von Laura Solbach
Zugegeben, aus formaler Sicht kommt das Gedicht »Was gesagt werden muss« von Günter Grass banal daher. Die Worte wirken wirklich wie mit letzter Tinte geschrieben. Ein spröder Realismus, der seine Aussage moralisierend in die Welt trompetet. Vielleicht wirkte der Text gelungener, hätte Grass eine essayistische Form gewählt. Mit seiner Gedichtform, so Grass im Gespräch mit Tom Buhrow am 05.04.2012, bediene er sich einer deutschen Tradition von Heine bis Brecht. Die provokative Rhetorik Grass’ scheint die Allgemeinheit der Leser zu verschrecken.
Doch schreibt da ein anderer Mann als der, für dessen Stil und kämpferische Attitüde bereits der Nobelpreis verliehen wurde? Was bedeuten die Aufregung der deutschen Öffentlichkeit, die antisemitischen Anschuldigungen der Presse und ihre psychoanalytischen Verdächtigungen, die Grass einen lang verdrängten, nun hervorbrechenden Judenhass zur Last legen? Muss Grass zu israelischen Themen für immer das Maul halten, weil er sich im Dritten Reich als Fünfzehnjähriger schuldig gemacht hat?
Grass hat in seiner Karriere als Schriftsteller nie das Maul gehalten und sein Engagement für bestimmte Themen wurde in der deutschen Öffentlichkeit stets hochgehalten. Man erklärt, es gäbe kein Tabu, man könne in Deutschland alles sagen und jederzeit kritisieren. Ein Hauptthema des Gedichts – das Schweigen zu brechen – wird ins Lächerliche gezogen: Grass stilisiere sich ohne Not zum großen Tabubrecher. Sicher stilisiert sich Günter Grass, setzt sich ganz bewusst in Pose und wirft damit einige Fragen zu seiner Person auf. Doch bin ich ihm dankbar dafür, dass er die Frage des drohenden israelischen Präventivschlags gegen den Iran in die deutsche Öffentlichkeit katapultiert hat. Allerdings bleibt der Vorwurf an Grass, dass er hätte wissen müssen, welche Wellen es schlägt, wenn gerade er mit seiner Waffen-SS-Vergangenheit das Thema auf solch provokative Weise zur Sprache bringt. Mit dem Rummel um seine Person besteht die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit für die Problematik an sich versperrt wird:
»(...) Der alte Clown / steht im Sturm. / Keiner sieht den Sturm. / Alle sehen nur ihn. / Die große Geste steht außer Bedacht. / Sie bietet niemandem Schutz, / sie gebietet niemandem Einhalt. / Die große Geste / verdeckt, was sie zeigt. / Die große Geste / zeigt, was sie verdeckt.« (»Als der alte Clown«, Ulrich Siebgeber in Globkult).
Doch all das verhindert nicht die inhaltliche Evidenz einiger Aussagen dieses Textes.
Im Folgenden möchte ich zunächst darüber reflektieren, warum Grass diese Zeilen gerade zum jetzigen Zeitpunkt in der Presse lanciert hat. Zum zweiten soll das Gedicht inhaltlich Strophe für Strophe besprochen werden. Wer spricht da was? Zum dritten bleibt die Reaktion der Presse, der deutschen Öffentlichkeit und der Weltöffentlichkeit einschließlich der israelischen Regierung zu diskutieren. Was erfahren wir daraus über unsere Gesellschaft? Inwiefern haben wir als Bürger, als deutsche Öffentlichkeit und letztlich als Land überhaupt einen Einfluss auf das, was passiert? Was würden Sie tun, wenn morgen der Krieg ausbricht?
1.
Was den Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gedichts angeht, so geht ihm das hilflose und journalistisch an eine Katastrophe grenzende Ahmadinedschad-Interview durch den ZDF-Journalisten Claus Kleber voraus. Es gibt da einen interessanten inhaltlichen Bezug. Er betrifft Aussagen, die nicht im verkürzten und insoweit verfälschenden ZDF-Zusammenschnitt zu sehen waren und angesichts derer man dem iranischen Präsidenten (abgesehen und außer Frage stehen dabei seine unhaltbare Innenpolitik und die bekannt aggressive Polemik gegenüber Israel) eine rationale und nicht unintelligente Perspektive auf die globale Politik einräumen muss: »Wie kann es sein, dass sich ein paar Staaten hinsetzen und die Welt regieren wollen? Alle Staaten müssen das gleiche Recht und den gleichen Respekt entgegengebracht bekommen.« Auf die Frage Ahmadinedschads, ob der Iran als Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrags sein Atomprogramm vollständig offenlegen müsse, während Israel als Nichtunterzeichner frei sei »zu tun, was er will«, antwortet Kleber mit einem entwaffnenden »So ist das wohl.« Auch so sehen journalistische Fehlleistungen aus.
Im Gespräch mit Tom Buhrow greift Günter Grass die illegale und aggressive Siedlungspolitik Israels auf. Er konstatiert, dass Israel eine Besatzungsmacht ist, die sich durch den Siedlungsbau einer Vielzahl von UNO-Resolutionen entgegensetzt. Grass kritisiert die europäische und bundesdeutsche Politik, die seinerzeit gemeinsam mit den US-Amerikanern den Irak im Krieg gegen den Iran mit Waffen belieferte, sowie deren Unterstützung von Diktatoren im allgemeinen, wobei er unter anderem den Schah von Persien erwähnt. Beides sind Punkte, die, ohne eine direkte Verbindung suggerieren zu wollen, Ahmadinedschad im erwähnten Interview mit Claus Kleber ebenfalls anspricht (über die Unfähigkeit des deutschen Interviewers, die europäische Menschenrechtsperspektive auf den heutigen Iran argumentativ angemessen zur Geltung zu bringen, müsste gesondert verhandelt werden). Es sind Themen, die man auch innerhalb Israels kritisch diskutiert. In seinem Gedicht nimmt Grass die internationaler Kontrolle entzogene (vermutete) atomare Bewaffnung Israels aufs Korn. Claus Kleber sagte über die thematisch entsprechende Stelle in seinem Interview: »Darauf immer wieder hinzuweisen, ist sein (Ahmadinedschads) alter Trick. Aber es ist auch ein nicht unberechtigtes Anliegen. Meine Antwort war die kürzestmögliche, um nicht weiter in die Debatte einzusteigen.« (http://www.tagesspiegel.de/medien/tv-interview-mit-ahmadinedschad-ich-wollte-keine-holocaust-debatte-/6351706.html). Offenbar will Grass genau dies.
Während Buhrow (im ARD-Gespräch) immerhin auf Grass eingeht, während dieser selbst durch sein Gedicht kritisch zu intervenieren und Diskurse anzuregen versucht, versagt Kleber im Gespräch mit Ahmadinedschad schlicht und ergreifend. Er erstarrt in der fordernden Pose des Westens. Sein rechter Fuß zieht sich flexend in einer Starre zusammen, die als Verkörperung seiner gesamten Haltung gelten kann. Wie kann ein Journalist vor anstehenden Verhandlungen, an denen auch Deutschland beteiligt ist, mit einer solchen Haltung in den Iran gehen?
Eine Zwischenbemerkung: welchem Zweck soll es dienen, Grass in diesem Zusammenhang des Antisemitismus zu beschuldigen? Offenbar dem, die Handlungsweise einer israelischen Regierung unauflöslich mit der Identität der in diesem Staat lebenden Juden zu verbinden. So entsteht eine geschickte und gefährliche Verquickung politischer Interessen und religiöser und staatlicher Belange, die jedem Kritiker das Leben schwer macht. Was daran ist legitim oder auch nur fair? Wenn ich heute als Nazi beschimpft werde, weil ich in den 80er Jahren in Deutschland geboren wurde, empfinde ich das als eine haltlose Verknüpfung staatlichen Handelns vor meiner Zeit mit der Gesamtheit einer Bevölkerung – egal welchen Alters. Diese Empfindung macht nicht an den Grenzen Deutschlands und seiner Geschichte Halt. Der Sohn des jüdischen Musikers und Friedensaktivisten Daniel Barenboim äußerte sich gegenüber seinem Vater folgendermaßen: »Ich habe jetzt die Nase voll. Was habe ich mit Israel zu tun? Wir werden dauernd dafür verantwortlich gemacht, nur weil wir Juden sind. Das ist nicht in Ordnung.« (ZEIT, online, Musik, von Carolin Emcke; Jan Ross | 10. Juni 2010 - 08:00 Uhr)
In unfassbarem Egoismus macht die deutsche Presse die israelische Frage zu einer Frage des deutschen ›Bewusstseins‹. Bei all dem schlauen Gequatsche wird selten gefragt, wie es den Menschen ergeht, die in den dadurch entstehenden kulturellen Realitäten leben müssen. Es ist Zeit, dass sich mehr junge Menschen öffentlich äußern, denn es ist unsere Welt und unsere Zukunft, die da großmäulig diskutiert und verspielt wird.
Günter Grass imaginiert nicht frei herum, wenn er einen Präventivschlag Israels gegen den Iran fürchtet. Beim Treffen zwischen Obama und Netanjahu in Washington, das u.a. den Anlass für das Grass-Gedicht lieferte, äußerte Netanjahu über die Lage im Iran: »Wir haben darauf gewartet, dass die Diplomatie Erfolg hat. Wir haben darauf gewartet, dass Sanktionen Erfolg haben. Niemand von uns kann es sich leisten, noch viel länger zu warten.« Obamas Formulierung lautete: »Mein Ziel ist, den Iran daran zu hindern, eine Atombombe zu bekommen. Und wenn ich sage, dass dabei alle Optionen auf dem Tisch liegen, dann meine ich das auch.« Folgt man etwa der Zeitschrift Cicero, so nimmt Israel in der Frage der militärischen Intervention gegen den Iran eine drängendere Haltung ein gegenüber der zögerlichen Haltung und den zeitlich nicht fixierten Angriffsplänen der USA (http://www.cicero.de/weltbuehne/atomprogramm-iran-militaerschlag-israel-obama-netanjahu/48545).
Die Frage, warum Günter Grass sein Gedicht gerade jetzt veröffentlicht und selbstredend einen Diskurs entfachen will, stellt sich nach den genannten Fakten nicht mehr. Wie er das tut, ist eine andere Sache. Sie bleibt problematisch.
Grass kritisiert die israelische Politik aus seiner Verbundenheit mit Israels Bewohnern und Intellektuellen heraus, von denen einige zu seinen Freunden zählen. Wobei momentan die meisten Freunde von Grass lieber schweigen. Sie könnten sprechen, es gibt ja keine Zensur in Deutschland. Aber: sicher ist sicher.
Immer wieder betont Grass, dass man Israel nichts Schlimmeres antun könne, als zu den politischen Entwicklungen zu schweigen. Wahrscheinlich hat er Recht.
Ich bin stolz darauf, wie intensiv Deutschland sich mit seiner historischen Schuld auseinandergesetzt hat und es noch immer tut. Doch dass eine geschichtliche Schuld bedeuten soll, dass man sich nicht zu aktuellen politischen Misslagen äußern darf, sobald sie eine Regierung betrifft, die das Land regiert, an dessen Bewohnern sich unser Land schuldig gemacht hat, ist obskur und untragbar. In Israel gibt es zahlreiche Regierungskritiker – warum darf es keine in Deutschland geben? Gewiss: in Deutschland gibt es keine Zensur. Vielleicht sollte man sie psychologische und mediale Repression nennen, die das notorisch schlechte Gewissen der Deutschen entfacht und den Einzelnen mit gezielten Schlagworten zum Schweigen bringt. Übrigens wäre das Schweigen über einen solchen Text eine andere Möglichkeit der Zensur, der in diesem Fall das Renommee des Nobelpreisträgers entgegensteht.
2.
Man hat die Frage gestellt, warum Grass in seinem Gedicht den Iran nicht angemessen kritisiert (was er auch macht, nur nicht in diesem Gedicht). Das kommt einer Systemlogik gleich, nach der man den Bäcker fragt, warum er gerade Brezeln und nicht etwa Brötchen backt. Schließt das eine das andere aus? Muss man in einem Text alles sagen? Ist Günter Grass beschränkt auf diese Zeilen?
Ich komme zur Interpretation der ersten Strophe des Grass-Gedichtes (zitiert nach: http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-zum-konflikt-zwischen-israel-und-iran-was-gesagt-werden-muss-1.1325809, 4. 4. 2012).
»Warum schweige ich, verschweige zu lange, / was offensichtlich ist und in Planspielen / geübt wurde, an deren Ende als Überlebende / wir allenfalls Fußnoten sind.«
Um diese Zeilen sachlich einzuordnen, muss man sich ansehen, woher Grass’ Engagement historisch kommt. Seine Kritik am Umgang mit atomaren Waffen reicht in den Kalten Krieg zurück. Dieser Aspekt wird gegenwärtig praktisch vollständig ausgeblendet. Seit 1954 galt für die NATO »die Doktrin der massiven Vergeltung. Sie drohte den Sowjets als Antwort selbst auf einen konventionellen Angriff einen nuklearen Vernichtungsschlag an. Jeder Krieg sollte als totaler Atomkrieg – all-out nuclear war – geführt werden, verkündete Admiral Radford, damals der höchste amerikanische Soldat: ›Wenn der Feind angreift, egal wann, egal in welcher Stärke, egal mit welchen militärischen Mitteln – wenn er nicht bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages in seiner Ausgangsstellung zurück ist, schlagen wir mit allen Vergeltungswaffen in unserem Besitz zurück.‹« (Theo Sommer, Reden und Vorträge. http://www.theosommer.de/redende.php?id=48&lang=)
Der ehemalige ZEIT-Herausgeber Theo Sommer schreibt dazu weiter (2011): »In diesem Zusammenhang war das zweite spezifisch deutsche Interesse zu sehen. Es fand seinen Ausdruck in dem Grundsatz der atomaren Zurückhaltung. Atomwaffen mochten danach zur Abschreckung taugen, nicht jedoch zur Verteidigung; schon gar nicht zur Verteidigung Deutschlands. Es war immer klar, dass jeglicher schrankenlose Einsatz von Atomwaffen im Verteidigungsfall das physische Überleben der deutschen Nation bedrohen würde. Unter dem Einfluss von Helmut Schmidt setzte sich in Bonn ziemlich bald die Einsicht durch, dass Atomwaffen zu Verteidigungszwecken wegen ihrer zerstörerischen und eskalierenden Wirkung nur im äußersten Falle, und auch dann nur restriktiv und selektiv eingesetzt werden dürften. Jede andere Verteidigungsdoktrin hätte einen Bewusstseinszustand hervorgerufen, in dem die Angst vor einem Angriff geringer gewesen wäre als die Angst vor einem Atomkrieg.« (ebd.)
Helmut Schmidt, der als Kanzler über den sogenannten Nato-Doppelbeschluss, die Dislozierung atomarer Mittelstreckenraketen der NATO in Deutschland stolperte, kritisierte auch die unter Kennedy konzipierte Strategie der ›flexible response‹, also des Einsatzes taktischer Atomwaffen, der die nukleare Zerstörung auf Europa, in vorderster Linie auf Deutschland beschränken sollte: »Die sogenannte flexible response wäre im Verteidigungsfall in Europa nur wenige Tage wirklich flexibel – sie würde anschließend zur nuklearen Zerstörung Mitteleuropas übergehen.« (ebd.)
Diese frühe deutsche Einsicht in den Wahnsinn atomarer Kriegsspiele bestimmte auch Grass’ Engagement für die SPD einschließlich seiner Solidarisierung mit den Sitzblockierern, die 1983 in Mutlangen gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen demonstrierten – wofür er von der Presse und vom guten deutschen Gewissen gefeiert wurde. Grass mutet der israelischen Politik hier also Einsichten zu, die er schon früher der deutschen zugemutet hat – unter dem Beifall der Partei, in der heute offenkundig manche Schwierigkeiten damit haben, die eigenen Argumente wiederzuerkennen.
In der ersten Strophe deutet Grass auf die Kaltblütigkeit hin, mit der militärische Pläne (den Einsatz atomarer Waffen betreffend) hinter dem Rücken des Volkes und auf dessen Kosten erprobt und kalkuliert werden. Welche Planspiele dabei konkret gemeint sind, wird im Gesamtkontext klar, ist jedoch aus der ersten Strophe noch nicht ersichtlich. Das Schweigen kann man in viele Bezüge zu Grass setzen. Geht man textimmanent vor, dann gibt Grass eine konkrete Antwort in Strophe sechs, in der er seine »makelhafte Herkunft« anführt. Die Angst, dass sein Schreiben unter Berufung auf seine Vergangenheit in der Luft zerrissen würde und somit das Schweigen begründet sei, hat sich als berechtigt herausgestellt.
»Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, / der das von einem Maulhelden unterjochte / und zum organisierten Jubel gelenkte / iranische Volk auslöschen könnte, / weil in dessen Machtbereich der Bau / einer Atombombe vermutet wird.«
Es ist keineswegs erwiesen oder auch nur wahrscheinlich, dass Israels vorbereiteter Präventivschlag mit atomaren Waffen erfolgen soll.
Auch in der zweiten Strophe ist der Name Israel noch nicht gefallen. Es könnte sich, wenn wir die nächsten Zeilen nicht bereits gelesen hätten, auch um einen Erstschlag seitens der USA handeln.
Angesichts der Tatsache, dass sich der Konflikt um die Möglichkeit des iranischen Baus einer Atombombe dreht und in diesem Kontext real ein Präventivkrieg diskutiert wird, kann man schon von einem »behaupteten Recht« sprechen. Auf der einen Seite stehen die Länder, denen gegenüber der Westen »begründete Zweifel« hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer Rechtschaffenheit hegt, auf der anderen diejenigen, denen man Beistandsgarantien gibt. (www.auswaertigesamt.de/DE/Aussenpolitik/RegionaleSchwerpunkte/NaherMittlererOsten/Iran/Iranisches-Nuklearprogramm_node.html)
Die Problematik ergibt sich aus der mangelnden öffentlichen Konkretisation der Vorwürfe. Worin genau bestehen die iranischen Verletzungen der IAEO-Kontrollen? Und zuallererst: Was ist deren allgemeiner rechtlicher Standard? Die offizielle iranische Rhetorik ist untragbar, genauso der Gedanke der Herstellung von Atomwaffen in dieser Region. Doch ist es deshalb rechtlich oder ethisch zulässig, den Verzicht mit Waffengewalt zu erzwingen – besonders wenn die Mächte, die dieser Rhetorik folgen, selbst Atommächte sind? Die Rede von der Achse des Bösen ist eine Rede, die der Stigmatisierung und Ausgrenzung dient. Sie ist nicht angemessen, dementsprechend sollte nach ihr nicht gehandelt werden.
Auch einige von Günter Grass verwendete Vokabeln wirken unangemessen.
Der Ausdruck ›Erstschlag‹ bezieht sich sprachhistorisch eindeutig auf atomare Waffen – in diesem Zusammenhang wird eine unnötige Unterstellung daraus. Rein theoretisch existieren sowohl die Gefahr eines Atomangriffs der Israelis wie auch das ›behauptete Recht‹ auf einen Präventivschlag. Doch Grass’ Verknüpfung ist eine Provokation, bei der man sich fragen muss, ob sie nicht eher dem Anliegen schadet, Aufmerksamkeit für den Konflikt zu schaffen. Das Wort ›auslöschen‹ erinnert in seiner sprachlichen Vehemenz an den nationalsozialistischen Völkermord und ist daher unglücklich gewählt. Warum glaubt Grass, der doch wissen muss, was Wörter meinen und bewirken, dass die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Kriegsproblematik solcher Vokabeln bedarf? Im Gespräch mit Buhrow führt er aus, dass das iranische Volk bei der militärischen Zerschlagung eines Atomkraftwerks im Iran unter den Folgen eines Super-GAUs zu leiden hätte. Nach dieser Argumentation wäre, abseits des konkreten Textes, jeglicher militärischer Schlag innerhalb der Region ein unabsehbares Desaster für das iranische Volk und die restliche Welt.
Schließlich zum »Maulhelden«: Man darf Ahmadinedschad weder unterschätzen noch verteufeln. Angesichts der iranischen Innenpolitik und der brutalen Niederschlagung der Grünen Revolution von 2009 mutet dieses Wort fast wie Hohn an. Unterjocht wird im Iran mit repressiver Gewalt, nicht bloß mit Worten. Doch was die Außenpolitik des Irans, seine militärische Stärke im Verhältnis zu Israel und den USA sowie seine bisherige reale Kriegspolitik betrifft, so ist das Wort ›Maulheld‹ nicht so verkehrt gewählt.
Weiter im Text.
»Doch warum untersage ich mir, / jenes andere Land beim Namen zu nennen, / in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten - / ein wachsend nukleares Potential verfügbar / aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung / zugänglich ist?«
Zu diesen Zeilen ist nicht viel zu sagen. Sie werden eingeleitet durch eine rhetorische Frage des Verfassers, sein Schweigen hinsichtlich des noch immer nicht beim Namen genannten Landes betreffend. Dass Israel eine Atommacht ist, ist wahrlich kein Geheimnis. Seine atomaren Bestände sind in der Tat jeglicher internationaler Kontrolle entzogen (wie beispielsweise auch die der USA, Chinas, Russlands...) und dienen als reale Drohgebärde gegenüber potentiellen Feinden im Nahen Osten. Das ist ein schwieriger Tatbestand, der politisch diskutiert werden sollte.
»Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, / dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, / empfinde ich als belastende Lüge / und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, / sobald er mißachtet wird; / das Verdikt »Antisemitismus« ist geläufig.«
Da in der Tat keine sichtbaren politischen Bestrebungen existieren, Gespräche über Kontrollen und allgemeine Regeln für alle Länder in Gang zu setzen, kann man schon von einem allgemeinen (Ver-)Schweigen sprechen. Vorausgesetzt wird die allgemeine und nicht zu hinterfragende Akzeptanz der bestehenden atomaren und somit globalen Machtverhältnisse.
Das Gedicht (das eigentlich eine durch Atempausen – Kola – markierte Grasssche Prosa ist) lässt manche argumentative Verknüpfungen offen, wenn sie überhaupt existieren. Ein Gedicht ist kein erläuternder Text, der einen Sachverhalt gegenständlich adäquat wiedergibt. Gedichte funktionieren auf einer rhythmischen und emotionalen Basis. Da ist es verständlich, dass auch rhythmisch und emotional zurückgeschossen wird. Prekär wird es, wenn beide Seiten behaupten, einen rationalen Diskurs zu führen, während die Argumente jeglicher Sachlichkeit entbehren. Entschuldigung, aber zeitweise sah es so aus, als schlage sich ein Club Achtzigjähriger hier gegenseitig persönliche Ressentiments um die Ohren.
Die letzten beiden Zeilen der Strophe sehe ich im zuvor erläuterten Zusammenhang der Gleichsetzung von israelischem Staat und Judentum, die den Juden nicht gerecht wird. Sie sind nicht verantwortlich für das staatliche Gebaren Israels. Ich lasse mich nicht in kulturelle, historische und rhetorische Gefängnisse sperren, die, medial und machtpolitisch konstruiert, den Menschen das Leben erschweren und das Gewebe von Recht und Unrecht diktieren. Die staatlich-religiöse Gleichsetzung produziert Ungerechtigkeit und Vorurteile. So kann eine Scheu entstehen, besonders in Deutschland, den Staat Israel zu kritisieren, ohne sich zugleich gegen einen möglichen Antisemitismus-Vorwurf zu wappnen. Genau das tut Grass – expliziter noch in den nächsten Strophen. Durch verzweifelte Rechtfertigungen bringt er sich aber in eine unglaubwürdige Position, die nach entgegengesetzter Polemik schreit.
Die traurige Frage ist darüber hinaus, inwieweit die Gleichsetzung die Gefahr verstärkt, dass antisemitische Vorurteile neu entstehen. Jenseits persönlich gefärbter Grassscher Rhetorik, diesseits von ›Lüge und Zwang‹, trifft das die Aussage dieser Zeilen ganz gut.
»Jetzt aber, weil aus meinem Land, / das von ureigenen Verbrechen, / die ohne Vergleich sind, / Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, / wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch / mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, / ein weiteres U-Boot nach Israel / geliefert werden soll, dessen Spezialität / darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe / dorthin lenken zu können, wo die Existenz / einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, / doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, / sage ich, was gesagt werden muß.«
Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Wie unter anderem der Spiegel berichtete (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,774904,00.html), sind die deutschen Lieferungen von sechs Dolphin U-Booten nicht nur staatlich subventioniert, sondern auch angesichts der Möglichkeit, sie atomar nachzurüsten, höchst umstritten. Eine vertrauliche Depesche der US-Botschaft in Tel Aviv soll berichten, dass die deutsche Lieferung als Teil eines Wiedergutmachungsplans für NS-Verbrechen fungiert. Insofern ist Grass da wohl informiert. Generell ist die deutsche Waffen-Exportpolitik, so wie sie real gehandhabt wird, zu kritisieren. Man findet immer gesetzliche Lücken und zweifelhafte Argumente für Waffenlieferungen (wozu auch Waffentechnologie, Systeme etc. zählen). Doch scheinen die U-Boot-Lieferungen mit der Möglichkeit atomarer Nachrüstung selbst im europäischen Rahmen einen klaren Verstoß gegen den ›GEMEINSAMEN STANDPUNKT 2008/944/GASP DES RATES‹ vom 8. Dezember 2008 darzustellen: »Die Mitgliedstaaten wollen mit Entschlossenheit verhindern, dass Militärtechnologie und Militärgüter ausgeführt werden, die zu interner Repression oder internationaler Aggression eingesetzt werden könnten oder zu regionaler Instabilität beitragen könnten«, und zwar in jedem Punkt. Grass rechtfertigt seine Kritik mit den NS-Verbrechen. Auch zwei Strophen später – »als Deutsche belastet genug« – bleibt er dieser argumentativen Linie treu: sein bisheriges Schweigen aufgrund ›makelhafter Herkunft‹ muss der notwendigen Einmischung weichen, wollen sich die Deutschen nicht durch Schweigen wieder historisch schuldig machen: als »Zulieferer eines Verbrechens«, also als Waffenexporteure.
Ich denke nicht, dass es der historischen Argumentation bedarf, um als Bürger Verantwortung zu übernehmen. Als Staat haben wir bereits versagt – da liegt der argumentative Knackpunkt. Deutschland macht sich durch seine internationalen Waffenlieferungen tagtäglich schuldig und ist indirekt mitbeteiligt an unzähligen Morden auf dieser Welt. Klingt komisch, ist aber so.
Bleibt die Frage, wie man als Bürger Verantwortung übernehmen kann. Vielleicht, indem man kontroverse Gedichte schreibt und mit etwas Glück fruchtbare Debatten in Gang setzt? Der Zweifel bleibt, wie fruchtbar diese Debatte wirklich sein wird. Was nicht den Versuch an sich zunichtemacht. –
Ach, ja und in dieser Strophe fällt dann endlich auch der Name des Landes Israel.
»Warum aber schwieg ich bislang? / Weil ich meinte, meine Herkunft, / die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, / verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit / dem Land Israel, dem ich verbunden bin / und bleiben will, zuzumuten.«
Hier kommen wir zu einem Kernproblem der Rhetorik dieses Gedichts. Grass, der Verkünder der Wahrheit. Man kann polemisch oder ehrlich bewundernd einwerfen, dass die großen Propheten schon immer beargwöhnt und verfolgt wurden. Aber so einfach machen wir es uns hier nicht, das überlassen wir den dafür gut bezahlten Meinungsmachern der sogenannten Weltpresse und dem Dichter selbst. Hier wird das einfache Für und Wider – Schwarz und Weiß – Gut und Böse mit der Sicherheit dessen verkündet, der gewohnt ist, den grassierenden Ton anzugeben.
»Ausgesprochene Wahrheit« – daran stößt man sich, auch ohne ein Philosophiestudium absolviert zu haben. Lassen wir den Anspruch als offene Frage im Raum stehen, als Angebot in sich zu gehen (auch ich in mich), ob wir nicht allzu oft die richtige Antwort schon zu kennen glauben, ehe wir begonnen haben zuzuhören.
Auf den Zusammenhang zwischen Grass’ Vergangenheit und seinem Recht (wenn es nicht das Recht sein soll, die unabänderliche Wahrheit zu verkünden), sich zum israelisch-iranischen Atomkonflikt zu äußern, bin ich, wie ich denke, bereits intensiv eingegangen. Er präzisiert an dieser Stelle die persönliche Schuld, den nie zu tilgenden Makel – auch wenn ich damit nicht die Gesamtheit der NS-Verbrechen und Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS in eine Ebene setzen will. (Es sollte hier daran erinnert werden, dass der neuerdings zum ›Judenhasser‹ erklärte Grass sich seinerzeit mit dem Verweis auf Auschwitz und die deutsche Schuld gegen die Wiedervereinigung Deutschlands stemmte.) In der Logik der Gedichtinterpretation dient diese Bemerkung dazu, sein Vorgehen zu erläutern. Das Schweigen wird auf jeder Stufe des Gedichts weiter konkretisiert: erst durch die Angst vor dem Verdikt des Antisemitismus, dann im Hinblick auf die nationale historische Schuld und schließlich in Anwendung auf das eigene Leben. Unterbrochen und verbunden wird diese Argumentation durch Bezugnahmen auf Begebenheiten und Entwicklungen im Nahen Osten.
Grass erklärt, dass er dem Land Israel verbunden ist.
Eine klare Aussage, inmitten eines formal gesehen himmelschreienden Satzungetüms.
»Warum sage ich jetzt erst, / gealtert und mit letzter Tinte: / Die Atommacht Israel gefährdet / den ohnehin brüchigen Weltfrieden? / Weil gesagt werden muß, / was schon morgen zu spät sein könnte; / auch weil wir – als Deutsche belastet genug – / Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, / das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld / durch keine der üblichen Ausreden / zu tilgen wäre.«
Und jetzt – Vorhang auf für den fluchenden Reich-Ranicki: »Letzte Tinte das ist sehr gut. Verflucht noch mal!« Natürlich auch für Günter Grass, dessen schwächelndes Hüsteln man im Hintergrund zu vernehmen meint. Ist der nächste Satz eine Frage?
Meines Erachtens hat Grass recht, wenn er sagt, dass es morgen zu spät sein kann, dass man Kriegsdrohungen ernst nehmen muss und dass Deutschland sich als Waffenlieferant schuldig macht. Was allerdings die üblichen Ausreden sind und ob das jetzt historisch oder aktuell zu verstehen ist und worauf genau zu beziehen, darüber will ich nicht spekulieren. Zu offen gibt sich dieser Satz, lässt alles zu und verschließt sich dadurch einer intersubjektiv nachvollziehbaren Deutung.
»Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, / weil ich der Heuchelei des Westens / überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, / es mögen sich viele vom Schweigen befreien, / den Verursacher der erkennbaren Gefahr / zum Verzicht auf Gewalt auffordern und / gleichfalls darauf bestehen, / daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle / des israelischen atomaren Potentials / und der iranischen Atomanlagen / durch eine internationale Instanz / von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.«
Was bleibt da zu sagen? Wer ist der Heuchelei nicht überdrüssig?
Die Forderung nach einer internationalen, und falls es so etwas gibt, einer wirtschaftlich und politisch unabhängigen Instanz, die permanente Kontrollen der Atomarsenale durchführt, halte ich für sinnvoll und wichtig. Es versteht sich (fast) von selbst, dass nicht nur der Iran und Israel, sondern auch alle anderen Atommächte kontrolliert werden sollten. Unserer Sicherheit und unserer Zukunft wegen.
»Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, / mehr noch, allen Menschen, die in dieser / vom Wahn okkupierten Region / dicht bei dicht verfeindet leben / und letztlich auch uns zu helfen...«
Letztlich spricht Grass noch den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis an und verweist auf die globale Dringlichkeit einer friedlichen Lösung.
3.
Die Reaktionen der deutschen Presse sind bereits angeklungen. Auch Wolf Biermann, der »zerfreundete Freund«, äußert sich. Angenehmerweise differenzierter als der Rest. Zu Recht beklagt er Grass’ ästhetischen Fauxpas. Allerdings finde ich es schwierig, eine reale Kriegsdrohung als eine »gewachsene Schiefheit« (http://www.welt.de/debatte/article106162791/Stuemperhafte-Prosa-Eine-literarische-Todsuende.html) in dem Sinne zu rechtfertigen, dass Israel nie wieder bereit sein werde, die Opferrolle zu spielen. Das erwartet niemand, den man politisch und menschlich ernst nehmen kann. Unsere heutige Welt ist überzogen von Krieg, Ausbeutung und Schrecken. Jeder von uns hat die Aufgabe, dieses globale Unglück so klein wie möglich zu halten und friedlich zu handeln. Da gibt es keine Rechtfertigungen für Krieg, sondern nur eine mögliche Haltung der ethischen und friedlichen Übernahme von Verantwortung. Wieso geht es eigentlich immer nur um Macht und nicht auch einmal um Frieden und Freundschaft? Nun aber zu anderen Reaktionen, bevor ich in naive Tränenströme ausbreche, die meine eigenen Worte ertränken könnten, selbst wenn sie stimmten.
Während sich der Iran offiziell bei Grass bedankt, ebenso die deutsche und jüdisch-europäische Friedensbewegung, wird von offizieller israelischer Seite ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt. Soweit die Spannbreite der Stellungnahmen. Alfred Grosser hat sich differenziert, sachlich und klar geäußert, danke dafür. (http://www.sueddeutsche.de/politik/alfred-grosser-ueber-kritik-an-israel-grass-hat-etwas-vernuenftiges-gesagt-1.1329287?google_editors_picks=true)
Hoffen wir für die Zukunft, dass die deutsche Gesellschaft ihre historische Schuld nicht den heute lebenden Juden aufdrängt. Hoffen wir, dass der Sohn von Daniel Barenboim sich nicht mehr fragen muss, was er mit Israel zu tun habe.
Es ist gut, die Vergangenheit wachzuhalten, damit sie niemals wieder Gegenwart wird. Doch das darf nicht dazu führen, dass wir nicht mehr differenzieren und hinter kulturellen Mustern erstarren.
Wir haben zu viel Angst, uns wirklich zu begegnen.
Am Schluss noch ein Appell an all die unfassbar beschäftigten jungen, intelligenten Menschen, sich Zeit zu nehmen, den politischen und kulturellen Diskurs in Deutschland mitzugestalten und so unsere Zukunft mitzubestimmen, die jeden Tag neu gewoben wird. Wir sollten das nicht nur den Achtzigjährigen überlassen. Es ist unsere gemeinsame Zukunft.