von Daniel Bensaïd*
Brav, alter Maulwurf! Wühlst so hurtig fort? O, trefflicher Minierer!
William Shakespeare: Hamlet
Unser alter Freund ist kurzsichtig. Er ist auch hämophil. Doppelt geschwächt und doppelt zerbrechlich. Und doch setzt er frohen Mutes, geduldig und hartnäckig, von Tunnel zu Stollen, seinen Weg bis zum nächsten Ausbruch fort.
Das 19. Jahrhundert erlebte Geschichte als einen Pfeil, der in Richtung Fortschritt zeigte. Das Schicksal der Antike sowie die göttliche Vorsehung verloren an Bedeutung angesichts der nüchternen Aktivität einer modernen menschlichen Art, die die Bedingungen ihrer eigenen unwahrscheinlichen Existenz produzierte und reproduzierte.
Der geschärfte Sinn für historische Entwicklung wurde in einer langfristigen Bewegung der Säkularisierung geboren. Himmlische Wunder verloren sich unter irdischen Möglichkeiten. Die Gegenwart wurde nun weniger durch die Vergangenheit beleuchtet, sondern eher durch die Zukunft gerechtfertigt. Die Ereignisse erschienen nicht mehr als übernatürlich. Waren sie bisher heilig, wurden sie nun profan.
Die Eisenbahn, das Dampfschiff oder der Telegraf trugen alle zum Gefühl bei, dass Geschichte sich beschleunigt und die Entfernungen kürzer wurden, als ob die Menschheit genügend Tempo angesammelt hätte, um sich loszureißen. Es war das Zeitalter der Revolutionen.
Da war die Revolution in Transport und Verkehr: In knapp einem Viertel Jahrhundert – zwischen 1850 und 1875 – entstanden die großen Eisenbahngesellschaften, wurden Reuters und Cook gegründet. Die Rotationsmaschine vervielfachte die Auflagenzahlen. Von nun an war es möglich, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Der Held der Moderne – der Entdecker – verkündete den klimatisierten Exotismus der Reiseveranstalter.
Da war die Revolution der Rohstoffe: Mit dem Triumph der Eisenbahn kam die Herrschaft von Kohle, Glas und Stahl, den Palästen aus Kristall und den Kathedralen aus Metall. Hochgeschwindigkeitstransport, Veränderungen in der Baukunst und die Konstruktion eines öffentlichen Gesundheitswesens veränderten das Gesicht der Stadt und transformierten ihre Beziehung zu den Vorstädten.
Da war die Revolution des Wissens: Die Theorie der Evolution und Entwicklungen in der Geologie veränderten die Stellung des Menschen in der Naturgeschichte. Das erste Gemurmel der Ökologie offenbarte die ausgetüftelte metabolische Beziehung zwischen der Gesellschaft und ihrer Umwelt. Die Thermodynamik eröffnete neue Möglichkeiten der Energiekontrolle. Die Blüte der Statistik versorgte die kalkulierende Vernunft mit einem Instrument für Quantifizierung und Messtechniken.
Da war die Revolution der Produktion: Das »Zeitalter des Kapitals« ermöglichte die rasante Zirkulation von Investitionen und Waren, ihren beschleunigten Umschlag, die großen Weltausstellungen, die Massenproduktion und – mit der Eröffnung der ersten Warenhäuser – die Anfänge des Massenkonsums.
Es war auch eine Zeit der Raserei an den Börsen, der Spekulation mit Grundbesitz, von schnell gewonnenen und ebenso schnell verlorenen Reichtümern, der Skandale, der Affären, der krachenden Konkurse, es war die Zeit der Pereires, der Saccards, der Rothschilds und der Boucicauts. Und es war die Ära der Großreiche und der kolonialen Aufteilung der Welt, als die Armeen Territorien und Kontinente zerstückelten.
Da war die Revolution der Arbeitsmethoden und der sozialen Verhältnisse: die mechanisierte Industrie eroberte die Wertstatt. Das moderne Proletariat der Fabriken und der Städte trat an die Stelle der Klasse der Handwerker wie Schneider, Schreiner, Schuster oder Weber. Dieses Wachstum der kapitalistischen Globalisierung rief zwischen 1851 und 1873 die Geburt einer neuen Arbeiterbewegung hervor, die 1864 mit der Errichtung der internationalen Arbeiterassoziation berühmt-berüchtigt wurde.
Dieses erstaunliche Vierteljahrhundert erlebte auch die Industrialisierung des Waffenhandels, worin sich die »Industrie des Gemetzels« und der totale Krieg bereits erahnen ließen. Es war das Zeitalter des sozialen Verbrechens, das »kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht … weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht … Aber er bleibt Mord.« (Friedrich Engels) Zwischen Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle zeigen das Auftauchen von Detektivgeschichten, die Entwicklung rationaler Untersuchungsmethoden und die wissenschaftliche Verbesserung der Ermittlungstechniken die geistige Haltung in dieser Zeit mit ihren städtischen »Mysterien«: Die Beute wird von einer Hand zur nächsten weitergereicht und alle Spuren der schuldigen Seite sind in der Anonymität der Masse verloren.
Die Eisenbahn war das perfekte Symbol und Sinnbild dieses Ansturms in Richtung Technologie und Profit. Ins Leben gerufen, um die Zukunft auf den Gleisen des Fortschritts zu erobern, erschienen diese Revolutionen als die stürmischen Lokomotiven der Geschichte.
Das letzte Viertel des 20.Jahrhunderts besitzt eine Menge Analogien mit dem dritten Viertel des 19.Jahrhunderts, wenn auch in völlig anderer Größenordnung. Telekommunikation, Satelliten und das Internet sind die zeitgenössischen Äquivalente des Telegrafen und der Eisenbahn. Neue Energiequellen, Biotechnologie und die Umwälzung der Arbeitsmethoden revolutionieren wiederum die Produktion. Industrielle Produktionstechniken machen den Konsum zunehmend zu einem Massenphänomen. Die Entwicklung von Kredit und massenhaftem Marketing erleichtert die Zirkulation von Kapital. Das Resultat ist ein neuer Goldrausch (im Bereich der Computer), eine Fusion der obersten Ränge des Staates mit den finanziellen Eliten und eine unerbittliche Spekulation mit allen dazugehörigen Mafiaskandalen und spektakulären Konkursen.
Die neue Ära kapitalistischer Globalisierung bringt die Kommodifizierung der Welt und einen verallgemeinerten Fetischismus mit sich. Die Zeit für eine richtungsweisende Überwindung nationaler und internationaler Grenzen ist gekommen, für neue Kräfte imperialer Dominanz, die bis hinauf zu den Sternen bewaffnet sind. Allerdings hat der Traum dieser zwielichtigen Ära bereits aufgehört, ein Traum des unendlichen Fortschritts und großer historischer Versprechungen zu sein. Dazu verdammt, auf dem Glücksrad im Kreis zu laufen, entzieht sich unsere soziale Vorstellungskraft der Geschichte und flüchtet – von Kubrick zu Spielberg – in den Raum. Das Gewicht der Niederlagen und der Katastrophen reduziert jedes Ereignis zu einem verstaubten Pulver unbedeutender Nachrichtenbeiträge; zu gesunden Häppchen, die im Augenblick ihrer Aufnahme bereits wieder vernachlässigt werden; zu flüchtigen Moden und zu launenhaften Anekdoten.
Opfer der trostlosen Verwüstung einer hoffnungslosen Religion, einer kommerzialisierten Spiritualität, eines Individualismus ohne Individuen, Opfer der Standardisierung der Unterschiede und der formierten Meinungen erfreut sich diese Welt im Niedergang nunmehr weder an »herrlichen Sonnenaufgängen« noch an triumphaler Morgenröte. Es ist, als ob die Katastrophen und Enttäuschungen des vergangenen Jahrhunderts jeden Sinn für Geschichte erschöpft und jede Erfahrung der Ereignisse zerstört hätten – nur noch die Illusionen einer pulverisierten Gegenwart zurücklassend.
Die Verdunkelung der Zukunft gefährdet die Tradition, die nun durch den Konformismus der Gedenkfeierlichkeiten in Beschlag genommen wird. Die Vergangenheit, sagt Paul Ricoeur in La Mémoire, l’histoire, l’oubli (Paris 2000), wird nicht länger erzählt, um uns ein Ziel zu setzen, sondern eher um eine »Frömmigkeit der Erinnerung« zu etablieren, ein andächtiges Gedenken und eine konventionelle Auffassung von Vernünftig-Sein. Dieser Fetischismus der Erinnerung behauptet, die kollektive Amnesie einer Epoche abzuwenden, die zu Schnappschüssen eines ewigen Jetzt verkommen ist.
Von jeder kreativen Perspektive gelöst, verwandelt sich kritische Erinnerung in ein müdes Ritual. Es verliert »das unerschöpfliche Bewusstsein von allem, was nicht passiert ist«. Das postmoderne Labyrinth hat deshalb kein Bewusstsein von »den dunklen Kreuzungen«, wo »die Toten antworten, neue Ankündigungen überbringen«. Geschichte, die nicht länger »auf den Status der Legende gedrängt wird«, scheint nicht mehr von einem »inneren Licht beleuchtet zu werden«, die den »Reichtum der Zeitzeugen« enthält, die »vorwärts in Richtung Revolution und Apokalypse blicken«. Sie zerfällt in einen Staub von Bildern oder in die verstreuten Teile eines Puzzles, die nicht mehr zusammen passen.
Der Zug des Fortschritts ist entgleist. In der Sage der Eisenbahn haben böse Viehtransporter das eiserne Pferd verfinstert. Schon für Walter Benjamin war Revolution nicht mehr mit einem von einer unbezwingbaren Maschine gewonnenen Wettrennen vergleichbar, sondern eher mit einem Warnsignal, das abgeschossen wurde, um das wahnsinnige Wettrennen in Richtung Katastrophe aufzuhalten.
Genau wie das Blatt die Eiche überlebt, so gewinnt der Maulwurf gegen die Lokomotive. Auch wenn er müde aussieht, unser alter Freund buddelt immer noch. Die Verdunkelung der Ereignisse hat der versteckten Arbeit des Widerstandes kein Ende bereitet, der diskret, wenn alles zu schlafen scheint, den Weg für neue Rebellionen bereitet. So wie die viktorianische Ära von »Wachstum ohne Entwicklung« die Erste Internationale hervorbrachte, so wie der gedämpfte soziale Krieg im Aufstand der Kommunarden explodierte, genauso brauen sich auch in den großen Umwälzungen der Gegenwart neue Widersprüche zusammen.
Wie beschränkt sie auch erscheinen, die zu jedem Zeitpunkt aktiven marginalen Verschwörungen sind auch Gärmittel für die Wut kommender Tage. Sie verkünden neue Ausbrüche. Sie sind der Ort jenes »hart erkämpften Fortschritts«, von dem Ernst Bloch spricht, »eine Wanderung, ein Streifzug, voller tragischer Wirren, brodelnd, mit Blasen bedeckt als Folge von Rissen, Explosionen, von isolierten Kämpfen« (Paul Ricoeur). Es ist ein eigensinniger Fortschritt, erzeugt aus unversöhnlichen Widerständen, aus gezielten Wanderungen entlang von Stollen, die scheinbar ins Nichts führen und die sich dennoch ins Tageslicht hin öffnen, in ein erstaunliches, blendendes Licht.
Folglich bereiteten die Untergrund-Ketzereien von Flagellanten, Dolcianern und anderen Beguinen den Weg für Leute wie Thomas Münzer (1490–1525) und seiner „apokalyptischen, zur Aktion aufrufenden Propaganda“, ehe seine Exekution das dauerhafte Bündnis zwischen reformierten Priestern und ländlichen Großgrundbesitzern festigte. Nach der egalitären Revolte der Leveller zementierte die große Angst der besitzenden Klassen die puritanische heilige Allianz zwischen dem Bürgertum und der Aristokratie in England. Nach dem kreativen Umsturz der französischen Revolution kam die thermidorianische Periode der Restauration. Auf die große Hoffnung der Oktoberrevolution folgte die Zeit der bürokratischen Reaktion, mit all ihren Prozessen und Säuberungen, ihren Verzerrungen und Fälschungen, ihren verwirrenden Lügen.
Die Wiederkehr des Thermidors verriegelte das Tor der Möglichkeiten, wann immer es sich auch nur einen Spalt geöffnet hatte. Wie auch immer, sein »stumpfsinniger Friede mit der Welt« hat den eigensinnigen Maulwurf niemals vollständig erreicht, der im Gegenteil durch das eigene Versagen des Thermidors immer wieder neugeboren wird. Für die Flammen von 1830 oder 1848 dauerte es keine 30 Jahre, bis die von unterschiedlichen versteckten Gruppen am Glimmen gehaltene Asche wieder entfacht werden konnte. Es dauerte nur wenige Jahre, bis der jakobinische Radikalismus mit neuen Interessen beladen wieder auftauchte – die Ludditen, dann die Chartistenbewegung der englischen Arbeiterklasse. Weniger als 20 Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Kommune und der Verbannung der Überlebenden war die sozialistische Bewegung wieder geboren, als ob sich eine zeitlose Nachricht von Generation zu Generation einer langen Linie konspirativen Flüsterns entlang ausgebreitet hätte.
Ob fehlgeschlagen oder verraten, Revolutionen können nicht leicht aus der Erinnerung der Unterdrückten verdrängt werden. Sie überdauern in verborgenen Formen der Opposition, geisterhaften Anwesenheiten, aufdringlichen Abwesenheiten, in der molekularen Beschaffenheit eines plebejischen öffentlichen Raums, mit seinen Netzwerken und Passwörtern, mit seinen nächtlichen Verabredungen und seinen kolossalen Explosionen. »Man könnte sich vorstellen«, warnte ein scharfsinniger Beobachter nach dem Zusammenbruch des Chartismus, »dass alles ganz ruhig ist, dass sich nichts bewegt. Aber es ist diese Ruhe, während der die Saat aufgeht, wenn Republikaner und Sozialisten ihre Vorstellungen in die Köpfe der Leute befördern.« (Henry Mayhew.)
Wenn Resignation und Niedergeschlagenheit auf die Ekstase der Ereignisse folgt, und auch die Aufregung der Liebe durch die Kraft der Gewohnheiten abstumpft, ist es absolut wesentlich, »sich nicht an die Momente der Erschöpfung anzupassen«. Wir sollten niemals die Macht der Müdigkeit unterschätzen – nicht der alltäglichen Müdigkeit, die zum Schlaf der Gerechten führt, sondern der großen historischen Erschöpfung, weil man zulange »die Geschichte gegen den Strich gebürstet« hat. Solcherart war die Erschöpfung von Moses, als er an der Grenze zu Kanaan Halt machte, um »den Schlaf der Erde zu schlafen«, die Erschöpfung von Saint-Just, als er in der Stille seiner letzten Nacht eingesperrt war. Oder die Erschöpfung von Blanqui, als er im Kerker von Taureau mit dem Wahnsinn flirtete.
Solcherart war auch die Erschöpfung, die im August 1917 auf die Schultern des jungen peruanischen Publizisten José Carlos Mariátegui fiel: »Wir werden krank vor Monotonie und Langeweile. Und wir erleben die immense Trostlosigkeit, nicht das Echo auch nur des kleinsten Ereignisses zu hören, das unseren Verstand wiederbeleben und unsere Schreibmaschinen zum Rattern bringen könnte. Schwäche gleitet in die Dinge und in die Seelen. Es bleibt bloß Gegähne, Verzweiflung und Erschöpfung. Wir leben in einer Zeit der klandestinen Unmutsäußerungen und der heimlichen Witze.« Dieser begeisterte Chronist wiedererwachender Ereignisse fand dieselben einige Monate später aus erster Hand im alten Europa, damals im Todeskampf von Krieg und Revolution.
In reaktionären Zeiten wird der eigensinnige Fortschritt zu einer »langfristigen, langsamen Bewegung der Ungeduld, ohne selbst ungeduldig zu sein«, langsame, hartnäckige Ungeduld, hartnäckig im Konflikt mit der Ordnung, die damals in Berlin herrschte und die sich bald auf Barcelona, Jakarta oder Santiago stürzte. »Ordnung herrscht in Berlin! verkündet triumphierend die bürgerliche Presse … verkünden die Offiziere der ‹siegreichen Truppen›, denen der Berliner kleinbürgerliche Mob in den Straßen mit Tüchern winkt, mit Hurra zujubelt … Wer denkt da nicht an den Siegesrausch der Ordnungsmeute in Paris, an das Baccanal der Bourgeoisie auf den Leichen der Kommunekämpfer … Ordnung herrscht in Warschau! Ordnung herrscht in Paris! Ordnung herrscht in Berlin! So laufen die Meldungen der Hüter der Ordnung … von einem Zentrum des weltgeschichtlichen Kampfes zum andern.« (Rosa Luxemburg)
Dann beginnt eine Zeit nicht der vorübergehenden Reduktion der Geschwindigkeit, sondern einer »unvermeidlichen revolutionären Langsamkeit«, des Reifens, einer dringlichen Geduld, die das Gegenteil von Erschöpfung und Gewohnheit ist: der Versuch auszuharren und weiterzumachen ohne sich an die Dinge zu gewöhnen, ohne sich mit Habitus und Routine zu befriedigen, indem man sich fortlaufend selbst überrascht, auf der Jagd nach »diesem wünschenswerten Unbekannten« (Dionys Mascolo), das ständig davon schlüpft.
»Zu welchem Zeitpunkt könnte die Wahrheit wieder zum Leben zurückkehren? Und warum sollte sie zum Leben zurückkehren?«, fragte sich Benjamin Fondane im tiefsten Herz der Finsternis (L’Écrivain devant la révolution, Paris 1997). Wann? Niemand weiß das. Die einzige Gewissheit ist, dass die Wahrheit „im Spalt zwischen der Wirklichkeit und der Legalität“ verbleibt.
Für wen? Es gibt keine vorbestimmten Erben, keine natürlichen Nachfahren, nur ein Vermächtnis für die Suche nach Autoren, auf jene wartend, die in der Lage sind, die Wahrheit weiter zu tragen. Dieses Vermächtnis ist jenen versprochen, die, in den Worten von E.P. Thompson, in der Lage sind, die Besiegten vor der »äußerst herablassenden Haltung der Nachwelt« zu retten. Denn »das Erbe ist kein Besitz, kein Wertgegenstand, den man erhält und dann zur Bank bringt«. Es ist »eine aktive, selektive Zustimmung, die manchmal wiederbelebt und bestätigt werden kann – öfter durch ungesetzliche Erben als durch gesetzliche«.
Das Ereignis ist »immer in Bewegung«, aber es muss auch Tage von Donner und Blitz geben, wenn der teuflische Kreislauf von Fetischismus und Vorherrschaft durchbrochen werden soll. Der Morgen nach einer Niederlage kann sehr leicht zu dem überwältigenden Gefühl führen, dass die Dinge wieder und wieder von vorne beginnen müssen, oder dass alles in eine »verewigte Gegenwart« gesperrt ist. Wenn auch das Universum sich scheinbar endlos wiederholt, auf der Stelle tritt, so bleibt der Hoffnung dennoch ein »Kapitel der Veränderung« erhalten. Selbst wenn wir glauben, dass nichts mehr möglich ist, selbst wenn wir daran verzweifeln, dieser unnachgiebigen Ordnung der Dinge entkommen zu können, selbst dann hören wir niemals auf, auf ein mögliches Sein gegen die Armut des tatsächlichen Seins zu setzen. Denn »niemand kann die Schande, nicht mehr länger frei sein zu wollen, einfach akzeptieren« (J. Derrida/M. Guillaume/J.-P. Vincent: Marx en jeu, Paris 1997).
Nach 20 Jahren liberaler Gegen-Reform und Restauration scheint die auf dem Markt basierende Ordnung unausweichlich zu sein. Die ewige Gegenwart scheint keine Zukunft mehr zu haben, und der absolute Kapitalismus keine Außenseite. Wir sind beschränkt auf das nüchterne Management einer fatalistischen Ordnung, reduziert auf eine unendliche Fragmentierung der Identitäten und Gemeinschaften, gezwungen, sich von allen Programmen und Plänen zu distanzieren. Eine heimtückische Rhetorik der Resignation wird von Links, von Rechts und von der Mitte benutzt, um spektakuläre Kehrtwenden und schandhafte Übertritte, um Reue und Buße zu rechtfertigen.
Und dennoch! Inspiriert durch eine neue Art, den Widerstand und die Ereignisse zu denken, stemmt sich eine radikale Kritik der bestehenden Ordnung gegen die Strömung. Im Teufelskreis der Niederlagen sammeln sich bei denen, die in defensiven Kämpfen engagiert sind, manchmal Zweifel an der seit so langer Zeit kommenden Gegenoffensive. Die Hoffnung auf ein erlösendes Ereignis trennt sich dann vom alltäglichen Widerstand, wird wieder entweltlicht und vergöttlicht und verknöchert in der Erwartung auf ein unmögliches Wunder. Wenn die Gegenwart ohne Vergangenheit oder Zukunft umhertreibt und wenn »sich die Tatkraft aus einer gegebenen Epoche zurückzieht, lässt sie eine kollektive Ekstase und einen spirituell beladenen Wahnsinn in der Welt zurück« (Karl Mannheim).
Ohne die Verbindung zu irdischen Kämpfen gegen die Ordnung der Dinge läuft der Wunsch nach Veränderung der Welt Gefahr, sich in einen Akt des Glaubens und des himmlischen Willens zu verwandeln. Dann kommt die nervtötende Prozession der glattzüngigen Zaubertrankverkäufer und Scharlatane, der Feuerschlucker und Zähnezieher, der Taschendiebe und Halsabschneider, der Reliquienverkäufer und Wahrsager, der New Age-Fantasten und Halbgläubigen.
Das passierte nach 1848, als die Achtundvierziger einer Sentimentalen Erziehung sich den Geschäften und ihrer Karriere zuwandten. Das passierte nach 1905, als enttäuschte Aktivisten zu »Gottessuchern« wurden. Das passierte nach dem Mai 1968, als es gewissen kleinmütigen Propheten in den Kopf kam, mit den Engeln zu spielen, nachdem sie zu lange mit den Monstern gespielt hatten. In solchen Situationen lässt sich annehmen, dass ein religiöser Aufschwung und eine Mythologie des Kitsches die Lücken füllen werden, die durch die Enttäuschungen der großen Hoffnungen zurückgelassen wurden.
Entgegen der Selbstverleugnung und ihren endlosen Rechtfertigungen werden die an der Politik des Widerstandes und der Ereignisse Beteiligten niemals damit aufhören, nach den Ursachen für einen Verlust der Vernunft zu suchen. Aber das Auseinanderklaffen der getreulichen Wiedergabe der Ereignisse ohne historische Bestimmung einerseits, vom Widerstand ohne jeglichen Erwartungshorizont andererseits, ist mit einer doppelten Bürde beladen.
In gewisser Hinsicht kann der Widerstand eine unendliche Anzahl von Formen annehmen: von konkreter Kritik existierender Realität zu einer abstrakten Utopie ohne historische Wurzeln, von einem aktiven Messianismus zur beschaulichen Erwartung des niemals kommenden Messias, von einer ethischen Politik zu einer entpolitisierten Ethik, von Prophezeiungen, die jegliche Gefahr bannen wollen, zu Vorhersagungen, die für sich beanspruchen, die Geheimnisse der Zukunft zu entschlüsseln.
Was jene Ereignisse betrifft, deren politische Bedingungen ausweichend und kompromittiert wirken, ist es nur zu verlockend, sie als Momente der reinen Zufälligkeit ohne Verbindungen zu Notwendigkeiten oder als wunderbare Invasion unterdrückter Möglichkeiten zu verstehen.
Thermidorianische Zeiten bringen bekanntermaßen eine Verhärtung der Herzen und eine Schwächung der Bäuche mit sich. Unter solchen Umständen haben viele Menschen der Annahme, dass sich alles zum Schlechten wenden werde, nichts mehr entgegenzusetzen – außer der Bereitschaft, sich mit den kleineren Übeln zufrieden zu geben. Wenn das passiert, gratulieren sich die »schlappen Monster«, zwinkern sich an und klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Dann nimmt der verlassende Tartuffe, „der alte Tartuffe, der klassische Tartuffe, der klerikale Tartuffe« »den zweiten Tartuffe, den Tartuffe der modernen Welt, den second-hand Tartuffe, den humanitären Tartuffe, den in jeder Hinsicht anderen Tartuffe« (Charles Péguy) an der Hand. Diese Allianz der verwandten Tartuffes kann sehr lange dauern, »einer den anderen tragend, bekämpfend, unterstützend, fütternd«.
Die Verehrung für die Siege und die Sieger geht Hand in Hand mit dem Mitleid für die Besiegten, solange diese ihrer Rolle als leidende Opfer verhaftet bleiben, solange diese nicht durch die Idee verführt werden, Handelnde in ihrer eigenen Version von Geschichte zu werden.
Wie auch immer, selbst in den schlimmsten Trockenzeiten und an den ausgedörrtesten Plätzen gibt es immer einen Wasserlauf – vielleicht auch nur ein Rinnsal – der ein überraschendes Wiederaufleben ankündigt. Auch hier müssen wir wieder unterscheiden zwischen einem rebellischen Messianismus, der niemals aufgibt, und einem beschämenden Millenarismus, der stattdessen auf das große Jenseits blickt. Wir müssen immer unterscheiden zwischen den Besiegten und den Gebrochenen, zwischen »siegreichen Niederlagen« und dem ungelinderten Kollaps. Wir dürfen die Tröstlichkeit einer Utopie nicht verwechseln mit Formen des Widerstands, die eine »illegale Tradition« erhalten und eine »geheime Überzeugung« weitertragen.
Es gibt immer neue Anfänge, Momente der Erholung und der Erneuerung. In den dunklen Zeiten von Wechsel und Übergang verbinden sich weltliche und spirituelle Bestrebungen, Vernunft und Leidenschaft, zu einer explosiven Mischung. Versuche, das Alte zu sichern, werden mit dem ersten Stammeln des Neuen vermischt. Selbst in den düstersten Augenblicken liegt die Tradition der Erhebung niemals weit hinter der Tradition des Niedergangs zurück. Das verborgene Arrangement des ununterbrochenen Gedichts der »wahrscheinlichen Unmöglichkeiten« endet niemals.
Diese hartnäckige Hoffnung darf nicht mit der selbstgefälligen Zuversicht der Gläubigen oder der »traurigen Leidenschaft« von Spinoza verwechselt werden. Ganz im Gegenteil hat sie nur Bestand als Wirkung einer »bewältigten Verzweiflung«. Denn »um bereit zu sein, die Hoffnung auf etwas Untrügerisches zu setzen«, muss man zuerst an den eigenen Illusionen verzweifeln. Desillusioniert und von Irrtümern befreit wird Hoffnung »eine wesentliche und entgegengesetzte Opposition zur Gewohnheit und Verweichlichung«. Eine solche Hoffnung ist dazu gezwungen, kontinuierlich »mit Gewohnheiten zu brechen«, kontinuierlich »die Mechanismen der Gewohnheiten« abzubauen und neue Anfänge in Gang zu setzen, »genauso wie die Gewohnheit überall Beendungen und Todesfälle einfließen lässt« (Charles Péguy).
Durch das Brechen mit Gewohnheiten behält man die Fähigkeit, sich selbst in Erstaunen zu versetzen. Es bedeutet sich selbst zu erlauben, sich überraschen zu lassen.
Diese unpassenden Ausbrüche, in denen sich die Kontingenz der Ereignisse einen Weg durch die unzureichenden, aber notwendigen historischen Bedingungen sucht, schlagen eine Bresche in die unveränderliche Ordnung der Strukturen und der Dinge.
Krise? Welche Krise gibt es heute? Es ist eine historische Krise, eine Krise der Zivilisation, eine ausgedehnte und anhaltende Krise, die sich weiter und weiter schleppt. Unsere schlecht passende Welt platzt aus allen Nähten. Wie H.G. Wells vorhersagte, hat sich die Kluft zwischen unserer Kultur und unseren Erfindungen weiter vergrößert, wodurch sich im Zentrum der Technologie und des Wissens eine beunruhigende Lücke zwischen fragmentierter Vernunft und globaler Irrationalität auftut, zwischen politischer Vernunft und technologischem Wahnsinn.
Trägt diese Krise die Keime einer neuen Zivilisation in sich? Genauso wie sie auch mit unbekannten Barbareien schwanger geht. Wer wird die Oberhand gewinnen? Die Barbarei liegt einige Längen voran. Es wird schwieriger zu trennen zwischen Zerstörung und Aufbau, zwischen dem Todeskampf des Alten und den Geburtswehen des Neuen, »da die Barbarei noch niemals solche mächtigen Mittel zur Verfügung hatte, um die Enttäuschungen und Hoffnungen einer Menschheit auszubeuten, die Zweifel gegenüber sich selbst und gegenüber der Welt hat« (Georges Bernanos). Wir ertasten uns den Weg durch dieses ungewisse Halbdunkel, irgendwo zwischen der Dämmerung und dem Tagesanbruch.
Ist es einfach eine Krise der Entwicklung? Oder ist es weniger eine Art von Unzufriedenheit innerhalb der Zivilisation als vielmehr ein Schmerz, der Mythen entstehen lässt, »die die Erde mit ihren gewaltigen Füßen erzittern lassen?« Wenn eine neue Gesellschaft zur Vorherrschaft gelangt, darf die alte nicht vollständig verloren, verlassen und verachtet werden. Sie muss nicht nur verteidigt, sondern unablässig neu erfunden werden.
Der eigensinnige alte Maulwurf wird die ungestüme Lokomotive überleben. Seine pelzige, runde Form wird gegen die metallische Kälte der Maschine gewinnen, seine gewissenhafte, gute Natur wird gegen das rhythmische Klirren der Räder, sein geduldiges Lächeln über den kichernden Stahl den Sieg davon tragen.
Der Maulwurf ist der gottlose Messias. Der Messias ist ein Maulwurf, kurzsichtig und eigensinnig. Die Krise ist der Maulwurfshügel, der plötzlich aufbricht.
Die Menschen wenden sich an die Wahrsager, wenn sie keine Propheten mehr haben.
Chateaubriand
François Furet beschließt sein Buch Das Ende der Illusion mit einem melancholischen Urteil: »Am Ende des 20. Jahrhunderts kann das demokratische Individuum nur zusehen, wie eine göttlich sanktionierte Ordnung der Geschichte bis in die Knochen erzittert.« Zur unklaren Ahnung von Gefahr gesellt sich »der Skandal einer verschlossenen Zukunft« und »wir finden uns dazu verurteilt, in jener Welt zu leben, in der wir leben«. Das Kapital scheint für den Rest unserer Zeit zum dauerhaften Horizont geworden zu sein.
Es wird kein Danach mehr geben, kein Anderswo. Der Tod des Ereignisses. Das Ende der Erzählung. Das Ende der Geschichte. Unglücklich bis zum Ende des Lebens.
Tatsächlich aber gibt es immer Konflikt und Widerspruch, gibt es immer Unzufriedenheit mitten in der Gesellschaft und Krise mitten in der Kultur. Es gibt immer welche, die die Sklaverei zurückweisen und der Ungerechtigkeit widerstehen.
Von Seattle nach Nizza, von Millau nach Porto Alegre, von Bangkok nach Prag, von der Organisation der Arbeitslosen zur Mobilisierung der Frauen nimmt eine sonderbare Geopolitik Gestalt an, und wir wissen nicht, welche Ereignisse ihr folgen werden. Der alte Maulwurf buddelt weiter.
Hegel lenkt unsere Aufmerksamkeit auf jene »stille und verborgene« Revolution, die jeder Entwicklung neuer Denkarten vorangeht. Die geschickten Klauen des Maulwurfs graben sich durch die unvernünftigen Umwege der Geschichte hindurch ihren eigenen Weg der Vernunft. Der Maulwurf ist nicht in Eile. Er »muss sich nicht beeilen«. Er benötigt »lange Zeitspannen« und er hat »alle Zeit die er braucht«. Wenn der Maulwurf einen Schritt zurückweicht, dann nicht, um einen Winterschlaf zu halten, sondern um sich durch eine andere Öffnung durchzugraben. Seine Drehungen und Biegungen ermöglichen es ihm, den Platz zu finden, wo er ausbrechen kann. Der Maulwurf verschwindet niemals, er lenkt lediglich unterirdisch.
Negri und Hardt schreiben in Empire, dass die Metapher des Maulwurfs eine Figur der Moderne sei. Sie sagen, dass diese Figur durch die Postmoderne überholt sei: »Wir sind zu der Vermutung gelangt, dass der alte Maulwurf tot ist.« Sein Buddeln weicht »den unendlichen Wellenbewegungen der Schlange« und anderen reptilischen Kämpfen. Aber ein solches Urteil hat den Beigeschmack jener chronologischen Illusion, wonach die Postmoderne auf die Moderne folge, die seitdem ins Museum für altertümliche Geschichte verfrachtet worden ist. Aber der Maulwurf ist ambivalent. Er ist sowohl modern als auch postmodern. Er wuselt diskret in seinen »unterirdischen Rhizomen«, nur um grollend aus seinen eigenen Kratern hervorzubrechen.
Unter dem Vorwand, die großen Erzählungen der Geschichte aufzugeben, führt der philosophische Diskurs der Postmoderne selbst zu Mystik und Mystagogen: wenn eine Gesellschaft keine Propheten mehr hat, wendet sie sich stattdessen an die Wahrsager. Nach den Massakern im Mai 1848 und dem 18.Brumaire des jungen Napoleon wurde die sozialistische Bewegung in ähnlicher Weise durch die »Christolatrie« vereinnahmt. »Schau dir diese Nachkommenschaft von Voltaire an«, schrieb ein ehemaliger Kommunarde, »diese ehemaligen Geißeln der Kirche sitzen nun zusammengekauert am Tisch, die Hände in frommer Einheit gefaltet warten sie Stunde um Stunde, auf dass jemand sich empört und auf die Füße kommt. Religion in all ihren Formen ist wieder einmal an der Tagesordnung und ist so ‹anerkannt› geworden. Frankreich ist verrückt geworden« (Gustave Lefrançais).
Bourdieu hat zu Recht zwischen mystischer Affirmation oder Weissagung und der bedingten, präventiven und performativen Haltung der Prophezeiung unterschieden: »Genau wie der Priester ein wesentlicher Bestandteil der alltäglichen Ordnung der Dinge ist, so ist der Prophet ein Mann der Krise, von Situationen, in denen die etablierte Ordnung zusammenbricht und die gesamte Zukunft in Frage gestellt wird.« Der Prophet ist weder ein Priester noch ein Heiliger. Noch weniger ist er ein Wahrsager.
Um das Desaster abzuwehren, genügt es nicht, sich bloß um des Widerstandes willen zu widersetzen. Es genügt nicht, auf die Möglichkeit eines erlösenden Ereignisses zu wetten. Wir müssen danach trachten, sowohl die Logik der Geschichte zu verstehen als auch für die Überraschung des Ereignisses bereit zu sein. Wir müssen offen bleiben für die Kontingenz des Letzteren, ohne den Faden für ersteres zu verlieren. Genau darin liegt die Herausforderung der politischen Aktion. Denn die Geschichte vollzieht sich nicht in einem Vakuum, und wenn sich die Dinge einem Besseren zuwenden, so passiert das nie in einer leeren Zeitstrecke, sondern »immer in einer Zeit, die unendlich dicht ist, voller Kämpfe« (G.W.F. Hegel). Und voller Ereignisse.
Der Maulwurf bereitet ihren Weg. Mit wohl überlegter Ungeduld, mit dringlicher Geduld. Denn der Maulwurf ist ein prophetisches Tier.
*(25.3.1946 – 12.1.2010) Bei dem Beitrag handelt es sich um die deutsche Fassung des Vorworts zu Daniel Bensaïds Buch Résistances. Essai de taupologie générale, Paris 2001.Die Übersetzung besorgte Martin Riedl für die Sozialistischen Hefte für Theorie und Praxis (Köln), Heft 16, April 2008.