charlie« ruft also nicht nur einen bestimmten Typus, sondern eine ganze Reihe von Taugenichtsen auf. Dieses Serielle klingt auch im Nachnamen an. »Hebdo« signalisiert dem des Französischen Mächtigen den Hinweis auf ein wöchentlich erscheinendes Periodikum. Damit erhält auch der Eintrag im kleinen roten Feld seine Funktion und Bedeutung: CHARLIE HEBDO wird fingiert als Verantwortlicher im Sinne des Presserechts. Allerdings wird das Journal als unverantwortlich bezeichnet, was ja in Bezug zum Vornamen Charlie nur konsequent genannt werden kann. Wir stoßen im Titel auf eine Distanzmarkierung mit eindeutig ironischem, aber auch melancholischem Unterton. Damit kann so viel gemeint sein wie: wir sind für nichts verantwortlich, wir sind überhaupt unverantwortliche Zeitgenossen (Charlies, Clowns, Clochards?), denen nichts heilig ist, weder das Presserecht noch der Glaube oder die Meinung anderer. Allerdings nehmen sie als Außenseiter ein Recht in Anspruch, nämlich das Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit. Diese Rechte, die sich ja auf keinen konkreten Sachverhalt beziehen, sondern das Fundament einer freiheitlichen politischen Verfassung und Rechtsordnung aufrufen, stehen über den geltenden Gesetzen. Sie sind im Unterschied zu Gesetzen nicht aufhebbar, nicht relativierbar, schlicht unveräußerlich, paradoxerweise heilig und sakrosankt. Sie schützen auch den außerhalb der Gemeinschaft und ihrer Ordnung Stehenden, eben den Menschen als solchen.

Unter dieser Zeile steht in Handschrift geschrieben: »Tout et pardonné«:­ alles ist vergeben. Oberflächlich betrachtet, kontrastiert diese Aussage mit der durch Unernst und Komik gekennzeichneten Titelzeile CHARLIE HEBDO. Denn dieser Ausspruch gehört unzweifelhaft zur Kernszene christlicher Mythologie, benennt das Allerheiligste dieser Religion und nimmt so, bei genauerer Betrachtung, das bereits angeklungene Motiv des Heiligen und (Zivil-)Religiösen in modifizierter, nämlich inhaltlich steigernder Form auf: Der Opfertod Jesu Christi, durch den er alle Schuld auf sich genommen und die Menschheit erlöst hat. Dieses Bekenntnis ist einzigartig, denn es bezeichnet nichts weniger als die Menschwerdung Gottes. Mit der Schuld wird den Menschen auch die damit zusammenhängende Angst genommen und aus dem alttestamentarischen Rächergott wird ein neutestamentarischer Gott der Liebe. In welchem Verhältnis steht nun die abgebildete Person zu den Texten in der Kopfzeile? Die Person hält ein Schild vor der Brust, auf dem geschrieben steht: Je suis Charlie (Ich bin Charlie), also eine Selbstidentifikation: Ein Sprecher gibt sich als Charlie zu erkennen. Das Schild erinnert an eine erkennungsdienstliche Maßnahme: Inhaftierte halten auf dem für die Verbrecherdatei bestimmten Foto ihre Identifikationsnummer in dieser Weise. Auf dem Schild hätte auch stehen können »je m’appelle Charlie«: ich heiße Charlie. Rein formal wäre das aber nur eine Benennung oder (äußerliche) Zuschreibung – man nennt mich so, z.B. bei meinem Spitznamen, den ich mir aber nicht zu eigen machen muss. Der Satz »Je suis Charlie« ist dagegen eine persönliche Identifikation, ein echtes Bekenntnis analog zu »Je suis Chrétien«, kann die Zustimmung oder Zurechnung zu einer Glaubensgemeinschaft oder sozialen Bewegung sein. Auffällig ist, dass der auf dem Schild genannte Name mit dem im Titel genannten Vornamen übereinstimmt. Damit wird zumindest eine ­ - aber äußerliche ­ - Beziehung hergestellt zwischen diesem Text auf dem Schild und seinem bildimmanenten Kontext oder Rahmen (»Titel in der Kopfzeile«). Die Figur identifiziert sich, wenn überhaupt, mit dem Charlie auf dem Schild, der nicht zwangsläufig mit dem Charlie der Kopfzeile identisch sein muss. Er könnte sich so als Leser dieser Zeitschrift outen, aber auch einen ganz anderen Zusammenhang insinuieren. Worin könnte dieser Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Charlie bestehen und wer ihn herstellen?

Schauen wir uns die Person noch einmal genauer an, stellen wir fest, dass sie das Schild eher wie aufgezwungen (»Verbrecherkartei«) denn aus innerlicher Überzeugung vor sich hält, was durch den Überraschung, Befremden und Abscheu vermittelnden Gesichtsausdruck unterstrichen wird. Der Zusammenhang wäre dann der einer Distanzierung von einer womöglich aufgezwungenen Identifikation. Aber wer oder was wäre die aufzwingende Person oder Instanz? Darüber gibt das Bild keine Auskunft. Wir müssen also den Kontext abermals erweitern, nämlich den historischen Entstehungskontext des Bildes in den Blick nehmen. Der künstlerische Direktor und Musikjournalist eines Pariser Gratisblatts namens Joachim Roncin verbreitete nur eine halbe Stunde nach dem Anschlag über Twitter eine Solidaritätsadresse »Je suis Charlie«, die sich in Windeseile zu einem überall sichtbaren und dann gnadenlos vermarkteten Slogan entwickelte. Der Schöpfer hat dann auch große Eile, sich die gewinnbringende Idee urheberrechtlich schützen zu lassen. Tags darauf erschien das Satirejournal mit der mittlerweile zu Weltruhm gelangten Karikatur, mit der zu dem Medienhype Stellung bezogen wurde. Folgt man dem Geiste dieser globalen Erregung, dann scheint es uns, als wolle der Karikaturist die aus christlichem Verständnis sich speisende Vergebung und Verbrüderung mit den Muslimen verweigern, indem er zeigt, dass diese mit der westlichen Kultur fremdeln. Er könnte aber auch umgekehrt den zwanghaften Konformismus der christlichen Gutmenschen aufs Korn nehmen, die sich über die Befindlichkeiten der Muslime hinwegsetzen und damit sich diesen gegenüber verhalten wie die Islamisten gegenüber ihren Opfern. Damit erwiese sich die distanzierende Haltung der Person nicht nur als Absage des Muslims an eine christlich konnotierte und mit islamischen Anschauungen nur schwer zu vereinbarende Botschaft, sondern auch als Distanzierung von der scheinheiligen und kommerziell ausgeschlachteten Kampagne verordneter political correctness (im Riva Verlag München erschien bereits »Je suis Charlie: Ein Buch für die Meinungsfreiheit«).

Die durch die Medien propagierte und popularisierte Interpretation von der Identifikation Mohammeds mit den Opfern des Islamismus widerspräche der Traditionslinie des Blattes. Einige ganz wenige stimmten dann auch nicht in diesen Gesang der Verlogenheit ein: Deniz Yücel erkannte in der TAZ vom 10. Januar 2015 »Jede Menge falsche Freunde« und Arno Frank entlarvte daselbst fünf Tage später den Aufruhr mit der Feststellung »Es ist der Brummton der Betroffenheit. Dabei bedeutet Je suis Charlie nichts. Es ist ein Allgemeinplatz« (zu weiteren Reaktionen vgl. den entsprechenden Eintrag auf WIKIPEDIA). Allgemeinplätze (vom »ewigen Juden«, »dreckigen Nigger«, »faulen Hellenen«) sind das Vehikel gesellschaftlicher Vorurteile und können als solche tödliche Wirkung erzielen. Jedenfalls wirkt der Satz auf den abgebildeten Muslim gar nicht spaßig und entspannend. Muslime erlebten den Satz wie die Karikatur insgesamt dann auch eher als Ausgrenzung. Wieso? Sicherlich handelt es sich nicht um eine schmeichelhafte Darstellung eines »typischen« Muslims arabischer Abstammung. Aber welche Karikatur teilt schon Nettigkeiten aus? Sollten Muslime mehr Humor zeigen? Bleibt der Vorwurf der Geschmackslosigkeit ­ - und über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Was ist so anstößig an der Darstellung aus Sicht eines Muslims? Eigentlich ist alles doch ziemlich harmlos. Es liegt vielleicht gar nicht so sehr an der Art, wie die Person dargestellt ist, sondern daran, wer die Person ist oder für wen sie genommen wird. Darüber lässt sich aber auf Grundlage der Karikatur selbst nichts sagen. Allerdings erscheint sie als Variation einer früheren Karikatur, auf der der Abgebildete ausdrücklich als Mohammed bezeichnet worden war. Aus muslimischer Sicht kommt die Abbildung Mohammeds einem Tabubruch gleich, der gesühnt werden muss. Tatsächlich wurde die Redaktion von CHARLIE HEBDO schon damals Ziel eines Anschlages. Bilderverbot hin oder her – es gibt, etwa bei den Schiiten, eine Ikonologie Mohammeds. In der Bibliothèque Nationale in Paris wird ein Exemplar des Miradschname (Buch der Nachtreise, vgl. Sure 17) mit Bildern zur Apokalypse des Mohammed verwahrt. Der darin Portraitierte zeigt durchaus Ähnlichkeit mit der Person auf der Charlie Hebdo Karikatur.

Von daher liegt die Vermutung nah, nicht in der Abbildung Mohammeds als solcher den Stein des Anstoßes zu sehen, sondern in seiner spezifischen Kontextuierung, die man nämlich eine Christianisierung nennen könnte. Denn nichts anderes stellt der Versuch dar, Mohammed und seinen Anhängern die Absolution und damit letztlich eine Bekehrung aufzuzwingen, was bekanntlich einer Todsünde gleichkäme. Kurz: ein Moslem kann sich gar nicht mit der Botschaft identifizieren. Eine Distanzierung bringt ihn aber in den Augen des christlich geprägten Okzidentalen in die Nähe zum mordlustigen Islamisten. Deshalb die Angst, die sich neben der Abscheu im Gesicht des Muslims abzeichnet. Die Gutmenschen haben ihm eine Falle gestellt und der brave Muslim hat realisiert, dass er im double bind gefangen ist, soll er doch angeblich von aller Schuld freigesprochen, damit aber de facto seinerseits zum Opfer gemacht werden, was zu allem Übel auch noch unchristlich wäre. Gegen diese Doxa der öffentlichen Meinung und ihren Konformitätszwang bringt sich der Karikaturist von CHARLIE HEBDO in Stellung, so dass er sich durch diese Distanzierung unweigerlich – welch merkwürdige Volte –­ in ein identifikatorisches Verhältnis zum Muslim setzt, in dessen Darstellung des Künstlers oder seines ihm die Hand leitenden Dämons Absichten zum Ausdruck kommen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Miradschname