von Ulrich Schödlbauer

»Großmütterchen, warum hast du Väterchen das Herz weggefressen?«

»Warum fragst du mich das?«

»Weil es mein Väterchen ist.«

»Hör zu, Kind. Ich habe genossen…«

»Was heißt ›genossen‹?«

»… was mein ist. Dein Väterchen war Fleisch von meinem Fleische und Blut von meinem Blut.«

»Und ich seins. Aber gefressen hat er mich nicht.«

»Weil er ein Schlappschwanz war.«

»Warum sagst du das so?«

»Weil es die Wahrheit ist.«

»Wenn es die Wahrheit ist, ist sie dann schlimm?«

»Kind, die Wahrheit ist immer schlimm. Deshalb mag sie auch keiner.«

»Und deshalb musstest du ihn gleich auffressen?«

»Werd’ nicht frech. Du bist viel zu klein, um das zu verstehen.«

»Großmütterchen, warum hast du mein Mütterchen gefressen?«

»Habe ich das? Was du nicht alles weißt. Vielleicht aus Versehen. Vielleicht, weil ich sie gefressen hatte.«

»Warum hattest du sie gefressen?«

»Weil sie dein Mütterchen war.«

»Wolltest du nicht, dass ich ein Mütterchen habe?«

»Ach Kind. Die Welt ist komplizierter, als du glaubst.«

»Großmütterchen, warum hast du das Haus gefressen, in dem wir wohnten?«

»Weil es mir Spaß gemacht hat.«

»Das verstehe ich nicht. Hat dir das Haus Spaß gemacht oder das Fressen?«

»Beides, mein Kind, beides.«

»Großmütterchen, warum hast du den Garten gefressen, in dem ich so gern gespielt hab’?«

»Ich tat’s nicht für mich.«

»Für wen dann?«

»Für Leute, die mich gefressen hätten, hätte ich’s nicht getan.«

»Sag, Großmütterchen, fürchtest du dich etwa?«

»Ja, ich fürchte mich sehr.«

»Aber vor wem fürchtest du dich denn?«

»Vor allen, die ihr Geld in mir stecken haben.«

»Hast du denn vielen Leuten das Geld weggefressen?«

»Nur solchen, die es nicht in mir stecken haben.«

»Großmütterchen, warum hast du mein Geschwisterchen gefressen?«

»Habe ich das? Sowas passiert schon mal. Reg’ dich nicht auf, es hat nichts zu bedeuten.«

»Großmütterchen, was heißt: Es hat nichts zu bedeuten?«

»Es bedeutet, dass es den Leuten egal ist.«

»Aber mir ist es nicht egal.«

»Du gehörst eben nicht zu den Leuten.«

»Großmütterchen, wer gehört zu den Leuten?«

»Alle, denen es egal ist. Dazu alle, denen es egal ist, wenn es den anderen egal ist. Dazu alle, denen alles egal ist, solange es den anderen egal ist. Dazu alle, denen es sehr darauf ankommt, dass allen alles egal ist. Dazu alle…«

»Großmütterchen, was ist nicht egal?«

»Nicht egal ist, wenn was dabei rausspringt.«

»Großmütterchen, bitte lass mein Geschwisterchen rausspringen!«

»Das ist leider unmöglich. Kind, du vertrödelst bloß meine Zeit. Ich weiß gar nicht, warum ich so geduldig auf deine Fragerei antworte.«

»Vielleicht, weil du mich nicht gefressen hast?«

»Wart’s ab. Warum sollte ich dich fressen, wo ich dir doch alles genommen hab’?«

»Also hat alles, was du uns angetan hast, einen Grund?«

»Sag das noch einmal und ich fress dich.«

»Großmütterchen, warum hast du meine Kindheit gefressen?«

»Ach Kind! Du darfst das nicht so eng sehen. Wärest du schon alt gewesen, dann hätte ich eben dein Alter gefressen.«

»Was ist Alter?«

»Wenn du so weiter fragst, wirst du es nie erfahren.«

»Großmütterchen, bist du sehr alt?«

»So alt wie die Welt, in die du geboren wurdest. Vielleicht ein bisschen älter. Oder auch nicht. Auf alle Fälle alt genug.«

»Wofür bist du alt genug?«

»Um mir alles erlauben zu können.«

»Und keiner kann dich aufhalten?«

»Sie sollen nur kommen. Ich stecke jeden in den Sack.«

»Welchen Sack meinst du jetzt?«

»Komm näher, Kind. Hörst du es klimpern?«

»Ja.«

»Dann achte darauf, was ich dir sage: Ich habe nichts gehört. Du hast nichts gehört. Er sie es hat nichts gehört.«

»Warum sagst du das?«

»Weil du ein vorlautes Kind bist.«

»Werde ich jetzt gefressen?«

»Das könnte dir so passen. Friss dich doch selbst. Vielleicht kommst du noch auf den Geschmack. Es sind schon viele auf den Geschmack gekommen und täglich werden es mehr. Das ist der Lauf der Dinge.«

»Großmütterchen, warum hast du so große Ohren?«

»Das sind keine Ohren, Dummerchen.«

»Was ist es dann?«

»Damit kitzle ich Politiker, sobald ich alles über sie weiß.«

»Woher weißt du das alles?«

»Das ist eine lange Geschichte. Wenn ich sie dir erzählen wollte, dann wärest du längst erwachsen und ich wäre noch immer nicht fertig. Und wenn ich endlich fertig wäre, dann wäre das nur der Anfang einer neuen Geschichte. Und immer so weiter.«

»Au ja. Ich will erwachsen werden.«

»Nur wenn ich dich vorher nicht fresse. Also reiß dich zusammen und sei ein artiges Kind.«

»Großmütterchen, warum hast du ein so großes Maul?«

»Weil ich so fleißig und verschwiegen bin.«

»Warum erzählst du mir dann alles?«

»Weil ich nicht will, dass du es weiter erzählst.«

»Deshalb erzählst du mir alles?«

»Ich habe dir nichts erzählt. Das bildest du dir alles nur ein.«