Haltungsschäden in der Kultur

von Ulrich Schödlbauer

Zum achtzigsten Geburtstag des Dichters Thomas Körner rührte sich im deutschen Medienwald naturgemäß nichts. Naturgemäß deshalb, weil es zur Natur des Waldes gehört, dass es gerade so heraushallt, wie man hineinschreit. Einer, dem das Schreien so schwer fällt wie diesem Autor, teils, weil er die leisen Töne bevorzugt, teils, weil er der Auffassung ist, Dichtung beginne jenseits des Schreivorhangs, Öffentlichkeit genannt, und man müsse ihn erst durchschritten haben, um zu zählen, zählt natürlich nicht zu denen, die im Lande Rübezahl jetzt aber echt zählen.

*

Ich behaupte nicht, dass es schlecht sei, ungerühmt zu verdämmern, wenn man ein Recht darauf besäße, berühmt zu sein, weil man etwas geleistet hat, das in seiner Kultur einzigartig dasteht. Mag sein, es ist eine Voraussetzung dafür, unbehelligt seinen Weg gehen zu können. Angesichts der Medienlandschaft – bekanntlich eine weite, flache Einöde, durchsetzt mit winzigen Inseln bemerkenswerter Betriebsamkeit – macht es sich ohnehin besser, die Ruhmsucht zu vergessen, das alte Laster der Literatur –: seit der sich selbst fördernde und vergessende Betrieb auf Haltung macht, ist dort für niemanden Raum, der, wie sagt man, etwas zu sagen hat.

*

Wer versucht, den Schriftsteller Körner, der einst das Musiktheater mit schrullig-präzisen, außerhalb der Szene unbekannt gebliebenen Texten bereicherte, zur Lektüre auszuschreiben, der stößt immer wieder auf einen Reflex, dem zum ersten Mal die Rezensentin der NZZ Ausdruck verlieh: Warum soll ich mein Gehirn anstrengen, wenn ich nicht weiß, was dabei herauskommen wird? Es könnte ja sein, dass sich der Aufwand nicht lohnt, und wie stehe ich dann vor meinem persönlichen Coach da? Und ohne Anstrengung des Gehirns ist nun einmal nicht zu haben, was der Autor des Fragment-Romans Das Land aller Übel verschwenderisch im Netz der Netze ausbreitet.

*

Thomas Körner gehört zu den Leuten, die man heute pauschal als DDR-Dissidenten bezeichnet. Aber er ist keiner von ihnen. Soll heißen, er ist kein Omnibus-Literat wie all die anderen, die auf jedem Spickzettel stehen, er reist gern allein, allenfalls zusammen mit seiner Frau, die, ein freundlicher Hausgeist, in all seinen Werken umgeht. Was dieses Werk von den wichtigen Produkten der Betriebsamkeit von Anfang an unterscheidet, ist die leicht überprüfbare Tatsache, dass es den ideologischen dogfight verweigert und daher als Stichwortgeber in Haltungsfragen nicht zur Verfügung steht. Er ist demnach weder wichtig noch umstritten, kurz, ein wahres Nichts.

*

Das Land aller Übel ist für jedermann jederzeit abrufbar. Darin liegt, wie jedem Spezialisten für deutsche Sprache geläufig, eine Zweideutigkeit, die überdies vom Autor gewünscht sein dürfte. Wirklich kann man jene subtilen Sprachspiele nicht spielen, ohne zu realisieren, dass man als Bewohner dieses Landes Bürgerrechte besitzt, die mit dem Hinscheiden der fassadenliefernden DDR keineswegs obsolet geworden sind. Im Gegenteil. Das erinnert an einen anderen aus dem Tempel der Wohlgesonnenheit Hinausgesäuberten, Hans-Jürgen Syberberg, dessen Hitler-Film bereits in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts dem Volk der Davongekommenen unerwünschte Naherlebnisse bescherte.

*

Eine Öffentlichkeit, die vom Rang solcher Arbeiten ausgeht, sobald nicht-triviale Orientierungsfragen im Raum stehen, statt sie verlegen bis hasserfüllt wegzudrücken, existiert nicht und wird vielleicht noch eine Weile auf sich warten lassen. Bis dahin werden die Hampelmänner der Saison ihre Dienste verrichten und es wird ihnen niemand zuhören, allenfalls, um sich kurz über einen der ihren aufzuregen, der beim Gebrauch eines falschen Wortes erwischt wurde. Die Literatur ist tot. Nirgendwo lässt sich das besser ablesen als an den sogenannten alternativen Medien, deren Beiträger sich im Schweiße ihres Angesichtes am Schweigekartell der Zunftgenossen abarbeiten und denen, verständlicherweise, der kampferprobte Sinn augenblicklich nicht nach Höherem steht.

*

Der Tod des Pathologen Arne Burkhardt (1944 – 2023), plötzlich und unerwartet wie im Moment so vieles, hat schmerzlich den Riss aufgezeigt, der mit der Unerbittlichkeit uralter Schicksalsriten nicht bloß die ewig zerrissene Gesellschaft, sondern die Kultur selbst auseinandertreibt. Die Freunde trauern und die restliche Gesellschaft steht in der Gegend herum und versucht sich an einem schäbigen Grinsen. Das Land, das Helden nötig hat, es hat sie in den letzten Jahren bekommen. Zweifellos ist Burkhardt einer von ihnen. Wie Körner am Gewebe der sich sozialistisch nennenden Gesellschaft, so konnte Burckhardt am physischen Gewebe der von ihm untersuchten Patienten den verheerenden Einschlag einer politisch aufgezogenen Verabreichung konstatieren, deren Spät- und Spätestfolgen sich nicht auf die üblichen Bewusstseinsschäden beschränken, sondern den ganzen Menschen mit sich reißen – bis in den dreist geleugneten oder weginterpretierten Massentod.

*

Warum so gewunden, wird mancher an dieser Stelle fragen. Es geht um die verleugneten, verheimlichten, weggedrückten, verniedlichten, von Arne B. mit dem Seziermesser bewiesenen Folgen der Covid-Impfung, die Tausenden Leid und Tod bescherte, warum nicht Klartext? Er übersieht dabei, dass die Klartext-Gesellschaft mit ihren vorgefertigten Textbausteinen, ihren Faktenchecks und Gegenchecks, die Menschen in die Lage getrieben hat, in der sie sich befinden. Der labyrinthischen Realität kommt keine Klartextrede bei, in der jeder dem andern aufs Maul haut, kaum dass es sich zu öffnen beginnt. Klartext kann reden, wer seiner Sache sicher ist. Laufen zu viele Leute in der Gegend herum, die ihrer Sache, falls sie sie denn kennen, allzu sicher sind, dann wird die Sache, intendiert oder nicht, über kurz oder lang mörderisch.

*

Der einen Krankheitsbefund präsentierende Pathologe darf seiner Sache sicher sein – in den Grenzen der Disziplin, die er vertritt. Wenn er aber, wie es immerfort geschieht, in der öffentlichen Arena sofort auf jenen Menschentypus stößt, den seine woher auch immer genommene Sicherheit am einfachen Hinsehen hindert, und dieser Typus das Feld beherrscht, dann gerät die Sicherheit des Wissenschaftlers an Grenzen, die er weder gesetzt hat noch aus eigenen Beständen begreifen kann. Er mag die Macht, auf die er gestoßen ist, böse nennen und ohne Zweifel hätte er damit ein Stück weit recht. Aber er kann nicht verhindern, dass sein Auftritt bei den Vielen, die wenig wissen, jedoch ein gewisses Orientierungsbedürfnis empfinden, Unsicherheit bewirkt. Und diese Unsicherheit ist unbehebbar, solange die Medienmacht falsche Autoritäten ohne Ende auffahren lässt, um, in wessen Auftrag auch immer, eine Agenda durchzupeitschen.

*

Hinter jeder Haltung, das verschweigt der sogenannte Haltungsjournalismus, steht eine Agenda und hinter jeder Agenda steht eine Macht, die sich erklärt oder auch nicht. Der Haltungsjournalismus hat binnen kurzer Zeit nicht nur die Literatur beerdigt, sondern die Kultur. Er hat beides überschrieben und aus Wortblasen eine neue dritte Welt erzeugt – was ihm nicht schwer fällt, denn das Wortemachen ist sein Geschäft. Statt Ruhm zu gewähren, geht er dem Einzelnen, der etwas gefunden hat, was alle angeht, an die Ehre und steckt ihn, gleichgültig darum, was aus den Funden und Menschen wird, hinter die bunten Gefängnismauern seiner schrägen Etikettierungen.

*

Der Ruhm-Mechanismus aber, das sollte sich hinter die Ohren schreiben, wer am selbstgenügsamen journalistischen Universum nichts vermisst, ist der einzige Mechanismus, den die Menschheit bisher gefunden hat, um sich von plattem Autoritarismus und seinen Dogmen zu lösen. Ruhm-Verweigerung für die ungewöhnliche Einzelleistung, gleichgültig, auf welchem Sektor (abseits des allgegenwärtigen Sports und der Welt der Rankings um nichts), annihiliert die Kultur des Wissens und der bedachten Geste und geht dem Absturz der Gesellschaft ins Totalitäre voran. In dieser Disziplin sind wir bereits ein Stück weiter. Der Kult der Ehrabschneidung hat etwas Selbstmörderisches.

*

Tot ist nicht bloß die Literatur. Tot sind auch die geschwätzigen Medien, die nichts anzuerkennen bereit sind, was nicht aus dem Geschwätz kommt und in ihm vergeht. Thersites bildet die Adelsgesellschaft Homers nur unvollkommen ab. Es würde schwerfallen, sie allein aus seinem Porträt zu rekonstruieren. Angenommen, dass die heutige Gesellschaft sich in einer nicht aufzuhaltenden Abwärtsspirale befände (was vermutlich so richtig wie falsch ist), so wäre sie den Reden, die sich ununterbrochen über sie ergießen, noch immer turmhoch überlegen – im Richtigen, im Falschen, im Freudigen und im unendlich Traurigen. Wer seine Bildung beweist, indem er mit den üblichen Dystopien hausieren geht und damit den spukhaften Einfällen der Mächtigen aufhilft, der hat zwar verstanden, wie man’s macht, aber er ist darin steckengeblieben und der Sand verliert seine Spur.