Bevor ich mich der Frage: Wer und was ist borniert? zuwende, ein paar vorbereitende Überlegungen.
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Was ist der Fall?
Zwei Antworten
(a) Der Fall ist alles Sicht-, Riech, Tast-, Schmeck- und Hörbare, sei es auf dem direkten Weg über die Sinne, sei es durch leistungssteigernde Apparaturen (worunter Drogen besser nicht fallen sollten).
(b) Der Fall ist alles, worüber kommuniziert wird.
Die erste Aussage verlagert ›Welt‹ in den Bereich sinnlicher Wahrnehmung, die zweite in den Bereich sprachlicher (und pseudo-sprachlicher) Betätigung. Beide Male ist der Mensch das Maß aller Dinge, sprich: Menschenwelt und Welt überhaupt fallen zusammen – wobei im ersten Fall eine Befragungs- (und Auskunfts-)Situation vorausgesetzt werden muss, im zweiten eine ›sinnliche‹ oder pseudo-sinnliche Grundlage aller Kommunikation. Insofern gehören beide Aussagen zusammen. Vorausgesetzt, wir begnügen uns mit dieser Auskunft, so bleibt doch die Entscheidung zu fällen, wie ›Offenheit‹ zu definieren sei: eine sinnengestützte Offenheit wäre in der Tat darauf angewiesen, soviel Sinneseindrücke wie möglich zu sammeln, um dem selbstgesetzten Anspruch zu genügen, während eine kommunikationsgestützte sich auf das Sammeln von Auskünften konzentrieren und dabei bequem die Lehnstuhlperspektive beibehalten könnte. Beides wirkt, für sich genommen, ein wenig albern. Dennoch charakterisiert es die beiden großen, gewöhnlich miteinander in Fehde begriffenen Typen von Weltoffenheit, zwischen denen, genau genommen, keine Vermittlung möglich ist, da der Anspruch, als weltoffen zu gelten, jeweils auf der einen oder anderen Seite liegt. Diese Fehde schlichtet nur der Tod, soll heißen, das Ende aller Ambition.
Wie bereits angedeutet: ›reine‹ Sinnlichkeit ist eine Chimäre, genauer gesagt, eine Abstraktion, ein Immer-weiter ohne Sinn und Ziel. ›Welt‹ entsteht, wie immer man es dreht und wendet, im Bewusstsein, im Kopf eines jeden Einzelnen und damit als seine Welt, die sich erst durch ständigen Austausch zur Welt einer Gruppe, Gemeinschaft, Kultur zusammenfügt, nirgends jedoch als fixe eigene Größe existiert, allenfalls als Reflex im Weltverständnis des Einzelnen. Die ganze Welt, die Welt aller (Menschen), die Welt, die ›der Fall ist‹, soll heißen, in der Gesamtheit aller Aussagen ›präsent‹, ist daher eine sowohl abstrakte als auch dynamische Größe: abstrakt, weil sie in niemandes Kopf zu Hause, dynamisch, weil sie sich mit jedem getätigten Sprach-Akt buchstäblich in etwas Neues transformiert. Man kann auch sagen: ›Welt‹ – im Sinne der Welt aller – existiert allein im Denken, vor jedem Versuch, sich über sie – und in ihr – auszutauschen, wobei ›vor‹ kein temporales, sondern ein logisches Verhältnis beschreibt. Nur ein per se weltoffenes Wesen kann überhaupt der Welt teilhaftig sein oder sich in ihr orientieren.
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Das widerstrebt dem gemeinen Realismus. Für ihn liegt die Welt immer ›dort draußen‹, gleichgültig, wie die Wortklauber darüber denken. Es zieht ihn hinaus in die Ferne, in fremde Welten, in unbekannte Verhältnisse, zu Aufgaben, die nur der kennt, der ›sich bewegt‹. Das ist zwar nachvollziehbar, aber es ist im Wortsinn borniert, denn es reduziert sich auf die Hälfte des In-der-Welt-Seins, ihren dynamischen Aspekt, verbunden mit der Vorstellung physischer Fortbewegung, und erklärt die Hälfte zum Ganzen. Aus exakt diesem Grund ist Weltoffenheit, verstanden als realistisches Projekt, nicht reklamierbar: Der Anspruch fällt auf den zurück, der ihn erhebt, und markiert ihn als borniertes Subjekt.
Borniertheit ist keine Eigenschaft, sondern ein Zustand. Kein Mensch ist von Haus aus borniert – er wird es durch Umstände, die zu ändern nicht vollständig in seiner Hand liegt. Die Summe dieser Umstände erzeugt sein Weltverhältnis, soll heißen, die Art und Weise, wie er die Welt betrachtet und taxiert. ›Borniertheit‹ und ›Welt‹ gehören eng zusammen: Borniert ist, wer sich ins Schneckenhaus ›seiner‹ Welt zurückgezogen hat, auch wenn er der Auffassung ist, er navigiere auf einem reißenden Fluss und die anderen stünden bloß als Zuschauer am Ufer. Borniert handelt auch eine Regierung, die den von ihr Regierten die Weltoffenheit, die sie meint, auf dem Verordnungsweg beizubringen versucht. Im Stadium der Borniertheit verblasst die im Bewusstsein vorgeschaltete Welt, der Welt-Öffner, der aller konkreten Weltsicht vorausliegt. Borniertheit, so ließe sich definieren, ist der Verzicht auf Welt zugunsten der eigenen, erträumten, ertrotzten, zurechtgebastelten oder -gestoppelten Welt, die dem anderen aufzuzwingen plötzlich Pflicht wird – schließlich ist man nicht irgendwer, sondern l'homme qui marche, angekommen/nichtangekommen, unterwegs zu den Sternen oder einem anderen Einsatzort.
Aperto/chiuso – Man kommt nicht weit in Italien, ohne diesem Begriffspaar, auf Menschen bezogen, zu begegnen: Der aufgeschlossene Mensch ist der beste könnte der Leitsatz lauten, der seine Verwendung reguliert. Ein Stück Renaissance ist darin noch immer lebendig. Der Mensch, der das Schöne liebt, selbst wenn es sich im Gewand des Hässlichen birgt, macht vor keinem Gegenstand, keinem Fremden Halt; er ist stets affiziert. Das klingt nach einer kulturellen Norm, aber genauso gut nach einem besonderen, allseits beliebten Charakter, dessen Skala vom komplizierten Genussmenschen bis zum einfachen Schwätzer reicht. In diesem Fall erübrigt sich der Superlativ (›der aufgeschlossenste‹), weil es keine Steigerung gibt, es sei denn, Ironie mischt sich ins Spiel: ›molto aperto‹ enthält ein doppelzüngiges Lob, dem der Gelobte besser zu entgehen trachten sollte. Hinter Norm und Charakter schimmert eine bestimmte Geistesverfassung auf: Es ist der in die Mitte der Welt gesetzte Mensch Leonardos und Herders, der sich seiner Lage bewusst ist und die daraus sich ergebenden Vorteile mit Leidenschaft und Augenmaß ergreift. Hemmungslose Hingabe ist da nicht gefragt, sie wäre auch wenig hilfreich, unter anderem deshalb, weil sie geradewegs in die Vereinzelung führte. Wer nicht Herr seiner Sinne bleibt, der verliert sich an die Welt, aber er verliert sich auch in ihr und irgendwann verliert sich seine Spur.
Weltsinn, wie die Renaissance ihn gehegt und gepflegt hat, beweist sich im Bleibenwollen, im Wunsch, ›Werte zu schaffen‹, die den Einzelnen und seine Gegenwart überdauern. Diese Tendenz ist der Kultur eingeschrieben, die man die westliche nennt, zwar mit nachlassender Tendenz, aber immer noch leicht erkennbar. Dem Denken des europäischen Mittelalters, dessen zeitenthobene Dome in ihrer gewollten, nur an wenigen Stellen durchbrochenen Anonymität sich an die der Pyramiden und anderer frühgeschichtlicher Bauten anschließt, war sie fremd. Wer ›etwas Bleibendes‹ schaffen will und seinen Namen hineinritzt, der bewegt sich, streng christlich gesprochen, im Raum der Sünde. Andere Kulturen halten andere, ebenfalls wenig schmeichelhafte Wertungen bereit. Auch in Europa bleiben die Anhänger des ›panta rhei‹, des Alles fließt zahlreich: Wo alles fließt, da verfließt auch alles und ein Tor ist und bleibt, wer etwas davon festzuhalten gedenkt. Das ›Navigieren‹, das ›Kurshalten‹ erübrigt sich dort, wo so gedacht wird, und in der Praxis bleibt von ihm nur die leere, dramatisch ausstaffierte Rhetorik übrig, denn natürlich ist Kurshalten immer gefragt und Inkompetenz, vor allem ideologiegetriebene, klammert sich vielleicht am entschiedensten ans Ruder, bis der Zufall oder ein ›Feind‹ es ihr aus der Hand nimmt.
Dass Ideologie, wie Borniertheit, eine Art Weltflucht darstellt, gilt als allgemein bekannt. Den Weltsinn des Einzelnen stellt sie unter anderem deshalb auf eine harte Probe, weil sie ihn vollständig zu okkupieren trachtet: Schließlich ist sie der große Augenöffner, den zu verschmähen gleichbedeutend damit ist, den klaren Blick auf die Weltverhältnisse, wie sie ›in Wirklichkeit‹ sind, zu verweigern. So jedenfalls klingt der von ihr ausgehende Sirenensang, der sie wiederum als Ideologie kenntlich werden lässt – als in sich kreisenden Irr-Sinn mit Worten und Wort-›Konstrukten‹, dessen Gläubige seinen Weltbezug mit List, Tücke und vor allem Gewalt erst herzustellen trachten. Demgegenüber ist Weltoffenheit – primäre, nicht abgeleitete Weltoffenheit – das gegebene Remedium, um nicht zu sagen, die einzig reelle Panazee: Sieh hin! Sieh genau hin! Sieh immer wieder hin! Natürlich ist es mit dem Hinsehen nicht getan, Ideologie wird bloß als Kollektivphänomen greifbar, dem zu widerstehen die geistigen und moralischen Kräfte des Individuums bis aufs Äußerste fordert – nicht selten die physischen obendrein. Den kanonischen, unserer Kultur eingebrannten Topos dazu liefert damals wie heute die von Galilei überlieferte Sentenz »Und sie bewegt sich doch«. Wer sie nicht kennt, der kennt Europa nicht und nicht den Geist der Wissenschaft, der es groß gemacht hat.
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Der erste Mensch im All – wenige Motive haben sich der im Allgemeinen eher dickfellig reagierenden Menschheit so eingeritzt wie gerade dieses. Das erstaunt wenig, da er als erster die Biosphäre verlassen (nicht ohne ein winziges Stück davon mit auf die Reise zu nehmen, um kurzfristig zu überleben) und damit die Verlorenheit des Menschen im Weltall erlebbar gemacht hat. Mehr Schein als Wirklichkeit: Am Gängelband einer ausgeklügelten Technologie, mit allen Fasern von Wissenschaft (und grenzenlosem Vertrauen in sie) abhängig, rein bewegungsmäßig auf wenige eingeschliffene Griffe und Funktionen eingeschränkt, war das, was da gefeiert wurde, alles andere als ein Leben nach menschlichem Gusto – es war nichts weiter als eine künstliche, mit astronomischem Aufwand hergestellte und für einen winzigen Zeitraum aufrechterhaltene Situation, ähnlich einer Simulation, wofür es nicht wenige Zeitgenossen, wie später die Mondlandung, auch hielten. Heute, da die Erregungen längst verklungen und menschliche Aktivitäten im erdnahen Raum zur Routine geworden sind, hat sich die Erwartung künftiger Kolonien abseits des Heimatplaneten, in denen es Menschen dereinst vergönnt sein soll, ein menschenangemessenes Leben zu führen, auf Projekte wie die Marsbesiedlung verschoben – die Zukunft wird weisen, was daran bloßes Phantasma oder ernstzunehmende Möglichkeit ist.
Der Mensch im All ist ein Abfallprodukt der Wissenschaft, projiziert auf die Folie aus Begehren und Angstlust, mit welcher Menschen seit Jahrtausenden die Bewegungen der Himmelskörper verfolgen. Dass diese Welt nur eine winzige Provinz innerhalb einer größeren darstellt, in welcher der Mensch allenfalls als Mücke oder Staubkorn figuriert, kehrt als Grundfigur abgewandelt in allen Religionen wieder. Dort, wo das wissenschaftliche Weltbild die alten religiösen Vorstellungen überformt hat, ist das alte Jenseits zum neuen Diesseits geworden: Der moderne Mensch lebt in einer durch Wissenschaft nicht nur transformierten, sondern durch und durch erschlossenen Welt, die von der Tiefsee und den Theorien über das Erdinnere bis zu den fernsten Galaxien und den theoretischen Annahmen über die Grenzen und die Eigendynamik des Universums reicht. Was die Welt, nach dem Faust-Wort, im Innersten zusammenhält, ist Gegenstand der Elementarphysik, so wie das Eigenste des seiner selbst bewussten Menschen, die Psyche, ohne Psychologie nicht mehr vorstellbar ist. ›Unsere Welt‹ und die Welt der Wissenschaft ist ein und dasselbe. Das wissen alle. Trotzdem halten sie an Vorstellungen fest, in denen die Welt ein Goldenes Kalb ist, das zu umtanzen oder zu verabscheuen die große Alternative darstellt – oder wahlweise eine große grüne Wiese, auf der jeder sein Auskommen findet, sofern er nur genügend Offenheit aufbringt, um ihre Angebote zu nützen.
Die moderne Astronomie hat die säkularen Zerfallsprodukte der christlichen Theodizee, die Geschichtskonstruktionen des neunzehnten Jahrhunderts mit ihren menschheitszentrierten Entwicklungsträumen, überwölbt vom Abschlusstableau eines mundanen Paradieszustandes, in dem der Antagonismus von Mensch und Natur sich in Wohlgefallen auflöst, brutal geschreddert. ›Wir‹ wissen mit großer Sicherheit (glauben-zu-wissen), wie lange die Erde existiert und wie lange sie noch existieren wird, wir verfügen über fundierte Theorien, die zeigen, was mit ihr, mit dem Sonnensystem und dem Universum insgesamt in der Zukunft geschehen wird, wir wissen ebenso, welchen Unwahrscheinlichkeiten sich das Leben auf unserem Planeten verdankt und welchen Gefahren bis hin zur Auslöschung es zu jedem Zeitpunkt ausgesetzt ist. Um das alles in Erfahrung zu bringen, bedarf es keiner Cook-Reisen in die Südsee, ein Gang in die Bibliothek tut es auch. Nein, er tut es nicht auch, er erweist sich als unumgänglich, will einer ernsthaft etwas in Erfahrung bringen. Der Schlüssel zur Welt liegt in ein paar Formeln vergraben, im Prinzip jedermann zugänglich, aber nur vergleichbar wenigen geben sie Auskunft. Weltoffen, wie sie nun einmal vor sich selbst dastehen möchte, zieht die Mehrzahl der Menschen es vor, auf Krater zu klettern, von deren Entstehung sie nur verschwommene Vorstellungen besitzt, Gebirgszüge ›toll‹ zu finden, deren Gesteinszusammensetzung sie nicht kennt, geschweige denn ihre Herkunft, in Meeren zu plätschern, deren Gefahren sie ignoriert, und sich Menschenkenntnisse zugute zu halten, die an den einfachsten Fragen nach Religion, Herkommen, ethischen Standards und Familienstrukturen scheitern. Das alles ist ganz normal.
Dass alle Menschengeschichte am Ende zurücksinkt in die Geschichte des Lebens auf diesem Planeten, so wie diese in die Geschichte des Sonnensystems, der umgebenden Galaxie und des Universums, zeitigt eine Schwierigkeit, die irgendwann die stillen Kammern der Wissenschaft verlassen hat und mehr und mehr den Alltag der Menschen bedrückt. Menschliche Geschichte ist Erfahrungsgeschichte: Was immer Menschen erlebt, erlitten, bestanden, also erfahren haben, wird Teil ihrer Geschichte, soweit sie darüber Auskunft erteilten und diese Auskünfte gesammelt, ausgewertet und überliefert wurden. Erfahrungsgeschichte ist überlieferte Geschichte. Archäologie ergänzt die Überlieferung, korrigiert sie hier und da und erweitert das Gattungswissen, vornehmlich in Vor- und Frühgeschichte, durch die Heranziehung materieller Funde. Doch in welche Töpfe auch immer sie blickt, überall findet sie sich angewiesen auf Interpretationen, die ohne direkte Überlieferung im Spekulativen hängen bleiben. Das Maß menschlicher Geschichte ist die Erfahrung, ihre Welt identisch mit der Erfahrungswelt der menschlichen Spezies.
Erdgeschichte – und die sie überwölbende Universalgeschichte neueren Typus’ – ist anders. Die Zahlen und Zeiten, mit denen sie hantiert, bleiben der menschlichen Lebenserfahrung ebenso verschlossen wie das Erdinnere oder die Geheimnisse stellarer Lichtquellen, die aufzuspüren es eines James-Webb-Teleskops bedurfte. Planetarische Geschichte und Menschengeschichte sind, um dieses hübsche Wort zu verwenden, miteinander inkompatibel. Ihre Grundlagen, ihre Zyklen, ihre Entwicklungen passen nicht zueinander, jedenfalls nicht, solange der menschliche Erfahrungsraum als Maß aller Dinge fungiert. Dabei ist die Abhängigkeit der einen von der anderen einseitig und radikal, wie jedes registrierte Erdbeben und jeder Vulkanausbruch gleich gründlich bestätigt wie der dem Menschen in Fleisch und Blut übergegangene Tag- und Nachtzyklus oder der lebensbestimmende Rhythmus der Jahreszeiten. Kurioserweise verbirgt in vielen Fällen die Abhängigkeit die Inkompatibilität. Schließlich beeindruckt wenig die Menschen so sehr wie die Majestät eines Naturereignisses, das sich vor ihren Augen oder unter ihren Füßen abspielt, und kaum eine Religion hat der Versuchung widerstehen können, auffälligen Naturphänomenen, beginnend bei Blitz und Donner, eine Botschaft an die Menschheit anzudichten.
Es ist vermutlich kein Zufall, dass die herausragendste Erfindung der letzten Dekaden, der Computer, sobald erst einmal die erforderliche Rechenleistung zur Verfügung stand, umgehend dazu benützt wurde, einer der am aufwendigsten zu ermittelnden und am schwersten zu verstehenden Entwicklungskurven der Biosphäre, dem Erdklima mit seinen dramatischen Peripetien, einen menschlichen Sinn zu unterschieben. Das unterschwellig noch immer christlich geprägte Bewusstsein musste nicht lange suchen, um diesen Sinn zu bestimmen: Das Klima ist aus den Fugen und der Mensch ist schuld. Die Idee ist uralt, bloß die Instrumentierung ist neu. Nicht ganz so neu ist der Umstand, dass die Politik, nach einigem Zögern, sich dieses neuen Herrschafts- und Zuchtmittels annimmt, um ihre eigenen Ziele damit zu verfolgen. Und nichts liegt näher, als dass in diesem neoreligiösen Klima die Sekten sprießen. Wann immer erdgeschichtliche Ereignisse in die Menschengeschichte einbrachen – Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, deutliche Klimaumschwünge –, führten sie in den betroffenen Herrschaftsregionen zu Verschiebungen im Machtgefüge. Das Grund dafür liegt auf der Hand: Herrschaft, der generationenübergreifende Stabilisator der menschlichen Dinge, reagiert mit seismischer Genauigkeit auf Erschütterungen, deren Auslöser außerhalb des eigenen Machtbereichs liegen, denn sie enthalten von allen denkbaren Gefahren die schlimmsten – solche, gegen die man nichts machen kann. Man muss aber etwas tun, wie schon der sophokleische Ödipus mit beklemmender Deutlichkeit zeigt: Also konstruiert man eine Schuld und benennt den Schuldigen, der die Sache ausbaden muss. Wir nennen den Schuldigen, nach dem biblischen Vorbild, Sündenbock.
Das CO2 ist der Sündenbock des Computerzeitalters, soweit es bisher Gestalt angenommen hat. Das Orakel, die menschengemachte Erwärmung, ist ein Produkt nicht des Computers, sondern seines wunschgesteuerten Gebrauchs: Man gebe mir eine statistische Anomalie und ich werde, dank der neuen technischen Möglichkeiten, die Welt aus den Angeln heben. In der Tat: Erst das Dogma vom menschengemachten Klimawandel hat die Menschengeschichte ins ›Anthropozän‹ gehoben und damit als Teil einer erlebnisbasierten Erdgeschichte etabliert. Seit die Kunde davon die Welt der Nerds und Freaks hinter sich gelassen hat, erlebt alle Welt Klima und die Medien verdienen daran, es ihr zu erleichtern. Die Welt ist aus den Fugen – so klingt die Botschaft von Mutter Erde in den Ohren der Vielen und die Politik beeilt sich, den Klingelbeutel herumgehen zu lassen, bevor die Spendenbereitschaft der Gläubigen wieder versiegt. Man verdient prächtig am Anthropozän, wenn man gut aufgestellt ist und ein offenes Ohr für die Anliegen der Menschen mitbringt.
Bei der Synchronisierung von Erd- und Menschheitsgeschichte ergibt sich ein Problem, das alle anderen in den Schatten stellt: Es ist die notorische Unzuverlässigkeit ersterer, sobald es darum geht, ihre Ereignisse hieb- und stichfest in Jahreszahlen auszudrücken. Für den, der zufällig an der gefährdeten Stelle steht, macht es einen großen Unterschied, ob der Blitz jetzt oder in zwanzig Jahren einschlägt. Das Vorsorgeverhalten der Neapolitaner würde sich schlagartig ändern, wüssten sie, ob der Ausbruch ihres Supervulkans, der campi flegrei, definitiv im kommenden Jahr oder doch erst in Jahrtausenden bevorsteht. Dasselbe gilt für das Drohpotential, das sich im interplanetarischen Raum herumtreibt: Der Mensch will Sicherheit zu Lebzeiten und die Natur kann (und will) sie ihm nicht geben. Er verlangt sie aber von der Wissenschaft und offenbar gibt es eine Wissenschaft, die diesem Verlangen – aus Hochgefühl, Verblendung, Eigennutz oder Schwäche – nachgibt. Sinnigerweise betrachtet sich gerade dieser Teil als der weltoffene, den Problemen dieser Welt zugekehrte. In gewisser Weise hat er damit sogar recht: Politik und Öffentlichkeit danken es ihm und stellen seine Vertreter auf einen Podest, von dem sie nicht mehr herunterkommen, selbst wenn ihnen irgendwann in ihrer selbstverschuldeten Rolle schwindlig wird.
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Verwunderlich wäre es, wenn nicht auch das Geschlecht seinen Anteil an der Weltoffenheit besäße. Als der Ostblock in die Knie ging und die Westgrenzen der DDR sich öffneten, da machte sich in gewissen Regionen nach einiger Zeit ein gewisser Frauenmangel bemerkbar. Es waren, gefühlt oder statistisch untermauert, mehr junge Frauen als Männer in den Westen gegangen. Archäologische Funde scheinen nahezulegen, dass der biologische Fußabdruck der Frauen weiter streut als derjenige der Männer. Das scheint in krassem Gegensatz zum traditionellen häuslichen Image der Frauen zu stehen. Doch dieser Gegensatz löst sich bei näherem Hinsehen in Nichts auf. Soziale Funktion und räumliche Ausbreitung hängen zwar zusammen – insofern dürften auch Heiratspraktiken stets eine gewisse Rolle gespielt haben –, aber sie erzeugen unterschiedliche Bilder. Frauen fügen sich, getestet oder gefühlt, leichter in fremde Milieus ein als Männer. Das beginnt beim Spracherwerb – sowie der dazugehörigen Sprach-Neugier – und bewährt sich an kulturellen Barrieren, die nicht auf den ersten Blick erkennbar werden. Ganz allgemein scheint ihre soziale und kulturelle Mobilität höher zu sein. Das auszusprechen mag im Zeitalter autonomer Geschlechterzuschreibung zu Stirnrunzeln führen, aber es entspricht der Alltagserfahrung so sehr – Urlaubsplanung und -praxis inklusive –, dass einfach etwas fehlen würde, bliebe dieser Aspekt ganz außer Acht. Wäre Weltoffenheit am Ende ein Geschlechtsmerkmal – pardon, ein Gender-Kriterium? Man kann alles diskutieren, warum nicht auch das?
Ist es wichtig? Es ist spannend, die Wege der Menschen über die Erde zu verfolgen und dabei auf Muster zu achten, die durch statistische Häufung entstehen. Darin unterscheiden sich Menschen zwar signifikant, doch nicht grundsätzlich von ihren tierischen Verwandten. Dass der selbstgeschaffene Umweltanteil umso größer und prägender ausfällt, je intensiver der Prozess der Zivilisation sich bemerkbar macht, bedeutet mitnichten, dass ›der Mensch‹ sich in unterschiedlichen natürlichen Umgebungen gleichermaßen wohl fühlen würde (oder sie ihm gleichgültig wären, wie die Marsbesiedlungspläne suggerieren). Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Mit steigendem Wohlstand wird der Mensch wählerischer und selbst Minimaldifferenzen fallen stärker ins Gewicht. Das kann, blickt man auf die russische Besiedlungsgeschichte Sibiriens, zu dramatischen Einbrüchen führen. Aber auch im Wandel alpiner Siedlungsstrukturen macht es sich bemerkbar. Es ist der hungrige Mensch, der widrige Naturverhältnisse in Kauf nimmt, um sein Auskommen zu finden. Und manches verwegen erscheinende Engagement beruht einfach auf Zwang.
Welche Rolle das Smartphone in modernen Wanderbewegungen spielt, lässt sich beim Zustrom aus dem sogenannten ›globalen Süden‹ nach Europa und Teilen der USA beobachten: Es ist Anreiz, Orientierungshelfer und Kommunikationsmittel in einem. Darüber hinaus dient es als Verbindungsglied zwischen den diversen Helferorganisationen und ihren ›Schützlingen‹, die oft genug zu Plünderungsobjekten werden. Die dadurch erreichte Informations- und Kommunikationsdichte rät zu Vorsicht bei der Bewertung sogenannter Pull- und Pushfaktoren, mit deren Hilfe die – oft gespaltenen – Ankunftsländer die Motivation ihrer Neuzugänge zu ergründen versuchen. Auch in diesem Bereich gilt: Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch, das heißt, ein Wesen mit wechselnden, in sich widersprüchlichen und überschießenden Motivationen, von denen sich lagebedingt einmal die eine, einmal die andere nach vorne drängt. Ein Aufnahmeland, das mit einem üppig ausgestatteten Sozialsystem winkt und dafür sorgt, dass Ankömmlinge zwangsläufig in den Maschen des Wohlfahrtsstaats landen, trägt nicht unbedingt zur Befriedigung der komplexen Bedürfnislage des Einzelnen bei, aber es zieht sich gerade die Klientel, die dem steuerzahlenden Teil der Bevölkerung dauerhaft zum Dorn im Auge wird.
Wenn ganze Dörfer und Landschaften sich gen Norden entleeren, dann wird der Punkt überschritten, von dem an nicht mehr die Fraktion der Wagemutigen, Abenteuerlustigen und ›Weltoffenen‹ die Wanderung dominiert, sondern die passive Masse derer, die nicht zurückbleiben wollen. Das hat zur Folge, dass ererbtes Kollektivverhalten und durch Kultur und Sitte vorgegebene Rollenmuster sich an den Zielorten durchsetzen und zwangsläufig zu Friktionen führen, besonders wenn spontane Fremdenabwehr und von interessierter Seite geschürter Hass auf die ›Ungläubigen‹ mit von der Partie sind. Entsprechend schwierig gestaltet sich die ›Akzeptanz‹ bei der aufnehmenden Bevölkerung, Überfremdungsängste und ›Landnahme‹-Bedenken eingeschlossen. Es hat etwas Surreales, wenn hilflose Regierungen in dieser Situation gerade die ›Weltoffenheit‹ von ihr erwarten, die in klassischen Einwanderungsländern mit großer Selbstverständlichkeit – oft auch Härte – den Ankömmlingen abverlangt wird. Es gehört nun einmal zu den Gesetzen der Gruppe, dass der Neuzugang sich an die bestehenden Verhältnisse anpasst. Widersinnig erscheint es da, wenn heimische Autoritäten den Spieß umzukehren versuchen.
Inzwischen sind einige Staaten Europas in die nächste Phase eingetreten: Sie sehen sich wachsenden Machtansprüchen von Eingewanderten (vertreten durch mehr oder minder aggressiv gestimmte, nicht selten religiös motivierte und abgeschirmte Gruppen) konfrontiert, die sich nur schwer oder gar nicht ins bestehende politische System einspeisen lassen, falls sie nicht ohnehin den Weg irrlichternder Gewalt vorziehen. Es besitzt seinen eigenen Charme, an diesem Punkt der Entwicklung die Regenbogenfahne zu hissen – die philosophische Sprache hält für derlei Aktivitäten das Verb ›irrealisieren‹ bereit. Es gilt: Einwanderung ohne Weltoffenheit erzeugt Aggression, Aufnahme ohne Realismus bedeutet Selbstblendung. Doch vielleicht sind die Probleme der Einwanderung längst nicht mehr lösbar und damit Teil der allgemeinen Geschichte geworden, in der vom Auf- und Niedergang der Kulturen gehandelt wird, vom Entstehen und Vergehen des großen ›Wir‹, ohne das ›auf Gedeih und Verderb‹ zusammengebundene Schicksalsgemeinschaften offenbar nicht auskommen können. Eines scheint sicher: Den höchsten Grad an Offenheit erreichen Gemeinschaften zu Zeiten der Desolidarisierung. Ein Anlass zu ungebremster Freude ist das selten.
In vergangenen Jahrhunderten sind Europäer, dem Bevölkerungsdruck folgend, in die Welt ausgeschwärmt – mit den allseits bekannten Folgen für den Rest der Welt und sich selbst. Heute schlägt das Pendel zurück. Es ist nicht anzunehmen, dass die erwartbaren Folgen ausbleiben werden. Das stellt die Verteidiger des Abendlandes vor die unlösbare Aufgabe, als Hüter der Geschichte die Geschichte stillzustellen oder sogar zurückzudrehen. Hier wie in anderen Fällen gilt: Die Zukunft gehört dem, der die Phantasie der Menschen zu füllen versteht. Die Bildungsgüter der Nation oder eines Kontinents waren und sind immer bloß das Eigentum einer Minderheit –: soll heißen, als mehrheitsfähig erweisen sich auf Dauer nur Programme, die aus der Zukunft kommen, unbeschadet dessen, wie oft sie in der Vergangenheit bereits abgewrackt wurden. Der Griff in die Mottenkiste, genannt ›unsere Vergangenheit‹, empfiehlt sich vor allem in Krisenzeiten, wenn die falsche Zukunft regiert und darüber die Gegenwart Schaden nimmt. In gewisser Weise ist jede Zukunft falsch und es kriselt immer. Deshalb ist und bleibt der Konservatismus eine Kraft, mit der zu rechnen ist. Wer ihn auszurotten unternimmt, der hat sich selbst das Urteil der Geschichte bereits gesprochen.
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Wer ein wenig Welt gespürt hat, der weiß: Die Deutschen sind das Volk, das alles ernst nimmt, 1 : 1, auch wenn es andernorts bloß zum Zeitvertreib oder als Verpackung anders gelagerter Interessen dient. In der Vergangenheit hat ihnen dieser Zug die Reformation und die Philosophie beschert, in der Kunst die singulären Leistungen der Riemenschneider und Grünewald – und auch in der Gegenwart ist es immer noch für Ingenieursleistungen gut. Erstaunlicherweise hat die Spaßgesellschaft wenig daran geändert. Sie können nun einmal nicht aus ihrer Haut. Das hat ihnen bei schmallippigen Zeitgenossen den Ruf eingetragen, ›chiuso‹ zu sein, beckmesserisch mit einem Schuss unnötiger Härte, wobei ihnen auf der anderen Seite auch wieder eine Verschwommenheit der Charaktere nachgesagt wird, die gern als Weichheit ausgelegt wird. Man kann es eben niemandem recht machen. Erregungsgemeinschaften projizieren ihre Abneigungen gern nach außen, vor allem, wenn man sich untereinander nicht riechen kann. Das Volk, das seine Geschichte, wenn möglich, mit dem verkrüppelten Arm des zweiten Wilhelm beginnen lässt, hat sich daraus ein Selbsterziehungskorsett geschneidert, aus dem jederzeit Ausbrüche möglich sind: Wo ich ist, soll ein anderer sein.
Dieser andere, gleichsam von Haus aus weltoffen-entspannte, stets zu einem Joke aufgelegte Deutsche existiert zwar nur in der TV-konditionierten Phantasie des leitbildbedürftigen Einzelnen, aber er legt strenge Maßstäbe an seine Mitmenschen an und findet sie gewöhnungsbedürftig, wahlweise auch ›unbelehrbar‹, allerdings ohne den Fremdheitsbonus, den er zu spendieren bereit ist, sobald es um die Anderen geht. So, geschichtsverheddert und geschichtsvergessen, wie die Deutschen nun einmal sind, haben sie ein gesellschaftspolitisches Programm aufgelegt, das der Romancier Günter Grass einst mit dem Titel Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus umschrieb (für den er heute wahrscheinlich keinen Verlag mehr finden würde). Schon damals ging es ums Reisen und Hadern mit sich selbst, ganz allgemein um das lehrerhafte Deutschsein, das Ausdiskutieren-wollen-um-jeden-Preis, von dem allerdings in der Atmosphäre allgegenwärtigen Denunziantentums wenig übriggeblieben ist. Aber vielleicht ist auch das nur Schein. Weltoffen ist daran nichts, es zeigt nur, dass gewisse Wunschvorstellungen, zum Programm geronnen und verkitscht, ihre Verwirklichung ebenso zuverlässig verhindern können wie die harte Versagung.
Vergleicht man die deutsche Vokabel ›Weltoffenheit‹ mit den englischen Alternativen ›open-mindedness‹ und ›cosmopolitanism‹, dann wird klar, dass hier keine Äquivalenz besteht: Weltoffenheit bedeutet mehr als Aufgeschlossenheit für fremde Impulse und nicht unbedingt dasselbe wie Weltbürgertum. Doch irgendwie bleibt dieses Mehr schwer greifbar, es fügt sich nicht wirklich geschmeidig in die gemeineuropäische Sprachwelt ein. Denn auch die renaissancehafte Offenheit, diese Antithese zur mittelalterlichen Weltflucht, bleibt dem Katholizismus verhaftet, dem sie einst neue Lichter aufsetzte. In ihr setzt sich ein seit der Antike bestehender Menschentypus gegen eine asketisch-mystische, zu ihrer Zeit populäre und durchaus ›moderne‹ christliche Strömung durch. ›Weltoffenheit‹ hingegen sprengt die letzte protestantische Schranke vor dem grenzenlosen Verkehr mit der Welt hinweg, indem sie die Liste der ›Adiaphora‹, der freigegebenen (also weder ge- noch verbotenen) Mitteldinge und -aktivitäten ad libitum erweitert und damit das Evangelium der Selbstverwirklichung auf den freigeräumten Altar hebt. Es ist also ein gutes Stück kultureller Eigenprägung dabei, von der nie die Rede ist, wenn Weltoffenheit als gesellschaftliches Leitbild verhängt wird – man will nur die Spitze des Eisbergs sehen, aber nicht den Eisberg selbst.
Selbstabschaffung, als Weltoffenheit deklariert, kann nicht funktionieren – weder im persönlichen noch im kulturellen ›Rahmen‹. Irgendwo auf dieser Reise lauert der Umschlag. Borniertheit wäre noch die harmlose Variante dessen, was dann in den Bereich des Vorstellbaren rückt. Natürlich steht es jedem frei, eine rigide Einwanderungspolitik, wie sie nach gewissen Erfahrungen zum Beispiel im skandinavischen Raum praktiziert wird, ›borniert‹ zu nennen – was anderes sollte sie sein? –, aber das ist vermutlich das kleinere Übel, verglichen mit dem, was auf längere Sicht möglich und vielleicht längst unterwegs ist. Einer Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung und Selbstabschaffung zusammenfallen (beziehungsweise auseinander hervorgehen), geht eines jedenfalls auf Dauer verloren: die Stabilität. Damit verstößt sie gegen das Prinzip der Selbsterhaltung, das in allen Gesellschaften nachweisbar ist. Sie kann daher gar nicht anders, als mit sich in Widerspruch zu geraten. Dieser Widerspruch kann nicht nur, er muss ausgetragen werden – und sei es nur deshalb, weil es keine andere Möglichkeit gibt, ihn aus der Welt zu schaffen.
Es gibt eine Form der Weltoffenheit, die der Gesamtheit aller Menschen eignet und den Einzelnen mitnimmt, gleichgültig, ob er eine besondere Neigung dazu verspürt oder nicht. Ihr hat Johann Peter Hebel 1811 in seinem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes ein paar goldene Sätze gewidmet, die den Abschluss dieser Überlegungen bilden sollen. Sie lauten:
»Bekanntlich ist die Wärme des Sommers und die Kälte des Winters nicht in allen Gegenden der Erde gleich, auch kommen sie nicht an allen Orten zu gleicher Zeit, und sind nicht von gleicher Dauer. Es gibt Gegenden, wo der Winter den größten Teil des ganzen Jahrs Herr und Meister ist, und entsetzlich streng regiert, wo das Wasser in den Seen 10 Schuh tief gefriert, und die Erde selbst im Sommer nicht ganz, sondern nur einige Schuh tief auftaut, weil dort die Sonne etliche Monate lang gar nicht mehr scheint, und ihre Strahlen auch im Sommer nur schief über den Boden hingleiten. Und wiederum gibt es andere Gegenden, wo man gar nichts von Schnee und Eis und Winter weiß, wo aber auch das Gefühl der höchsten Sommerhitze fast unerträglich sein muß, zumal wo es tief im Land an Gebirgen und großen Flüssen fehlt, weil dort die Sonne den Einwohnern gerade über den Köpfen steht, und ihre glühenden Strahlen senkrecht auf die Erde hinabwirft. Es muß daher an beiderlei Orten auch noch manches anders sein, als bei uns, und doch leben und wohnen Menschen, wie wir sind, da und dort. Keine einzige Art von Tieren hat sich von selber so weit über die Erde ausgebreitet, als der Mensch. Die kalten und die heißen Gegenden haben ihre eigenen Tiere, die ihren Wohnort freiwillig nie verlassen. Nur sehr wenige, die der Mensch mitgenommen hat, sind imstande, die größte Hitze in der einen Weltgegend und die grimmigste Kälte in der andern auszuhalten. Auch diese leiden sehr dabei, und die andern verschmachten oder erfrieren, oder sie verhungern, weil sie ihre Nahrung nicht finden. Auch die Pflanzen und die stärksten Bäume kommen nicht auf der ganzen Erde fort, sondern sie bleiben in der Gegend, für welche sie geschaffen sind, und selbst die Tanne und die Eiche verwandeln sich in den kältesten Ländern in ein niedriges unscheinbares Gesträuch und Gestruppe auf dem ebenen Boden, wie wir's auf unsern hohen kahlen und kalten Bergen auch bisweilen wahrnehmen. Aber der Mensch hat sich überall ausgebreitet, wo nur ein lebendiges Wesen fortkommen kann, ist überall daheim, liebt in den heißesten und kältesten Gegenden sein Vaterland und die Heimat, in der er geboren ist, und wenn ihr einen Wilden, wie man sie nennt, in eine mildere und schönere Gegend bringt, so mag er dort nicht leben und nicht glücklich sein. So ist der Mensch.«
Literatur
Dante Alighieri, La Divina Comedia, Inferno III, 9. »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!« Dante Alighieri, D. Gmelin (Übers.), Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Band I, dtv klassik 1988; S. 35.
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde., 8. Auflage Tübingen (Mohr Siebeck) 2003, orig.: The Open Society and its Enemies (1945).
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, 682f.
Richard Wagner, Parsifal, Act III.
Jobst Landgrebe / Barry Smith, Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, New York-London (Routledge) 2013.
Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus Logisch-philosophische Abhandlung. Erstausgabe Kegan Paul (London), 1922.
»Wo Es war, soll Ich werden.« Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933). GW 15.
Günter Grass, Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Luchterhand, Darmstadt, Neuwied 1980.
Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, Tübingen (Cotta) 1811.