von Lutz Götze
Schuld und Sühne heißt Dostojewskis erster großer Roman, erschienen 1866. In neueren Übersetzungen lautet der Titel Verbrechen und Strafe und entspricht damit genau dem russischen Original Prestuplenije i nakasanije.
Dostojewski begann die Arbeit am Roman im Spätsommer 1865, als er sich in Deutschland aufhielt. Wie immer, hatte er enorme finanzielle Probleme wegen seiner Spielsucht, die er im Casino Wiesbaden austobte und wo auch der zweite Roman Der Spieler entstand.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten wurde der Roman spätestens um 1900 zum Ereignis: Hunderte Übersetzungen, Dramatisierungen und musikalische Bearbeitungen sicherten einen Welterfolg, den der Dichter freilich nicht mehr erlebte. Er starb 1881. Manche Kritiker erklärten ihn zum Dramatiker und stellten ihn William Shakespeare zur Seite.
Die Haupthandlung ist bekannt und in wenige Sätze zu fassen: Rodion Raskolnikoff, ein außerordentlich begabter ehemaliger Jura-Student in Sankt Petersburg, leidet unter seinen ärmlichen Lebensbedingungen, die seiner Vorstellung von einem »außergewöhnlichen Menschen« vollkommen widersprechen. Als ihm obendrein seine geliebte Mutter brieflich mitteilt, die Schwester Dunja leide entsetzlich unter der Anstellung beim Gutsbesitzer Sswidrigailoff, schreitet er zur Tat und beschließt, die Wucherin Aljona Iwanowna zu berauben und zu töten. Deren Schwester Lisaweta Iwanowna kommt unglücklicherweise dazu; also erschlägt Raskolnikoff auch sie. Die Beute vergisst er mitzunehmen.
Bald verfällt Raskolnikoff in Fieber und Dämmerzustände; er muss begreifen, dass er kein »Auserwählter« wie der bewunderte Napoleon ist.
Der Ermittlungsrichter Porphyrij Petrowitsch erkennt schnell, wer der Mörder ist, doch hat er keine Beweise. In ungeheuer psychologisch subtilen Debatten streiten beide miteinander, bis Raskolnikoff begreift, dass er durchschaut ist. Seine Vertraute Ssonja, die ihre Familie durch Prostitution ernährt, rät ihm, zur Polizei zu gehen, um für seine Sünden zu sühnen. Sie folgt ihm schließlich in die Verbannung und beide hoffen auf ein » reines« Leben nach dem Haftende, eine »allmähliche Erneuerung eines Menschen«, möglicherweise als gläubiger Christ. Mit einem knappen Epilog in Sibirien endet der Roman abrupt, nach 750 Seiten: »Das könnte das Thema zu einer neuen Erzählung abgeben. Unsere jetzige aber ist hier zu Ende«, konstatiert der Erzähler.
Die Vielzahl der eng mit der Haupthandlung verknüpften Nebenstränge des Romans verwirrt den Leser; ein Namensverzeichnis der agierenden Personen schafft zumindest teilweise Klärung. Insgesamt wird ein Bild einer dekadenten und dem Untergang geweihten russischen Gesellschaft unmittelbar evident. Hier spielen Dostojewskis frühe Bindungen um 1840 an sozialrevolutionäre, anarchistische und atheistische Kreise hinein, wofür er verhaftet und zum Tode verurteilt worden war. Das Urteil wurde später in eine mehrjährige Verbannungsstrafe umgewandelt.
Was nun macht den Roman so ungeheuer wichtig für die Gegenwart und begründet seine immense Aktualität? Es ist die Unterscheidung Raskolnikoffs in einen »außergewöhnlichen Menschen« und die »gewöhnlichen Menschen«, die er eine »Laus« nennt. Der Außergewöhnliche steht nicht nur außerhalb der Gesetzgebung, sondern erschafft seine eigenen Gesetze und drückt sie der Masse, also den Läusen, auf: Er ist moralisch berechtigt, die gewöhnlichen Menschen zu seinen Zwecken zu gebrauchen, genauer: zu missbrauchen. »Gott ist tot«, bekennt Raskolnikoff, lange vor Friedrich Nietzsche. Im Gespräch mit Ssonja erklärt er:
»Siehst du: ich fragte mich damals immer: warum bin ich so dumm, daß ich, wenn andere dumm sind, und wenn ich es sicher weiß, daß sie dumm sind, nicht selbst klüger sein möchte? Später sah ich ein, Ssonja, daß es zu lange dauern würde, wollte man warten, bis alle klug werden… Ich erkannte auch, daß das niemals der Fall sein wird, daß die Menschen sich nicht ändern, daß niemand sie ändern kann und daß sich die Mühe nicht lohnt!... Das ist ihr Gesetz… Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß der, der an Verstand und Geist fest und stark ist, auch der Herrscher über sie ist! Wer viel wagt, der ist bei ihnen im Recht. Wer auf die Mehrheit spucken kann, der ist bei ihnen auch Gesetzgeber, und wer von allen am meisten wagt, der hat auch vor allen die meisten Rechte… So wird es immer bleiben!... Ich erriet damals, Ssonja, … daß die Macht nur dem gegeben wird, der es wagt, sich zu bücken und sie aufzugreifen, sie einfach zu nehmen… Ich habe einfach getötet; für mich getötet, für mich allein, und ob ich nachher irgend jemandes Wohltäter geworden wäre oder ob ich mein Leben lang wie eine Spinne alle in mein Netz eingefangen hätte, um aus allen die Lebenssäfte auszusaugen, das hätte mir in jenem Augenblick vollkommen gleichgültig sein müssen!... Und vor allem, Ssonja, war es mir nicht ums Geld zu tun, als ich tötete; nicht Geld brauchte ich, sondern vielmehr das andere«.
Raskolnikoff empfand sich mithin als einen der »Auserwählten«, die Gesetze nicht etwa übertreten – also hier den Doppelmord-, weil diese für sie schlicht nicht gelten. Deswegen ist seine Tat für ihn keineswegs abscheulich, sondern gerechtfertigt. Konsequent argumentiert er, viele »Wohltäter« der Gesellschaft hätten, als sie die Macht an sich rissen, im Grunde ob ihrer Verbrechen hingerichtet werden müssen, doch sie wurden akzeptiert, ja: bewundert. Deshalb auch kennt Raskolnikoff keinerlei Reue, sondern beklagt nur, dass er zu schwach war für einen »Außergewöhnlichen«, indem er zur Polizei ging und sein Verbrechen bekannte. Er hätte vielmehr seinen Weg unbeirrt fortsetzen müssen…
Absurdes Theater? Keineswegs! Die Moderne ist voll von diesen »Auserwählten«: Stalin, Hitler, Mao, Pol Pot, Mugabe, heute Lukaschenko, Putin, Orbán und manch andere Diktatoren.
Doch bleiben wir im Lande: Die Corona-Pandemie hat die Zahl jener Naiven und Irregeleiteten, vor allem jedoch der Rechtsextremisten, Identitären, Terroristen, Reichsbürger und sonstiger Demokratiefeinde, sprunghaft ansteigen lassen. Für sie gälten, so proklamieren sie, eigene Gesetze, hingegen nicht die des demokratischen Gemeinwesens, die auf den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität fußen. Sie wollen ein anderes System, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Ein System, in dem derjenige das Sagen hat, der rücksichtslos seine Interessen durchsetzt und dabei über Leichen geht.
Denn die Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen während der letzten Monate sind kein Zeichen von Buntheit des Protestes, sondern das Aufmarschgebiet der Feinde der Demokratie, denen sich einige Naive und Träumer angeschlossen haben und die von den Rädelsführern instrumentalisiert werden. Diese nutzen das weit verbreitete Gefühl aus, Politiker betrieben ihr Geschäft wie Manager: eiskalt und ohne Empfinden für die Sorgen der Menschen. Ihr Wahlspruch sei: »Haltet euch ’raus, wir machen das schon!« Dies führte bislang zum Sich-Abwenden vieler Menschen von der res publica. Jetzt schafft es sich ein Forum: die Straße. Doch der Ruf »Wir sind das Volk« ist keineswegs nur ein Missbrauch der Losung der Montagsdemonstranten, die das DDR-Regine zum Einsturz brachten, sondern ein Ausgrenzen aller anderen Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht an den »Hygiene-Demonstrationen« beteiligen. Sie werden freilich nicht nur entgrenzt, sondern entrechtet. Die Verschwörungsideologen meinen in Wahrheit: »Wir ohne euch!«. Sie meinen: »Wir haben recht! Ihr nicht!«.
Eristische Dialektik
Arthur Schopenhauer hat, unter Verweis auf Aristoteles, in seiner Schrift Eristische Dialektik (1818) dazu das Nötige gesagt:
»Eristische Dialektik ist die Kunst zu disputiren, und zwar so zu disputiren, daß man Recht behält, also per fas et nefas. Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht behalten. Wenn nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies als Widerlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre Beweise geben kann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das Verhältniß umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht. Also die objektive Wahrheit eines Satzes und die Gültigkeit desselben in der Approbation der Streiter und Hörer sind zweierlei….
Woher kommt das? Von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts. Wäre diese nicht, wären wir von Grund aus ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte bloß darauf ausgehn die Wahrheit zu Tage zu fördern, ganz unbekümmert ob solche unsrer zuerst aufgestellten Meinung oder der des Andern gemäß ausfiele: dies würde gleichgültig, oder wenigstens ganz und gar Nebensache seyn…Die angeborne Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskräfte reizbar ist, will nicht haben, daß was wir zuerst aufgestellt sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe. Hiernach hätte nun zwar bloß Jeder sich zu bemühen nicht anders als richtig zu urtheilen: wozu er erst denken und nachher sprechen müßte. Aber zur angebornen Eitelkeit gesellt sich bei den Meisten Geschwäzzigkeit und angeborne Unredlichkeit. Sie reden, ehe sie gedacht haben und wenn sie auch hinterher merken, daß ihre Behauptung falsch ist und sie Unrecht haben; so soll es doch so scheinen als wäre es umgekehrt. Das Interesse für die Wahrheit, welches wohl meistens bei Aufstellung des vermeintlich wahren Satzes das einzige Motiv gewesen, weicht jetzt ganz dem Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch wahr scheinen.«
Rechthaberei und Dialogfähigkeit
Mit der Rechthaberei aber nehmen die Verschwörungsapostel, Identitären und Rechtspopulisten zugleich Abschied vom Grundwert der Demokratie schlechthin, nämlich dem Dialog als alltäglicher Lebensform. Obendrein verwerfen sie die demokratischen Tugenden wie Zuhören, Debattieren sowie die Meinung und Würde des Gesprächspartners tolerieren und anerkennen. Der Aufruf Stéphane Hessels » Empört euch!« wird in sein Gegenteil verkehrt: Nicht das Gespräch zwischen Andersdenkenden wird angestrebt, sondern Hass und Emotionalität treten an die Stelle des sachlichen Argumentes.
Demokratien westlicher Prägung sind heute auf das Äußerste bedroht. Ihre Feinde setzen, wie Raskolnikoff, die Axt an und schrecken, wie er, vor Blutopfern nicht zurück, wie Kassel, Hanau und Halle auf schreckliche Weise bewiesen haben. Die Rattenfänger und ihre gläubigen Mitmarschierer könnten, läsen sie denn, Rodion Raskolnikoff zu ihrem Wortführer erklären, müssten dabei freilich Dostojewskis Hoffnung, der christliche Glaube könne den Verbrecher wieder zu Liebe und Barmherzigkeit zurückführen, fallen lassen. Eine vage Vorstellung.
Demokraten von links bis rechts sind daher besser beraten, den Rechtsstaat mit allen legitimen Mitteln zu verteidigen. Der Staat seinerseits muss wehrhaft sein. Bagatellisierungen jener Art, es handele sich hier lediglich um ein paar Chaoten von rechts, sind nicht erlaubt. Principiis obsta!
Noch ein zweiter Aspekt in Dostojewskis Erstlingsroman ist von hoher Aktualität: In der Verbannung träumt Rodion Raskolnikoff von einer die Welt verheerenden Seuche:
»Ihm träumte in der Krankheit, daß die ganze Welt dazu verurteilt war, einer schrecklichen, unerhörten und nie dagewesenen Pestilenz, die aus den Tiefen Asiens über Europa kam, zum Opfer zu fallen. Alle sollten zugrunde gehen, außer einigen sehr wenigen Auserwählten. Es waren seltsame Trichinen aufgetaucht, mikroskopische Lebewesen, die sich in den Menschenleibern einnisteten… Die Menschen, die sie in sich aufgenommen hatten, gebärdeten sich sofort wie Besessene und Wahnsinnige. Aber noch nie, noch nie hatten Menschen sich für so klug gehalten und für so unerschütterlich in der Wahrheit, wie es diese Angesteckten taten. Nie hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und Glaubenssätze für unumstößlicher gehalten. Ganze Ortschaften, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und gebärdeten sich wie Wahnsinnige. Alle waren in Aufregung und verstanden einander nicht, ein jeder meinte, nur er allein sei im Besitz der Wahrheit. Hier und da liefen Menschen zu Haufen zusammen, einigten sich über etwas, schwuren, einander nicht zu verlassen – aber gleich danach begannen sie etwas ganz anderes zu tun, als was sie soeben beschlossen hatten, begannen sie einander zu beschuldigen, wurden handgemein, fochten und schlugen sich gegenseitig tot… Hungersnot trat ein. Alle und alles ging zugrunde. Die Pest schwoll an und verbreitete sich weiter und weiter. Retten konnten sich in der ganzen Welt nur einige Menschen, das waren die Reinen und Auserwählten, denen bestimmt war, ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu begründen, die Erde zu erneuern und zu säubern.«
Man gewinnt den Eindruck, Dostojewski habe diese Passagen unter dem Eindruck der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie geschrieben. Nahezu alle Wahnphantasien des Sträflings Raskolnikoff sind heute Wirklichkeit geworden, betrachtet man Spruchbänder und Symbole der Demonstranten: Da werden der Medienmogul Bill Gates zum eigentlichen Verursacher der Seuche erklärt sowie Angela Merkel und der Virologe Christian Drosten in Häftlingskleidung gezeigt. Da wird der Judenstern der Nationalsozialisten entweiht und zum Symbol der Impfgegner entstellt; da wird die Seuche schlicht als Fälschung bezeichnet oder zu einer Art »kleiner Grippe« simplifiziert, wie es die Präsidenten Trump und Bolsonaro über Monate hinweg taten. Allenthalben Wahn anstelle von Klarheit! Der Gott des Rausches, Dionysos, triumphiert scheinbar über jenen der Vernunft, Apollon.
Es bleibt den Demokraten weltweit nichts als das Beharren auf der Vernunft und dem starken Bekenntnis zu einer aufgeklärten Gesellschaft, die Klarheit anstelle des ubiquitären Rausches einfordert: Dialog statt Hass, Demokratie als alltägliche Lebensform statt der Ausgrenzung und Entrechtung großer Teile der Bevölkerung: mühselig, doch überlebensnotwendig.