von Ulrich Schödlbauer
1.
WELTOFFEN, mit einem großen runden O in der Mitte: In Großbuchstaben steht das Wort über der modernen Einwanderungsgesellschaft, man könnte meinen, es handle sich um das Gegenstück zu Dantes Höllen-Inschrift Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate! Wobei, wie jeder weiß, es gar nicht so einfach ist, alle Hoffnung fahren zu lassen. Im Ernstfall benötigt man dazu die höllische Assistenz. Die weltoffene Gesellschaft, gäbe es sie ohne Wenn und Aber, wäre eine Gesellschaft ohne Türen, somit auch ohne wirklichen Innenraum und ohne die Hoffnung, es möge an dieser Stätte besser oder gerechter zugehen als anderswo. Ihr bliebe einzig die Hoffnung, to make the world a better place, wie einst der Wahlkampfslogan des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und späteren Präsidenten Obama verhieß, zu dessen Amtszeiten dann pünktlich der Drohnenterror perfektioniert wurde. Doch da nirgends so heiß gegessen wie gekocht wird, sind solche Stätten sehr selten, am ehesten trifft man sie auf dem Papier. Wirkliche Weltoffenheit scheint eher eine Sache des Mehr oder Weniger zu sein, das klug erwogen sein will.
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde war ein Weltbeststeller des austro-britischen Schriftstellers Sir Karl Popper aus der Mitte der vierziger Jahre. Die Lehre von der offenen Gesellschaft fällt kurz aus, lang hingegen gestalten sich die Ausführungen über ihre Feinde. Wer sind Poppers ›Feinde‹? Kurz gesagt: Es sind die Schwergewichte der kontinentalen Philosophie, allen voran Platon und Hegel. In Poppers Darstellung schrumpft ihre Lehre auf ein hypertrophes Ordnungsdenken zusammen, dem, so der kämpferische Adjunkt, der angelsächsische Pragmatismus erfolgreich in den Weg trat, um … nun ja, um letztendlich zu siegen. Das Jahrhundertwerk entpuppt sich als leichte, zugleich schwer verdauliche Kost, mehr fürs Sturmgepäck bestimmt als für die Studierstube des Gelehrten. Popper betrachtet die offene Gesellschaft als eine gefährdete Gattung mit unterentwickeltem Gefahrenbewusstsein, dem es auf die Sprünge zu helfen gilt.
Immerhin erörtert er die Grundfrage einer Gesellschaft in Freiheit: Wie kann Freiheit angesichts ihrer Feinde bestehen? Poppers Antwort wie die so vieler anderer vor und nach ihm lautet: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Das leuchtet ein, aber es enthält einen Appell an die Urteilsfähigkeit jedes Einzelnen. Woran lassen sich die Feinde der Freiheit zuverlässig erkennen? Woher weiß ich, dass mein Ordnungsansatz mich nicht selbst zum Freiheitsfeind qualifiziert? Denn zweifellos verfehlt die Idee absoluter Freiheit ohne Ordnung das Problem, vor das jede Gesellschaft, offen oder nicht, ihre Mitglieder stellt. Die Antwort ist einfach: Ich kann es nicht wissen, jedenfalls nicht mit dem Grad an Absolutheit, der nötig wäre, um die Feinde der Freiheit vorsorglich aus der Gesellschaft auszufiltern.
Das Popper-Paradox verfügt daher über zwei Seiten: Zum einen wirkt die Forderung Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! an sich paradox, wenn sie, zwar nur für eine bestimmte Personengruppe, den Entzug gerade der Freiheit fordert, die doch Motor und Telos jeglicher Betätigung sein soll, zum anderen setzt sie die Freien in ein parteiliches Verhältnis zur Freiheit und verwandelt sie damit unter der Hand in die Freiheit, die sie meinen. Es liegt aber im Wesen der Freiheit, dass jeder so frei sein kann, sie anders zu meinen, wie die gar nicht so harmlose Rede vom ›Andersdenkenden‹ offenlegt: Wer ist der ›Denkende‹ und wer ist der››Andersdenkende‹? Welche Freiheit ist der ›Denkende‹ dem ›Andersdenkenden‹ zuzugestehen bereit? In der Praxis mag das hinnehmbar sein, solange die Lage klar und die Fronten zwischen Freiheitsfreunden und -feinden zu aller Zufriedenheit abgesteckt sind. Aber es enthält ein theoretisches Problem, das jederzeit in ein praktisches umschlagen kann.
Wie immer man es dreht und wendet: Die Forderung Keine Freiheit den Feinden der Freiheit! verwandelt das Verhältnis der Freien zur Freiheit in ein Possessivverhältnis. Damit wirft sie die naheliegende Frage auf: Wem gehört die Freiheit? Darüber hinaus verlangt sie, die Freiheit, die sie meinen, am Feind auszurichten, was immer eine Einschränkung der Freiheit impliziert, noch dazu eine negativistische, die nicht von der Notwendigkeit des Zusammenlebens, sondern ihrem Gegenteil, dem ›Zerreißen der Bande‹ bestimmt wird. Das eine führt zum Problem der Dreiecksbegierde und der Zwillingskonkurrenz, das andere in die Niederungen des Kulturkampfes, im schlimmsten Fall unter religiösen Vorzeichen, in dem gerade das zu verdampfen droht, worum es doch in aller Auseinandersetzung gehen soll: das gemeinsame Wertefundament, das ein Zusammenleben erst ermöglicht.
Von allen Freiheiten wirkt die Freiheit, Feind zu sein am befremdlichsten. Sie wird in ein und demselben Zug zu- und abgesprochen. Jedenfalls ist gerade sie der Kern der so plausibel klingenden Parole. Denn nur ›in Freiheit‹ kann einer ein Feind der Freiheit sein und diese Freiheit darf – so das Credo – nicht sein. Die Verteidiger der Freiheit brauchen den Feind und sie brauchen ihn nach ihrem Gusto, da sie ihn andernfalls nicht erkennen könnten, jedenfalls nicht als Feind der Freiheit. Darin steckt die perfekte Vorlage für den Sündenbock.
2.
Für die Freunde der Freiheit steht fest: Freiheit existiert und sie muss verteidigt werden. Sie lebt in den vielen kleinen und großen Freiheiten, die sich der Einzelne nimmt und in die er sich nicht hineinreden lassen will. Sie existiert als freiheitliche Verfassung, die das Verhältnis zwischen Regierung und Volk, Regierung und Opposition, Regierung und konkurrierenden Verfassungsorganen zu Volkes Zufriedenheit regelt. Und sie existiert – Grundlage aller Freiheit – als Bewegungs- und Gedankenfreiheit, als Freiheit zu gehen, wohin ich will und zu denken, was immer ich denken will. Ist das erlaubt? Es fragt nicht nach Erlaubnis. Ein Gedanke ist immer schon gedacht, bevor das Denkverbot auf ihn niedergeht. Der Verbietende selbst muss denken – und formulieren –, was zu denken und zu formulieren er verbietet. Er ist der erste, der das Gesetz oder die Verordnung oder das informelle Verbot, einen Gedanken zu denken, bricht. Nicht nur das: Er selbst stiftet durch das Verbot dazu an, zu denken und eventuell zu formulieren, was doch zu denken und zu formulieren verboten sein soll. Er bringt die Leute auf den Gedanken und damit zuguter(oder ‑böser)letzt auf ›ganz andere‹ Gedanken, Recht und Ordnung betreffend. Denkverbote, heißt das, enthalten per se einen performativen Widerspruch.
Ist das wichtig? Warum ist es wichtig? Weil es bedeutet, dass bereits der Ansatz der offenen Gesellschaft nicht ohne Widerspruch formuliert werden kann. Gesellschaften sind in bestimmten Hinsichten offen, in anderen nicht. Sie gleichen darin, wie oft vermerkt wurde, lebendigen Organismen. ›Geschlossene Gesellschaften‹ mögen sich gegen ihresgleichen abschotten – gegen die Umwelt und die ›Natur‹ können sie es jedenfalls nicht. Und auch die Abschottung gegen ihresgleichen kann sich als lebensbedrohend erweisen, wie die Siedlungsgeschichte der Menschheit bezeugt. Sich vom Menschheitszug abzukoppeln birgt ein hohes Existenzrisiko für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. Gesellschaften wiederum, die ihr Territorium, es mag in den Lüften oder auf den Landkarten verzeichnet sein, nicht zu verteidigen wissen, verpuffen einfach –: manche mit einem Knall, manche mit einem Winseln, die meisten vermutlich mit einer Abfolge vieler kleiner und großer Explosionen. Es soll Gesellschaften geben, die lautlos im Meer der Menschheit verschwinden. Doch vielleicht hört nur niemand hin.
Was bedeutet, was kann Verteidigung gegen ›die anderen‹ anderes bedeuten als: sich abzuschließen? Das Popper-Paradox wiederholt sich hier auf einer komplexeren Stufe. Der Landesfeind, vorausgesetzt, er existiert nicht nur in der hysteroiden Einbildung gewisser Bevölkerungsteile, hat nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern die Gesellschaft als Ganze im Visier. Das zu erkennen setzt aber voraus, dass die Gesellschaft sich ›im Spiegel des anderen‹ als ein Ganzes erkennt. Eine Gesellschaft ohne erkennbare Identität besitzt, streng genommen, keine Feinde. Doch dieser Gedanke ist müßig, weil der Fall unter freiem Himmel kaum vorkommen dürfte. Feindschaft schafft Identität.
Das lenkt den Blick auf die nächste Schwierigkeit: Schwerlich ist die Gesellschaft als Ganze als Subjekt zu begreifen. Sie muss sich aber, so fordert es die Hypothese des Feindes, als Subjekt begreifen, will sie sich erfolgreich gegen die Zumutung des Anderen verteidigen. Ohne Zauberei, pardon, ohne Institutionen ist das nicht zu bewerkstelligen. Den Schlüssel dazu – und damit zur Ausbildung der zugleich komplexen und homogenen Gestalt, in der die Gesellschaft dem Freiheitsgedanken erst eine Bühne verschafft – liefert die res publica der alten Römer, aus der peu à peu die moderne Republik entsteht. Was heute ›öffentlich‹ genannt wird, setzt die Existenz der res publica, der ›öffentlichen Dinge‹ voraus – und damit eine Republik der Geister, die sich von der Staaten-Realität weit entfernen kann. Eine Gesellschaft ohne die eine oder andere Form der Öffentlichkeit verfügt über kein ›Selbst‹, also über nichts, das sie verteidigen könnte. Wo es nichts zu bereden gibt, ist auch nichts zu machen.
Und wieder bringt der Feind die Dinge zur Klärung, indem er sie auf den Kopf stellt. Eine ›von Freunden umzingelte‹ Gesellschaft kann sich weit öffnen, ohne sich zu verlieren – für Güter, Gedanken und Menschen. Sie kann sich nicht verlieren, solange sie sich nicht als eigene im Visier hat, soll heißen, von ihren Bewohnern als ›eigen‹ empfunden wird – nicht im Sinne von eigenartig, sondern von zugehörig im Wechselsinn persönlicher Anteilnahme. Solange eine Gesellschaft nicht mehr von sich weiß als dass sie existiert, ist ihre Grundwahrnehmung die des ›Es gibt‹. Und das bedeutet: alles Mögliche. Stellt sich Angst ein – Angst um die eigene Existenz, Angst, sich angesichts des einströmenden Fremden zu verlieren –, dann ist die Stunde des Kollektiv-Selbst gekommen. Die Öffentlichkeit tritt in Funktion und wird, so oder so, zum Regulativ. Sie kann die Angst vor dem Fremden schüren, sie kann sie dämpfen, sie kann sie bekämpfen, sei es, dass sie sie als Hokuspokus verspottet oder als Werk finsterer Machenschaften hinstellt, angezettelt durch die Feinde der Freiheit, sei es, dass sie ihre privaten oder öffentlichen Äußerungen einem Sanktionsregime unterwirft, indem sie Menschen an den Pranger stellt oder staatliche Maßnahmen gegen sie verlangt. Umgekehrt kann sie versuchen, die Unruhe selbst in Maßnahmen zu überführen, das heißt fürs erste, einen Diskurs darüber beginnen, wie mit dem Fremden auf der Basis von Recht und Gesetz zu verfahren sei – und sie kann just diesen Diskurs durch polemische Interventionen zu verhindern streben.
3.
Ein wenig leichtfertig ließe sich Weltoffenheit als Ablehnung alles Fremden definieren: in der einen Welt darf und kann es nichts Fremdes und keine Fremden geben. Unter die Eigenheiten des zivilisatorischen Prozesses fällt, dass eine wachsende Zahl von Menschen dieser Auffassung zuneigt. Der moderne Massentourismus und das Internet haben sich als treibende Kräfte einer Entwicklung bewährt, die gleichermaßen groß darin ist, Fremdheitswahrnehmungen abzubauen und mit Illusionen zu verkleistern. Im globalen Dorf ist das Beharren auf Fremdheit ein Sakrileg. Darin liegen eine Errungenschaft und eine Gefahr. Der Eine-Welt-Mensch beschneidet – in aller Arglosigkeit – dem real in Erscheinung tretenden Fremden das Recht auf Fremdheit: auf seine Fremdheit wohlgemerkt. Denn auch er ist durch die fremde Gesellschaft befremdet und weiß sich als Fremder in ihrer Mitte. ›Befremdung‹ ist eine existentielle Kategorie, die sich beim besten Willen aus dem menschlichen Dasein nicht fortdenken lässt. Wer sie leugnet, der lügt, wer ihre kollektive Leugnung veranlasst, der errichtet – man muss es so krass sagen – ein Lügenregiment. Wie jedes andere bleibt auch dieses nicht ohne Folgen. Die Lüge sickert in jegliche Verhältnisse ein, in denen Fremdheit sich zeigt, und tendiert danach, sie vorübergehend oder auf Dauer zu vergiften.
Man könnte sich, frei nach Lessing, auf die Parole versteifen – viele tun es –: Der weltoffene Mensch ist der beste. Wie meist entstehen die Probleme, sobald Auslegung gefragt ist: Weltoffenheit, die Fremdheit ignoriert oder herunterspielt, bis nichts weiter von ihr übrigbleibt als eine quantité négligeable, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie vor den Verstehensanforderungen, welche die Welt an sie stellt, hermetisch verschließt, letztlich also eine Form der Borniertheit darstellt. Näher kommt der Sache der gemessen-bildungsbürgerliche Habitus, der das Fremde genießt und gern den Kontakt mit ihm sucht, jedoch unter Wahrung des gebotenen, teils der Würde, teils der Vorsicht geschuldeten Abstands. Der Vorteil dieser Haltung ist zugleich ihr Nachteil: Sie ist, bei allem Respekt für den Durchschnittsbürger, zu individualistisch und zu voraussetzungsreich, um als Modell für die Gesellschaft im Ganzen zu taugen. Die Gesellschaft? Welche Gesellschaft? Eine Gesellschaft, die sich als Einwanderungsgesellschaft versteht und gleichzeitig von Albträumen gebeutelt wird, sollte sich der Überlegung nicht ganz verschließen, welcher mentale Dresscode wohl der geeignete wäre, um den unausweichlichen Herausforderungen zu begegnen.
Auch der weltoffenste Mensch – das Wort in seiner nicht-bornierten Bedeutung genommen – weilt von Zeit zu Zeit gern zu Hause. Nur in den seltensten Fällen endet das Gefühl des Zuhauseseins an der Wohnungstür. Das heißt, es existiert ein Maß des zumutbar Fremden, das nicht durch Ideologie und Fremdenhass, sondern durch das biologische Sein gesetzt wird. Die Schwankungsbreite mag riesig sein – unendlich ist sie nicht. Alles, was dieses Maßes überschreitet, erzeugt Stress – negative Folgen für den Einzelnen und seine Umgebung inbegriffen. Dabei ist Fremdheit alles andere als eine fixe Größe. Ob und wie das Fremde in ein dauerhaft Anderes überführt wird – oder auf dem Weg der Integration ins Eigene einfach verschwindet –, hängt von den Graden und Weisen des wechselseitigen Sich-Akzeptierens ab. Der einfachste – in kognitiver Hinsicht komplexeste – Grad ist das gegenseitige Verstehen, das in Verständnis übergehen kann, jedoch nicht zwingend übergehen muss. Bleibt das Verständnis einseitig, dann bleibt auch, allem Wissen um den Anderen zum Trotz, der im Fremden steckt, die Fremdheit erhalten und das Unverständnis gegenüber der Denk- und Verhaltensweise des Anderen besteht fort. Nicht nur das: Es bekommt durch sie immer neue Nahrung. Fremdheit, auf Dauer gestellt, wird zum Ärgernis. Allerdings nur auf eigenem Grund – im wörtlichen oder metaphorischen Sinn. Verbunden mit räumlicher und kultureller Distanz hingegen, als fremde Kultur entfaltet es den Reiz des Exotischen, den für sich zu erschließen die spezifische Weltoffenheit des Reisenden herausfordert, immer vorausgesetzt, kein Rundum-Sorglos-Paket schirmt ihn gegen zuverlässig gegen seine Umgebung ab.
Fremdheit vergeht. Allerdings besitzen kulturelle Faktoren die Kraft, sie auch bei nachlassender Exotik auf Dauer zu stellen. Wo erst einmal Religionen mit Ausschließlichkeitsanspruch auf engem Raum aufeinanderprallen, da wäre es nicht selten für alle Seiten das Beste, man trennte sich gütlich, bevor die Auseinandersetzungen eskalieren. Die Realität der modernen Staatenwelt sieht allerdings anders aus. Gütlichkeit kann nur Politik bewirken, vorausgesetzt, sie steht nicht selber im Dienste einer Religion. Das zeigt sich bereits in der kleinen Politik der Nachbarschaft, der Politik vor Ort, bei der vieles anders zu gehen pflegt als in der großen Gesellschaft. In der Sphäre der großen Politik hingegen wird Gütlichkeit rasch zum feuchten Traum. Das gilt vor allem dann, wenn expansive Glaubenssysteme das Spiel dominieren, die exklusive Ansprüche auf denselben geografischen Raum erheben – oder gleich auf den ganzen Globus. Einwanderung, Kolonie-, Staatengründung und -teilung schaffen hier Varianten in großer Zahl. Wie Geschichte und Praxis auf allen bewohnten Kontinenten zeigen, kommen dann rasch auch eliminatorische Phantasien ins Spiel.
Parteiische Politik, die im Auftrag übergeordneter Mächte agiert, kann in bestimmten Konstellationen ein Eigeninteresse daran entwickeln, den Pfahl des Fremden im Fleische der Gesellschaft zu erhalten (»Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«). Der Grund ist nicht schwer zu erraten. Gespaltene Gesellschaften, die außerstande sind, ihre Probleme über einen offenen Diskurs zu lösen, rechtfertigen einen höheren Machtaufwand und lassen sich daher autoritärer führen als ihre homogeneren Geschwister. Allerdings muss die Politik dafür sorgen, dass sie in beiden Lagern über eine eigene Klientel verfügt, die handfeste Vorteile aus der entstandenen Lage zieht. Wo immer staatliche Instanzen ihren Einfluss zur Geltung bringen, entsteht so eine Klasse von Funktionären, die vom Rest der Bevölkerung wahlweise als korrupt, als Verräter, als nützliche Helfer oder als Anführer in eine strahlende Zukunft betrachtet werden. Mit Weltoffenheit allerdings hat das nicht das Geringste zu tun.
4.
Verteidiger des Abendlandes preisen das säkulare Christentum, Grundlage der westlichen Zivilisation auch und gerade dort, wo sie vordergründig ›religionsneutral‹ agiert (und agitiert), gern als singuläres Glaubenssystem – schließlich habe es die Weltverhältnisse auf ein nie zuvor erreichtes zivilisatorisches Niveau gehoben, das seinen einsamen Gipfel der außerhalb der Political Correctness offenbar nirgends geteilten Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller Kulturen und Religionen erreicht. Anschließend präsentieren sie die Gegenrechnung: Leider, leider habe es sich auf diesem Wege in ein nihilistisches Sektenwesen verlaufen, das vom biologischen Naturalismus der Transhumanisten über das mechanistische Weltbild der Vielen bis hin zum radikalen Konstruktivismus in der Wissenschaft reicht und pausenlos eklatante Verfehlungen des offenen Weltsinns liefert, geeignet, den Menschen aus der primären Sinnhaftigkeit seines Daseins herauszukatapultieren und in eine fragmentierte, aus seelischen Befremdungen zusammengestückte Welt zu entlassen, in der diffuse Angst alle Lebensregungen durchdringt und manipuliert. So jedenfalls lautet die Botschaft der Zivilisationskritik, die sich das Thema mit anderen, weniger affirmativen Kräften teilt. Die Feinde des Westens sind zahlreich und ihre Weltoffenheit unterscheidet sich von der westlichen beträchtlich.
Die weniger schmeichelhafte Bezeichnung für die spezielle Weltoffenheit der sogenannten zivilisierten Welt, deren Zentren in den westlichen Kolonialmächten lagen, lautet: Kolonialismus. Nicht ohne Grund: Der (Neo-, Neo-neo-)Kolonialismus, der in den Köpfen der Menschen nie aufgehört hat zu existieren und der sich heute in double speak, double standards und einem sorgfältig austarierten Wohlstandsgefälle zwischen den beati possidentes und ihren Klientenstaaten (mit zunehmenden Ausfransungserscheinungen) bekundet, ist eine reale, manche würden sagen: reelle Größe, die sich zwar leugnen, aber nicht aus den Köpfen der Menschen fortzaubern lässt. Was immer man von ihm hält – oder zu halten wünscht –: Er zeichnet sich durch Furchtlosigkeit gegenüber den tradierten Glaubenssystemen und ihren mentalen Unterwerfungsritualen aus. Das ist schon, lax gesprochen, die halbe Miete. Der einzige Kult, dem er sich unterwirft, ist der Kult der Stärke, zu dessen effektivsten Waffen paradoxerweise die nach Belieben herbeizitierten (und unterschlagenen) Menschenrechte zählen. Menschenrechtsrhetorik und doppelte Buchführung gehören zusammen, wenn Sanktionen verkündet und Armeen in Bewegung gesetzt werden. Wer nichts und niemanden fürchtet, ist selbst eine furchterregende Größe.
Ganz anders steht es um die Ängste der Menschen. Wer Furcht und Angst verwechselt, der ist, mit Goethe zu reden, nur ein trüber Gast auf Erden. Die frei flottierende Angst greift sich ihre Objekte fast nach Belieben. Angst setzt einen gewissen Mangel an Welthaftigkeit voraus, eine Lücke in der Wahrnehmung der umgebenden Welt, die gefüllt werden will. Daher ist der bindungslose – oder in schütteren Bindungen lebende – Einzelne entwickelter Gesellschaften ihr primärer Kandidat: Bei ihm verbinden sich A-Religiosität und existenzielle Unsicherheit zu einem explosiven Cocktail, der sich von Zeit zu Zeit in Massenerlebnissen entlädt. Vom Einzelnen zur Masse Mensch ist, folgt man den Psychologen, nur ein Schritt. Die von Göttern freigeräumte, ›seellose‹ Welt ist jene Welt der Massenängste, die seit Gustave Le Bon in praktisch allen Massentheorien spukt. Wer den Kolonialismus in seinen vergangenen Formen als Erbschuld des Westens betrachtet (und damit die religiöse Kategorie der Schuld in die säkulare Geschichte einführt), der nährt diese Ängste und führt ihren diversen Ausprägungen immer neue Parteigänger zu. Wo auf der einen Seite panische Überfremdungsängste grassieren, gefällt sich die andere nach dem Motto Macht hoch die Tür, die Tor macht weit in Gesten voreilender Unterwerfung. Unterwerfung unter was? Offenbar unter das Diktat des Fremden. Es wäre mehr als erstaunlich, würden radikale Bewegungen sich dieses Angstszenario nicht zunutze machen.
5.
Dem Zivilisationsgeschenk Weltoffenheit eignet daher eine gewisse innere Tücke –: wie allen Souveränitätsgesten, die dem Einzelnen als Gemeinschaftsgeschenk offeriert werden, so dass ihnen, nach dem Faust-Wort Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen keine eigene Erwerbsleistung entspricht. In der Praxis, heißt das, bricht sie gerade dort zusammen, wo sie gefordert wäre. Allen Institutionen, die ihre Mitarbeiter in ferne Länder entsenden, ist das Phänomen geläufig – es reicht von mentalen Erschöpfungszuständen bis zu unkontrolliertem Hass auf die fremde Umgebung, die man zunächst ganz wundervoll fand. Doch auch der eigene kulturelle Raum bleibt davon nicht verschont. Die europäische Einwanderungsdebatte, von Leugnungen aller Art durchsetzt, ist ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Mechanismus. Weltoffenheit, wörtlich genommen, müsste zunächst die Unfähigkeit der eigenen Gesellschaft, sich angemessen zu reproduzieren, mitsamt ihren Gründen aufs Tapet bringen. Schließlich beginnt alle ›Welt‹ zu Hause, vorzugsweise bei den hochritualisierten und daher weitgehend unbewussten Verhaltensweisen, denen man selbst unterliegt. Nur bei distanzierter Bestandsaufnahme lässt sich ein rationales Verhältnis zur Masseneinwanderung aus den einst kolonisierten oder auf ökonomischem Abstand gehaltenen Ländern gewinnen. Eliten, die Fremdenhass für ein Unterschichtphänomen halten, dem mit erzieherischen, notfalls polizeilichen Maßnahmen zu begegnen sei, bringen diese Selbstdistanz in der Regel nicht auf; irgendwann versagen sie in der Führung des Landes. Der Grund ist bald ermittelt: Die proklamierte Weltoffenheit der Schuldfraktion entpuppt sich, aufmerksam betrachtet, als eine aggressive Variante der Angststarre, die sich in dem auf Fremdenabwehr geeichten Teil der Bevölkerung ein Feindphantasma erschafft. Das mag in Kreisen, die sich betont religiös geben, zwar auch mit christlichen Motiven zu tun haben, aber es entfernt sich in den Resultaten doch sehr von praktiziertem Christentum.
Das christliche Ethos einmal beiseitegesetzt, ist Rationalität der einzige Universalschlüssel zur Welt, den die Menschheit bisher hervorgebracht hat. Kein Wunder, dass sie bei denen, die sich ihre Weltläufigkeit gern von Werbebildern bestätigen lassen, nicht hoch im Kurs steht. In diesem Kontext darf man den modernen Ferntourismus mit einem Aufklärungsbild ruhig den Affen der Vernunft nennen. Nicht zuletzt zeigt sich das in seinen bizarren Asymmetrien, unter denen die Ausbeutung von Reiseprivilegien und Währungsungleichgewichten die vordersten Plätze einnimmt. Man legt sich die Welt zurecht, wie man sie braucht, ohne lange nach Hinz oder Kunz dort draußen zu fragen. Sicher, sie alle sind ›wunderbare Menschen‹ – der stereotype Ausdruck kaschiert das Dienstleistungsverhältnis, das den Begegnungen der reisenden Masse zu Grunde liegt, das heißt die ›spontane‹ Rubrizierung jener Menschen als Lakaien, die nach Möglichkeit jedem närrischen Wunsch zu Willen sein sollen. Solche Einstellungen, einmal erworben, erweisen sich als außerordentlich stabil und spiegeln sich ›zu Hause‹ im Verhältnis zu den Einwanderern wider, wobei es kaum eine Rolle spielt, ob sie als erwünscht oder unerwünscht empfunden werden. Wer glaubt, dabei handle es sich bloß um Restposten aus der Kolonialzeit, denen mit ein paar Sprachregelungen beizukommen sei, der unterschätzt bei weitem die formende Gewalt der aktuellen ökonomischen Verhältnisse.
Der touristisch geprägten Weltoffenheit der meisten Mitbürger liegt die Gewissheit zu Grunde, ›am Ende‹ wieder zu Hause zu landen. Das demonstrieren die medial gern durchgehechelten Schicksale von Auswanderern, die sich vom Glanz der Urlaubserlebnisse blenden ließen und nach ein paar Jahren in der Fremde resigniert die Rückreise antreten, weil sie ›innerlich nie angekommen‹ waren. Der umgekehrte Effekt zeigt sich im Unterhaltungssektor, wenn die Touristin not amused reagiert, falls der Ferienlover aus der Levante einmal leibhaftig vor der heimischen Wohnungstür aufkreuzt und das Alltagsleben ›heillos durcheinanderbringt‹. Die seichte Situationskomik verliert sich, rechnet man sie auf das Verhältnis der eingesessenen Bevölkerung zu den ungebetenen Gästen hoch, die als ›Flüchtlinge‹ die Landesgrenzen mitsamt ihren bürokratischen Hürden außer Kraft setzen.
Wer hier lauthals ›Weltoffenheit‹ demonstriert, hat in der Regel weniger den Zustrom der Fremden als die Masse der verachteten Spießer im Auge, die ›damit nicht zurechtkommt‹. Vielleicht nicht einmal das: Was hier als ›Weltgewissen‹ firmiert, besitzt in der Regel ein solides Unterfutter aus ökonomischen und bevölkerungspolitischen Motiven, wie sie sich zwangsläufig aus niedrigen Geburtenraten ergeben. Demgegenüber fallen fiskalische Gründe der Gegenseite wie der Druck auf das Sozialsystem selbstverständlich ab. Der Verdacht, dass auch sie nur vorgeschoben sind, um die hässliche Fratze der Fremdenfeindlichkeit zu verbergen, wird durch die Schwierigkeiten genährt, die Folgen hoch dynamischer Prozesse wie der Masseneinwanderung überhaupt akkurat zu berechnen. Harmloser werden sie dadurch nicht.
Ohnehin besitzt Weltsinn, der darauf spekuliert, dass ›die anderen‹ die eigenen Renten erarbeiten werden, einen Hautgout, der nicht weggehen will, gleichgültig, wie viel moralische Sauce einer darüber ausgießt. Die simple Überlegung, dass in manchen Herkunftsländern dann vielleicht gerade diese Arbeit nicht erbracht wird, obwohl sie bitter nötig wäre, findet nur über große Widerstände Eingang in den politischen Alltag. Die ethisch unverdächtige Idee, den ›reinen‹ Überschuss an Menschenmaterial aus fernen Ländern abzuschöpfen und damit einen Beitrag zu deren innerer Stabilität zu leisten, hat mit der komplexen Wirklichkeit nicht viel gemein. Dazu ist die Welt-Geburtenlage generell zu unübersichtlich. Rasch expandierende Volkswirtschaften haben einen anderen Menschenbedarf als stagnierende. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Es sind gerade nicht die Chancenlosen, die ihr Glück in der Fremde versuchen. Wenn die Intelligenten, die Wagemutigen, die Leistungsbereiten, die ›Weltoffenen‹ ihre Länder verlassen, dann mag ihr Ruf in den Ankunftsländern durch die unausbleibliche Flut von Glücksrittern und Sozialschmarotzern schwer geschädigt werden, aber zu Hause fehlen sie trotzdem. Und wenn die kulturelle Schranke sich am Ende als stärker erweist als der eigene Traum, dann zahlen gerade die Weltoffenen unter den Migranten den höchsten Preis, den das Individuum für sein Fortkommen zahlen kann: ein verfehltes Leben.
Ich fasse zusammen: Weltoffen ist stets der Einzelne, nie die Menge. Eine hochentwickelte Kultur des Individuums ist vonnöten, damit eine Gesellschaft auch nur einen Hauch von Weltoffenheit ausstrahlen kann. Ohnehin wird kollektive Weltoffenheit üblicherweise von den Falschen eingefordert, von Leuten, die nicht begreifen wollen, dass ihre kollektivsüchtigen Überzeugungen, ganz zu schweigen von diesbezüglichen Wünschen, so etwas wie eine mentale Barriere darstellen, die verhindert, dass aus ihnen gelebte Wirklichkeit entstehen kann. Sie begreifen in der Regel auch nicht, dass individualitätsfeindliche Mentalitäten, massenhaft importiert, mehr als jeder Egoismus der Fragmentierung der Gesellschaft Vorschub leisten – sofern sie gerade das nicht sogar gutheißen und befördern möchten. Der Hass auf das Eigene ist eine zivilisatorische Realität, der sich die Analyse stellen muss. Sie trägt das täuschende Antlitz einer Schein-Weltoffenheit, hinter der das nackte Ressentiment des verfehlten Lebens aufscheint. Was hätte aus mir in einer anderen Umwelt werden können? Harmlos ist eine solche Frage nie, sie signalisiert ein Unbehagen an der eigenen Existenz, das sich nicht auslöschen lässt und der Umwelt, wie immer definiert, den Status einer feindlichen Macht verleiht. Die Welt, die gute Welt liegt jenseits der feindlichen Umwelt – transzendent, unerreichbar, unbelangbar.
6.
Der Fremde und der Andere. Der ›Andere‹ ist immer schon Teil der eigenen Welt, daher kommt er unter der Ägide forcierter Weltoffenheit nicht weiter in Betracht. Ganz anders der Fremde: Ihm gehört die ganze Aufmerksamkeit, die ganze Menschlichkeit der Weltsüchtigen. Ihr Verständnis gilt dem, der in seinem Unverstandensein alle Signale einer potenziellen oder realen Opferexistenz aussendet, nicht dem, der sich auseinanderzusetzen weiß. Nicht selten wird der Andere dabei zum Störenfried. Sein Anderssein ist vertraut, es ist das Andere des Selbst, vielleicht sogar das andere Selbst, von dem man sich irgendwann abzusetzen gelernt hat und mit dem ›gleichgesetzt‹ zu werden man über alle Maßen fürchtet. Der Andere, das war ich gestern. Gestern? Nein, nie! Exakt spiegelt der Doppelsinn des Wortes ›Verständnis‹ dieses Verhältnis wider: Den Anderen verstehen heißt gerade nicht, ihn zu verstehen. Das gilt in beide Richtungen: Verständnis für einen, den man nicht versteht (den Fremden), lässt sich leichter aufbringen als für einen, den man nur zu gut zu verstehen glaubt, dessen Lebensauffassung man aber nicht teilt (den Anderen). Man könnte daraus folgern, dass nicht der Fremde, sondern der Andere den wahren Probierstein von Weltoffenheit liefert. Wäre das gerecht? Die Welt beginnt bekanntlich beim Nächsten. Wer ihn überspringt, um sich und der Welt etwas zu beweisen, beweist damit eine Art von Verschlossenheit, die, so steht zu vermuten, in allen Verhältnissen, die er eingeht, wiederkehren wird.
Dennoch: Sind Weltsucht und Weltoffenheit am Ende nicht dasselbe? Könnte es nicht sein, dass der Fetischcharakter des Suchtobjekts ›Welt‹ in der Phraseologie der Weltjünger seinen vollendeten Ausdruck findet, ohne dass sich ihr eine positive Realität zuordnen lässt? Leicht ist die Frage nicht von der Hand zu weisen. Die Variabilität der Gattung ›Mensch‹ mag groß sein, am Ende bleiben alle doch Menschen, ausgestattet mit den physischen und psychischen Basisreflexen, die zum Menschsein nun einmal gehören. ›Weltoffenheit‹ wäre aus dieser Perspektive eine zur Lüge tendierende Überhöhung der Lust auf Neues, der cupiditas rerum novarum, auf die sich die Zeit der großen Entdeckungen soviel zugute tat, während sie in den Jahrhunderten davor eher zu den Lastern gezählt wurde. Mittlerweile sind die großen Entdeckungen der europäischen Neuzeit in Verruf geraten – jedenfalls, soweit sie sich auf ferne Kontinente und ihre ›Eingeborenen‹ beziehen. Auch da lässt sich mühelos ein falscher Zungenschlag heraushören: Hätte es jene Entdecker nicht gegeben, gäbe es heute nicht die eine Welt, in deren Namen der ihre geschmäht wird. Richtig ist, dass die cupiditas rerum novarum sich heute, sieht man von den Entdeckungen der Elementarphysik ab, den Planeten Erde verlassen hat und sich im interstellaren Raum neue Betätigungsfelder verschafft – stets darauf gefasst, dort auf neue ›Eingeborene‹ zu stoßen, die dann, da nicht mehr menschlich, nur noch als ›Lebensformen‹ taxiert werden.
Unter den kulturellen Bedingungen des heutigen Westens wäre Weltoffenheit, so ließe sich folgern, am ehesten dort zu vermuten, wo die Menschenwelt in einem radikal säkularen Sinn zur Disposition steht – nicht vor dem Hintergrund einer auf Treu und Glauben angenommenen Götterwelt, die in Bezug auf den Menschen ihre eigenen Ziele verfolgt, sondern in der gesuchten und gefürchteten Konfrontation mit ›außerirdischen‹ Zivilisationen, die ebenso zur Auslöschung der eigenen Spezies wie zur ihrer Einfügung in eine umfassendere Welt interplanetarischer Begegnungen (und daraus folgender Assoziationen) führen könnte. In diesem Bereich ist alles Spekulation. Betrachtet man den Aufwand an Geld und Technologie, den er mittlerweile verschlingt, dann wächst unserem Gegenstand hier eine weitere Dimension zu: die Verbindung von Spekulation (im intellektuellen Sinn des Wortes) und ihrem ökonomischen Pendant. Denn natürlich spekuliert auch die Raumfahrt, abgesehen von ihrer militärischen Verwertbarkeit, auf künftige Gewinne, am besten solche, die alles Bisherige übersteigen. ›Welt‹ – welche auch immer – muss sich lohnen. Das läge dann – im Anfang liegt das Ende – von der Vorstellungswelt der einstigen Conquistadores nicht so weit entfernt.
Wie erst die Entdeckung der Neuen Welt die Alte zu einer Einheit zusammenschmolz, für die es zuvor mangels Bedarf keine Wörter gab, so hat früher als Weltbank, WHO oder Weltklimarat die Science Fiction ein ›buntes‹ Menschheitsbewusstsein geschaffen, dessen Vorläufer sich noch mit emotional aufgeladenen Bilder karitativer Fürsorge im kolonialen Raum begnügen musste. Insofern wäre Weltoffenheit, bezogen auf das Ganze der Menschenwelt, eine sachte veraltende Kategorie, unter der die Dinge zu betrachten sich nicht mehr recht lohnt. Dass Politiker sie inzwischen benutzen, um das murrende Volk bei der Stange zu halten, kann diesen Befund nur verstärken. Weltoffenheit kann nur der praktizieren, der eine offene Welt im Sinn hat. Eine Welt, in der Firmen Mitarbeiter wie Waren über Kontinente verschieben und den Durchschnittstouristen überall dieselben ›Standards‹ erwarten, ist nicht wirklich offen. Was dem Einzelnen noch als Abenteuer serviert – und von ihm wirklich häufig als solches empfunden – wird, schrumpft im Serviceangebot der Veranstalter zum Markenartikel, mit dem man gegen harte Konkurrenz zu bestehen hat und der allein aus diesem Grund in all seinen Aspekten durchkalkuliert sein muss. Kann es eine in Watte gepackte Offenheit geben, die nichts vermisst? Die sich mit einer Inszenierung zufriedengibt, an der andere verdienen, solange man seinen vorgegebenen Part spielt? Die Frage ist oft genug verneint worden, um hier ernsthaft diskutiert zu werden. Doch im Lebenskontext stellt sie sich immer wieder her. Man muss auch nicht unbedingt ins Ausland fahren. Ein Besuch bei den Vertretern des Volkes reicht dafür völlig aus.
7.
Weltoffenheit, die reell sein will, braucht eine Basis: ein gegründetes Orientierungswissen, das in allen Lebenslagen bereitsteht und zuverlässig dafür sorgt, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. In der nautischen Welt der Entdecker waren es Kompass und Karte, die emblematisch für diese Dimension des Abenteuers standen. Doch das Wissen beginnt früher: Wer nicht über physikalische Grundkenntnisse verfügt und sie unbeirrbar festzuhalten versteht, der hat in der Welt der Tatsachen einen schweren Stand. Klimanarren, die aus ihren Ängsten soziales (und politisches) Kapital zu schlagen versuchen, ohne auch nur ansatzweise in die komplexen theoretischen Sachverhalte einzutauchen, die ihren Angstszenarien den Stoff liefern (oder auch nicht), mögen die Welt retten wollen, aber ihre Offenheit ist bloß vorgetäuscht. In Wahrheit geben sie ihren inneren Zwangsvorstellungen hemmungslos nach. Die Frage wäre eine eigene Erörterung wert, warum sich ›Welt‹-Vorstellungen so gern in Zwangsvorstellungen verwandeln et vice versa. Ein Teil liegt sicher daran, dass Totalisieren an sich eine Art Entgrenzung ins Blaue darstellt, der bestimmte Wissenschaften wie die Klimatologie die benötigten Blaupausen liefern. Es ist nicht alles Betrug, was den wachen Verstand ärgert. Die Neigung, die Dinge so zu sehen, dass sie sich sinnhaft in erlebbare und erlebte Zusammenhänge einfügen, geht aller Wissenschaft und aller Welterfahrung voraus. Von Mutter Erde zu ›Gäa‹, der in tödlicher Gefahr schwebenden und nur durch die vereinten Anstrengungen aller hier und jetzt zu rettenden Biosphäre ist theoretisch ein großer, psychologisch gesehen nur ein kleiner Schritt – den einen geht die Menschheit, den anderen das arme verirrte Menschengeschöpf.
Das wäre zu verkraften, solange sich nicht ganze Staaten anheischig machen, nach dem Wagner-Motto Erlösung dem Erlöser der weltverändernden Aktivität des Menschen Riegel vorzuschieben, das Naturbeherrschungs-Phantasma der Moderne im Namen der bedrohten Natur gleichsam zu überherrschen. Die Natur mutiert da rasch zu einer Folge von Rechenexempeln mit Eckdaten, Variablen und Grenzwerten, deren Einhaltung auf der Planungsebene ›unbedingte Priorität‹ eingeräumt bekommt, während die Praxis in ganz andere Richtungen enteilt. Die Theorie komplexer Systeme könnte hier hilfreich sein: Die Kennzeichnung eines Systems als ›komplex‹ führt offenbar zur Feststellung ›mathematisch nicht darstellbar‹. Skepsis gegenüber dem Prognosewert von Modellen ohne eindeutige Kausalitäten sollte die Politik vor Schiffbrüchen bewahren, deren warnende Beispiele in der Biopolitik zuhauf bereitliegen.
Was das Beispiel zeigt: Weltoffenheit, die sich stur auf den Mitmenschen beschränkt, bleibt unterkomplex. Mit der Ausrufung des Anthropozäns wurde ein Schritt getan, der Bösewichte ungeahnter Herkunft auf die Weltbühne bringt. Das perhorreszierte CO2 macht da nur den Anfang, weitere, scheinbar vielversprechende Betätigungsfelder eröffnet die Welt der Viren, gleichgültig, ob von Menschenhand modifiziert oder nicht. Die Freiheit der Bewegung endet rasch an den Gegebenheiten der biophysikalischen Welt. Soll der Liberalismus als zivilisatorische Lebensnorm überdauern, braucht es mehr als Propagandaanstrengungen, die sich doch bloß in Diffamierung und Antidiffamierung des politischen Gegners erschöpfen. Wie auch immer: Falls es nicht gelingt, das enorme Angstpotential dieser neuen Welt zu zähmen und institutionell einzuhegen, stehen die Zeichen auf Festigung der Übermacht seiner Ausbeuter mit absehbaren Folgen für Leben und Vermögen ihrer Hintersassen.
»Die Welt ist alles, was der Fall ist« dekretierte einst Ludwig Wittgenstein. Wie immer man zu dieser Aussage steht, sie ist nun einmal in der Welt und somit einer der Fälle, an denen sich ablesen lässt, dass Philosophen diese Welt ein wenig anders zu sehen gewohnt sind als die Masse ihrer Bewohner. Das Staunen über den ›Sonderling‹ Kant, der Königsberg nicht verließ und sich die Welt im Kopf zuführte, ist nie ganz abgeklungen. Sollte der weltoffenste Geist von allen zugleich der bornierteste gewesen sein? Folgt man aktuellen journalistischen Stereotypen, dann müsste es wohl so sein.
Bevor ich mich der Frage: Wer und was ist borniert? zuwende, ein paar vorbereitende Überlegungen.
8.
Was ist der Fall?
Zwei Antworten
(a) Der Fall ist alles Sicht-, Riech, Tast-, Schmeck- und Hörbare, sei es auf dem direkten Weg über die Sinne, sei es durch leistungssteigernde Apparaturen (worunter Drogen besser nicht fallen sollten).
(b) Der Fall ist alles, worüber kommuniziert wird.
Die erste Aussage verlagert ›Welt‹ in den Bereich sinnlicher Wahrnehmung, die zweite in den Bereich sprachlicher (und pseudo-sprachlicher) Betätigung. Beide Male ist der Mensch das Maß aller Dinge, sprich: Menschenwelt und Welt überhaupt fallen zusammen – wobei im ersten Fall eine Befragungs- (und Auskunfts-)Situation vorausgesetzt werden muss, im zweiten eine ›sinnliche‹ oder pseudo-sinnliche Grundlage aller Kommunikation. Insofern gehören beide Aussagen zusammen. Vorausgesetzt, wir begnügen uns mit dieser Auskunft, so bleibt doch die Entscheidung zu fällen, wie ›Offenheit‹ zu definieren sei: eine sinnengestützte Offenheit wäre in der Tat darauf angewiesen, soviel Sinneseindrücke wie möglich zu sammeln, um dem selbstgesetzten Anspruch zu genügen, während eine kommunikationsgestützte sich auf das Sammeln von Auskünften konzentrieren und dabei bequem die Lehnstuhlperspektive beibehalten könnte. Beides wirkt, für sich genommen, ein wenig albern. Dennoch charakterisiert es die beiden großen, gewöhnlich miteinander in Fehde begriffenen Typen von Weltoffenheit, zwischen denen, genau genommen, keine Vermittlung möglich ist, da der Anspruch, als weltoffen zu gelten, jeweils auf der einen oder anderen Seite liegt. Diese Fehde schlichtet nur der Tod, soll heißen, das Ende aller Ambition.
Wie bereits angedeutet: ›reine‹ Sinnlichkeit ist eine Chimäre, genauer gesagt, eine Abstraktion, ein Immer-weiter ohne Sinn und Ziel. ›Welt‹ entsteht, wie immer man es dreht und wendet, im Bewusstsein, im Kopf eines jeden Einzelnen und damit als seine Welt, die sich erst durch ständigen Austausch zur Welt einer Gruppe, Gemeinschaft, Kultur zusammenfügt, nirgends jedoch als fixe eigene Größe existiert, allenfalls als Reflex im Weltverständnis des Einzelnen. Die ganze Welt, die Welt aller (Menschen), die Welt, die ›der Fall ist‹, soll heißen, in der Gesamtheit aller Aussagen ›präsent‹, ist daher eine sowohl abstrakte als auch dynamische Größe: abstrakt, weil sie in niemandes Kopf zu Hause, dynamisch, weil sie sich mit jedem getätigten Sprach-Akt buchstäblich in etwas Neues transformiert. Man kann auch sagen: ›Welt‹ – im Sinne der Welt aller – existiert allein im Denken, vor jedem Versuch, sich über sie – und in ihr – auszutauschen, wobei ›vor‹ kein temporales, sondern ein logisches Verhältnis beschreibt. Nur ein per se weltoffenes Wesen kann überhaupt der Welt teilhaftig sein oder sich in ihr orientieren.
9.
Das widerstrebt dem gemeinen Realismus. Für ihn liegt die Welt immer ›dort draußen‹, gleichgültig, wie die Wortklauber darüber denken. Es zieht ihn hinaus in die Ferne, in fremde Welten, in unbekannte Verhältnisse, zu Aufgaben, die nur der kennt, der ›sich bewegt‹. Das ist zwar nachvollziehbar, aber es ist im Wortsinn borniert, denn es reduziert sich auf die Hälfte des In-der-Welt-Seins, ihren dynamischen Aspekt, verbunden mit der Vorstellung physischer Fortbewegung, und erklärt die Hälfte zum Ganzen. Aus exakt diesem Grund ist Weltoffenheit, verstanden als realistisches Projekt, nicht reklamierbar: Der Anspruch fällt auf den zurück, der ihn erhebt, und markiert ihn als borniertes Subjekt.
Borniertheit ist keine Eigenschaft, sondern ein Zustand. Kein Mensch ist von Haus aus borniert – er wird es durch Umstände, die zu ändern nicht vollständig in seiner Hand liegt. Die Summe dieser Umstände erzeugt sein Weltverhältnis, soll heißen, die Art und Weise, wie er die Welt betrachtet und taxiert. ›Borniertheit‹ und ›Welt‹ gehören eng zusammen: Borniert ist, wer sich ins Schneckenhaus ›seiner‹ Welt zurückgezogen hat, auch wenn er der Auffassung ist, er navigiere auf einem reißenden Fluss und die anderen stünden bloß als Zuschauer am Ufer. Borniert handelt auch eine Regierung, die den von ihr Regierten die Weltoffenheit, die sie meint, auf dem Verordnungsweg beizubringen versucht. Im Stadium der Borniertheit verblasst die im Bewusstsein vorgeschaltete Welt, der Welt-Öffner, der aller konkreten Weltsicht vorausliegt. Borniertheit, so ließe sich definieren, ist der Verzicht auf Welt zugunsten der eigenen, erträumten, ertrotzten, zurechtgebastelten oder -gestoppelten Welt, die dem anderen aufzuzwingen plötzlich Pflicht wird – schließlich ist man nicht irgendwer, sondern l'homme qui marche, angekommen/nichtangekommen, unterwegs zu den Sternen oder einem anderen Einsatzort.
Aperto/chiuso – Man kommt nicht weit in Italien, ohne diesem Begriffspaar, auf Menschen bezogen, zu begegnen: Der aufgeschlossene Mensch ist der beste könnte der Leitsatz lauten, der seine Verwendung reguliert. Ein Stück Renaissance ist darin noch immer lebendig. Der Mensch, der das Schöne liebt, selbst wenn es sich im Gewand des Hässlichen birgt, macht vor keinem Gegenstand, keinem Fremden Halt; er ist stets affiziert. Das klingt nach einer kulturellen Norm, aber genauso gut nach einem besonderen, allseits beliebten Charakter, dessen Skala vom komplizierten Genussmenschen bis zum einfachen Schwätzer reicht. In diesem Fall erübrigt sich der Superlativ (›der aufgeschlossenste‹), weil es keine Steigerung gibt, es sei denn, Ironie mischt sich ins Spiel: ›molto aperto‹ enthält ein doppelzüngiges Lob, dem der Gelobte besser zu entgehen trachten sollte. Hinter Norm und Charakter schimmert eine bestimmte Geistesverfassung auf: Es ist der in die Mitte der Welt gesetzte Mensch Leonardos und Herders, der sich seiner Lage bewusst ist und die daraus sich ergebenden Vorteile mit Leidenschaft und Augenmaß ergreift. Hemmungslose Hingabe ist da nicht gefragt, sie wäre auch wenig hilfreich, unter anderem deshalb, weil sie geradewegs in die Vereinzelung führte. Wer nicht Herr seiner Sinne bleibt, der verliert sich an die Welt, aber er verliert sich auch in ihr und irgendwann verliert sich seine Spur.
Weltsinn, wie die Renaissance ihn gehegt und gepflegt hat, beweist sich im Bleibenwollen, im Wunsch, ›Werte zu schaffen‹, die den Einzelnen und seine Gegenwart überdauern. Diese Tendenz ist der Kultur eingeschrieben, die man die westliche nennt, zwar mit nachlassender Tendenz, aber immer noch leicht erkennbar. Dem Denken des europäischen Mittelalters, dessen zeitenthobene Dome in ihrer gewollten, nur an wenigen Stellen durchbrochenen Anonymität sich an die der Pyramiden und anderer frühgeschichtlicher Bauten anschließt, war sie fremd. Wer ›etwas Bleibendes‹ schaffen will und seinen Namen hineinritzt, der bewegt sich, streng christlich gesprochen, im Raum der Sünde. Andere Kulturen halten andere, ebenfalls wenig schmeichelhafte Wertungen bereit. Auch in Europa bleiben die Anhänger des ›panta rhei‹, des Alles fließt zahlreich: Wo alles fließt, da verfließt auch alles und ein Tor ist und bleibt, wer etwas davon festzuhalten gedenkt. Das ›Navigieren‹, das ›Kurshalten‹ erübrigt sich dort, wo so gedacht wird, und in der Praxis bleibt von ihm nur die leere, dramatisch ausstaffierte Rhetorik übrig, denn natürlich ist Kurshalten immer gefragt und Inkompetenz, vor allem ideologiegetriebene, klammert sich vielleicht am entschiedensten ans Ruder, bis der Zufall oder ein ›Feind‹ es ihr aus der Hand nimmt.
Dass Ideologie, wie Borniertheit, eine Art Weltflucht darstellt, gilt als allgemein bekannt. Den Weltsinn des Einzelnen stellt sie unter anderem deshalb auf eine harte Probe, weil sie ihn vollständig zu okkupieren trachtet: Schließlich ist sie der große Augenöffner, den zu verschmähen gleichbedeutend damit ist, den klaren Blick auf die Weltverhältnisse, wie sie ›in Wirklichkeit‹ sind, zu verweigern. So jedenfalls klingt der von ihr ausgehende Sirenensang, der sie wiederum als Ideologie kenntlich werden lässt – als in sich kreisenden Irr-Sinn mit Worten und Wort-›Konstrukten‹, dessen Gläubige seinen Weltbezug mit List, Tücke und vor allem Gewalt erst herzustellen trachten. Demgegenüber ist Weltoffenheit – primäre, nicht abgeleitete Weltoffenheit – das gegebene Remedium, um nicht zu sagen, die einzig reelle Panazee: Sieh hin! Sieh genau hin! Sieh immer wieder hin! Natürlich ist es mit dem Hinsehen nicht getan, Ideologie wird bloß als Kollektivphänomen greifbar, dem zu widerstehen die geistigen und moralischen Kräfte des Individuums bis aufs Äußerste fordert – nicht selten die physischen obendrein. Den kanonischen, unserer Kultur eingebrannten Topos dazu liefert damals wie heute die von Galilei überlieferte Sentenz »Und sie bewegt sich doch«. Wer sie nicht kennt, der kennt Europa nicht und nicht den Geist der Wissenschaft, der es groß gemacht hat.
10.
Der erste Mensch im All – wenige Motive haben sich der im Allgemeinen eher dickfellig reagierenden Menschheit so eingeritzt wie gerade dieses. Das erstaunt wenig, da er als erster die Biosphäre verlassen (nicht ohne ein winziges Stück davon mit auf die Reise zu nehmen, um kurzfristig zu überleben) und damit die Verlorenheit des Menschen im Weltall erlebbar gemacht hat. Mehr Schein als Wirklichkeit: Am Gängelband einer ausgeklügelten Technologie, mit allen Fasern von Wissenschaft (und grenzenlosem Vertrauen in sie) abhängig, rein bewegungsmäßig auf wenige eingeschliffene Griffe und Funktionen eingeschränkt, war das, was da gefeiert wurde, alles andere als ein Leben nach menschlichem Gusto – es war nichts weiter als eine künstliche, mit astronomischem Aufwand hergestellte und für einen winzigen Zeitraum aufrechterhaltene Situation, ähnlich einer Simulation, wofür es nicht wenige Zeitgenossen, wie später die Mondlandung, auch hielten. Heute, da die Erregungen längst verklungen und menschliche Aktivitäten im erdnahen Raum zur Routine geworden sind, hat sich die Erwartung künftiger Kolonien abseits des Heimatplaneten, in denen es Menschen dereinst vergönnt sein soll, ein menschenangemessenes Leben zu führen, auf Projekte wie die Marsbesiedlung verschoben – die Zukunft wird weisen, was daran bloßes Phantasma oder ernstzunehmende Möglichkeit ist.
Der Mensch im All ist ein Abfallprodukt der Wissenschaft, projiziert auf die Folie aus Begehren und Angstlust, mit welcher Menschen seit Jahrtausenden die Bewegungen der Himmelskörper verfolgen. Dass diese Welt nur eine winzige Provinz innerhalb einer größeren darstellt, in welcher der Mensch allenfalls als Mücke oder Staubkorn figuriert, kehrt als Grundfigur abgewandelt in allen Religionen wieder. Dort, wo das wissenschaftliche Weltbild die alten religiösen Vorstellungen überformt hat, ist das alte Jenseits zum neuen Diesseits geworden: Der moderne Mensch lebt in einer durch Wissenschaft nicht nur transformierten, sondern durch und durch erschlossenen Welt, die von der Tiefsee und den Theorien über das Erdinnere bis zu den fernsten Galaxien und den theoretischen Annahmen über die Grenzen und die Eigendynamik des Universums reicht. Was die Welt, nach dem Faust-Wort, im Innersten zusammenhält, ist Gegenstand der Elementarphysik, so wie das Eigenste des seiner selbst bewussten Menschen, die Psyche, ohne Psychologie nicht mehr vorstellbar ist. ›Unsere Welt‹ und die Welt der Wissenschaft ist ein und dasselbe. Das wissen alle. Trotzdem halten sie an Vorstellungen fest, in denen die Welt ein Goldenes Kalb ist, das zu umtanzen oder zu verabscheuen die große Alternative darstellt – oder wahlweise eine große grüne Wiese, auf der jeder sein Auskommen findet, sofern er nur genügend Offenheit aufbringt, um ihre Angebote zu nützen.
Die moderne Astronomie hat die säkularen Zerfallsprodukte der christlichen Theodizee, die Geschichtskonstruktionen des neunzehnten Jahrhunderts mit ihren menschheitszentrierten Entwicklungsträumen, überwölbt vom Abschlusstableau eines mundanen Paradieszustandes, in dem der Antagonismus von Mensch und Natur sich in Wohlgefallen auflöst, brutal geschreddert. ›Wir‹ wissen mit großer Sicherheit (glauben-zu-wissen), wie lange die Erde existiert und wie lange sie noch existieren wird, wir verfügen über fundierte Theorien, die zeigen, was mit ihr, mit dem Sonnensystem und dem Universum insgesamt in der Zukunft geschehen wird, wir wissen ebenso, welchen Unwahrscheinlichkeiten sich das Leben auf unserem Planeten verdankt und welchen Gefahren bis hin zur Auslöschung es zu jedem Zeitpunkt ausgesetzt ist. Um das alles in Erfahrung zu bringen, bedarf es keiner Cook-Reisen in die Südsee, ein Gang in die Bibliothek tut es auch. Nein, er tut es nicht auch, er erweist sich als unumgänglich, will einer ernsthaft etwas in Erfahrung bringen. Der Schlüssel zur Welt liegt in ein paar Formeln vergraben, im Prinzip jedermann zugänglich, aber nur vergleichbar wenigen geben sie Auskunft. Weltoffen, wie sie nun einmal vor sich selbst dastehen möchte, zieht die Mehrzahl der Menschen es vor, auf Krater zu klettern, von deren Entstehung sie nur verschwommene Vorstellungen besitzt, Gebirgszüge ›toll‹ zu finden, deren Gesteinszusammensetzung sie nicht kennt, geschweige denn ihre Herkunft, in Meeren zu plätschern, deren Gefahren sie ignoriert, und sich Menschenkenntnisse zugute zu halten, die an den einfachsten Fragen nach Religion, Herkommen, ethischen Standards und Familienstrukturen scheitern. Das alles ist ganz normal.
Dass alle Menschengeschichte am Ende zurücksinkt in die Geschichte des Lebens auf diesem Planeten, so wie diese in die Geschichte des Sonnensystems, der umgebenden Galaxie und des Universums, zeitigt eine Schwierigkeit, die irgendwann die stillen Kammern der Wissenschaft verlassen hat und mehr und mehr den Alltag der Menschen bedrückt. Menschliche Geschichte ist Erfahrungsgeschichte: Was immer Menschen erlebt, erlitten, bestanden, also erfahren haben, wird Teil ihrer Geschichte, soweit sie darüber Auskunft erteilten und diese Auskünfte gesammelt, ausgewertet und überliefert wurden. Erfahrungsgeschichte ist überlieferte Geschichte. Archäologie ergänzt die Überlieferung, korrigiert sie hier und da und erweitert das Gattungswissen, vornehmlich in Vor- und Frühgeschichte, durch die Heranziehung materieller Funde. Doch in welche Töpfe auch immer sie blickt, überall findet sie sich angewiesen auf Interpretationen, die ohne direkte Überlieferung im Spekulativen hängen bleiben. Das Maß menschlicher Geschichte ist die Erfahrung, ihre Welt identisch mit der Erfahrungswelt der menschlichen Spezies.
Erdgeschichte – und die sie überwölbende Universalgeschichte neueren Typus’ – ist anders. Die Zahlen und Zeiten, mit denen sie hantiert, bleiben der menschlichen Lebenserfahrung ebenso verschlossen wie das Erdinnere oder die Geheimnisse stellarer Lichtquellen, die aufzuspüren es eines James-Webb-Teleskops bedurfte. Planetarische Geschichte und Menschengeschichte sind, um dieses hübsche Wort zu verwenden, miteinander inkompatibel. Ihre Grundlagen, ihre Zyklen, ihre Entwicklungen passen nicht zueinander, jedenfalls nicht, solange der menschliche Erfahrungsraum als Maß aller Dinge fungiert. Dabei ist die Abhängigkeit der einen von der anderen einseitig und radikal, wie jedes registrierte Erdbeben und jeder Vulkanausbruch gleich gründlich bestätigt wie der dem Menschen in Fleisch und Blut übergegangene Tag- und Nachtzyklus oder der lebensbestimmende Rhythmus der Jahreszeiten. Kurioserweise verbirgt in vielen Fällen die Abhängigkeit die Inkompatibilität. Schließlich beeindruckt wenig die Menschen so sehr wie die Majestät eines Naturereignisses, das sich vor ihren Augen oder unter ihren Füßen abspielt, und kaum eine Religion hat der Versuchung widerstehen können, auffälligen Naturphänomenen, beginnend bei Blitz und Donner, eine Botschaft an die Menschheit anzudichten.
Es ist vermutlich kein Zufall, dass die herausragendste Erfindung der letzten Dekaden, der Computer, sobald erst einmal die erforderliche Rechenleistung zur Verfügung stand, umgehend dazu benützt wurde, einer der am aufwendigsten zu ermittelnden und am schwersten zu verstehenden Entwicklungskurven der Biosphäre, dem Erdklima mit seinen dramatischen Peripetien, einen menschlichen Sinn zu unterschieben. Das unterschwellig noch immer christlich geprägte Bewusstsein musste nicht lange suchen, um diesen Sinn zu bestimmen: Das Klima ist aus den Fugen und der Mensch ist schuld. Die Idee ist uralt, bloß die Instrumentierung ist neu. Nicht ganz so neu ist der Umstand, dass die Politik, nach einigem Zögern, sich dieses neuen Herrschafts- und Zuchtmittels annimmt, um ihre eigenen Ziele damit zu verfolgen. Und nichts liegt näher, als dass in diesem neoreligiösen Klima die Sekten sprießen. Wann immer erdgeschichtliche Ereignisse in die Menschengeschichte einbrachen – Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, deutliche Klimaumschwünge –, führten sie in den betroffenen Herrschaftsregionen zu Verschiebungen im Machtgefüge. Das Grund dafür liegt auf der Hand: Herrschaft, der generationenübergreifende Stabilisator der menschlichen Dinge, reagiert mit seismischer Genauigkeit auf Erschütterungen, deren Auslöser außerhalb des eigenen Machtbereichs liegen, denn sie enthalten von allen denkbaren Gefahren die schlimmsten – solche, gegen die man nichts machen kann. Man muss aber etwas tun, wie schon der sophokleische Ödipus mit beklemmender Deutlichkeit zeigt: Also konstruiert man eine Schuld und benennt den Schuldigen, der die Sache ausbaden muss. Wir nennen den Schuldigen, nach dem biblischen Vorbild, Sündenbock.
Das CO2 ist der Sündenbock des Computerzeitalters, soweit es bisher Gestalt angenommen hat. Das Orakel, die menschengemachte Erwärmung, ist ein Produkt nicht des Computers, sondern seines wunschgesteuerten Gebrauchs: Man gebe mir eine statistische Anomalie und ich werde, dank der neuen technischen Möglichkeiten, die Welt aus den Angeln heben. In der Tat: Erst das Dogma vom menschengemachten Klimawandel hat die Menschengeschichte ins ›Anthropozän‹ gehoben und damit als Teil einer erlebnisbasierten Erdgeschichte etabliert. Seit die Kunde davon die Welt der Nerds und Freaks hinter sich gelassen hat, erlebt alle Welt Klima und die Medien verdienen daran, es ihr zu erleichtern. Die Welt ist aus den Fugen – so klingt die Botschaft von Mutter Erde in den Ohren der Vielen und die Politik beeilt sich, den Klingelbeutel herumgehen zu lassen, bevor die Spendenbereitschaft der Gläubigen wieder versiegt. Man verdient prächtig am Anthropozän, wenn man gut aufgestellt ist und ein offenes Ohr für die Anliegen der Menschen mitbringt.
Bei der Synchronisierung von Erd- und Menschheitsgeschichte ergibt sich ein Problem, das alle anderen in den Schatten stellt: Es ist die notorische Unzuverlässigkeit ersterer, sobald es darum geht, ihre Ereignisse hieb- und stichfest in Jahreszahlen auszudrücken. Für den, der zufällig an der gefährdeten Stelle steht, macht es einen großen Unterschied, ob der Blitz jetzt oder in zwanzig Jahren einschlägt. Das Vorsorgeverhalten der Neapolitaner würde sich schlagartig ändern, wüssten sie, ob der Ausbruch ihres Supervulkans, der campi flegrei, definitiv im kommenden Jahr oder doch erst in Jahrtausenden bevorsteht. Dasselbe gilt für das Drohpotential, das sich im interplanetarischen Raum herumtreibt: Der Mensch will Sicherheit zu Lebzeiten und die Natur kann (und will) sie ihm nicht geben. Er verlangt sie aber von der Wissenschaft und offenbar gibt es eine Wissenschaft, die diesem Verlangen – aus Hochgefühl, Verblendung, Eigennutz oder Schwäche – nachgibt. Sinnigerweise betrachtet sich gerade dieser Teil als der weltoffene, den Problemen dieser Welt zugekehrte. In gewisser Weise hat er damit sogar recht: Politik und Öffentlichkeit danken es ihm und stellen seine Vertreter auf einen Podest, von dem sie nicht mehr herunterkommen, selbst wenn ihnen irgendwann in ihrer selbstverschuldeten Rolle schwindlig wird.
11.
Verwunderlich wäre es, wenn nicht auch das Geschlecht seinen Anteil an der Weltoffenheit besäße. Als der Ostblock in die Knie ging und die Westgrenzen der DDR sich öffneten, da machte sich in gewissen Regionen nach einiger Zeit ein gewisser Frauenmangel bemerkbar. Es waren, gefühlt oder statistisch untermauert, mehr junge Frauen als Männer in den Westen gegangen. Archäologische Funde scheinen nahezulegen, dass der biologische Fußabdruck der Frauen weiter streut als derjenige der Männer. Das scheint in krassem Gegensatz zum traditionellen häuslichen Image der Frauen zu stehen. Doch dieser Gegensatz löst sich bei näherem Hinsehen in Nichts auf. Soziale Funktion und räumliche Ausbreitung hängen zwar zusammen – insofern dürften auch Heiratspraktiken stets eine gewisse Rolle gespielt haben –, aber sie erzeugen unterschiedliche Bilder. Frauen fügen sich, getestet oder gefühlt, leichter in fremde Milieus ein als Männer. Das beginnt beim Spracherwerb – sowie der dazugehörigen Sprach-Neugier – und bewährt sich an kulturellen Barrieren, die nicht auf den ersten Blick erkennbar werden. Ganz allgemein scheint ihre soziale und kulturelle Mobilität höher zu sein. Das auszusprechen mag im Zeitalter autonomer Geschlechterzuschreibung zu Stirnrunzeln führen, aber es entspricht der Alltagserfahrung so sehr – Urlaubsplanung und -praxis inklusive –, dass einfach etwas fehlen würde, bliebe dieser Aspekt ganz außer Acht. Wäre Weltoffenheit am Ende ein Geschlechtsmerkmal – pardon, ein Gender-Kriterium? Man kann alles diskutieren, warum nicht auch das?
Ist es wichtig? Es ist spannend, die Wege der Menschen über die Erde zu verfolgen und dabei auf Muster zu achten, die durch statistische Häufung entstehen. Darin unterscheiden sich Menschen zwar signifikant, doch nicht grundsätzlich von ihren tierischen Verwandten. Dass der selbstgeschaffene Umweltanteil umso größer und prägender ausfällt, je intensiver der Prozess der Zivilisation sich bemerkbar macht, bedeutet mitnichten, dass ›der Mensch‹ sich in unterschiedlichen natürlichen Umgebungen gleichermaßen wohl fühlen würde (oder sie ihm gleichgültig wären, wie die Marsbesiedlungspläne suggerieren). Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Mit steigendem Wohlstand wird der Mensch wählerischer und selbst Minimaldifferenzen fallen stärker ins Gewicht. Das kann, blickt man auf die russische Besiedlungsgeschichte Sibiriens, zu dramatischen Einbrüchen führen. Aber auch im Wandel alpiner Siedlungsstrukturen macht es sich bemerkbar. Es ist der hungrige Mensch, der widrige Naturverhältnisse in Kauf nimmt, um sein Auskommen zu finden. Und manches verwegen erscheinende Engagement beruht einfach auf Zwang.
Welche Rolle das Smartphone in modernen Wanderbewegungen spielt, lässt sich beim Zustrom aus dem sogenannten ›globalen Süden‹ nach Europa und Teilen der USA beobachten: Es ist Anreiz, Orientierungshelfer und Kommunikationsmittel in einem. Darüber hinaus dient es als Verbindungsglied zwischen den diversen Helferorganisationen und ihren ›Schützlingen‹, die oft genug zu Plünderungsobjekten werden. Die dadurch erreichte Informations- und Kommunikationsdichte rät zu Vorsicht bei der Bewertung sogenannter Pull- und Pushfaktoren, mit deren Hilfe die – oft gespaltenen – Ankunftsländer die Motivation ihrer Neuzugänge zu ergründen versuchen. Auch in diesem Bereich gilt: Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch, das heißt, ein Wesen mit wechselnden, in sich widersprüchlichen und überschießenden Motivationen, von denen sich lagebedingt einmal die eine, einmal die andere nach vorne drängt. Ein Aufnahmeland, das mit einem üppig ausgestatteten Sozialsystem winkt und dafür sorgt, dass Ankömmlinge zwangsläufig in den Maschen des Wohlfahrtsstaats landen, trägt nicht unbedingt zur Befriedigung der komplexen Bedürfnislage des Einzelnen bei, aber es zieht sich gerade die Klientel, die dem steuerzahlenden Teil der Bevölkerung dauerhaft zum Dorn im Auge wird.
Wenn ganze Dörfer und Landschaften sich gen Norden entleeren, dann wird der Punkt überschritten, von dem an nicht mehr die Fraktion der Wagemutigen, Abenteuerlustigen und ›Weltoffenen‹ die Wanderung dominiert, sondern die passive Masse derer, die nicht zurückbleiben wollen. Das hat zur Folge, dass ererbtes Kollektivverhalten und durch Kultur und Sitte vorgegebene Rollenmuster sich an den Zielorten durchsetzen und zwangsläufig zu Friktionen führen, besonders wenn spontane Fremdenabwehr und von interessierter Seite geschürter Hass auf die ›Ungläubigen‹ mit von der Partie sind. Entsprechend schwierig gestaltet sich die ›Akzeptanz‹ bei der aufnehmenden Bevölkerung, Überfremdungsängste und ›Landnahme‹-Bedenken eingeschlossen. Es hat etwas Surreales, wenn hilflose Regierungen in dieser Situation gerade die ›Weltoffenheit‹ von ihr erwarten, die in klassischen Einwanderungsländern mit großer Selbstverständlichkeit – oft auch Härte – den Ankömmlingen abverlangt wird. Es gehört nun einmal zu den Gesetzen der Gruppe, dass der Neuzugang sich an die bestehenden Verhältnisse anpasst. Widersinnig erscheint es da, wenn heimische Autoritäten den Spieß umzukehren versuchen.
Inzwischen sind einige Staaten Europas in die nächste Phase eingetreten: Sie sehen sich wachsenden Machtansprüchen von Eingewanderten (vertreten durch mehr oder minder aggressiv gestimmte, nicht selten religiös motivierte und abgeschirmte Gruppen) konfrontiert, die sich nur schwer oder gar nicht ins bestehende politische System einspeisen lassen, falls sie nicht ohnehin den Weg irrlichternder Gewalt vorziehen. Es besitzt seinen eigenen Charme, an diesem Punkt der Entwicklung die Regenbogenfahne zu hissen – die philosophische Sprache hält für derlei Aktivitäten das Verb ›irrealisieren‹ bereit. Es gilt: Einwanderung ohne Weltoffenheit erzeugt Aggression, Aufnahme ohne Realismus bedeutet Selbstblendung. Doch vielleicht sind die Probleme der Einwanderung längst nicht mehr lösbar und damit Teil der allgemeinen Geschichte geworden, in der vom Auf- und Niedergang der Kulturen gehandelt wird, vom Entstehen und Vergehen des großen ›Wir‹, ohne das ›auf Gedeih und Verderb‹ zusammengebundene Schicksalsgemeinschaften offenbar nicht auskommen können. Eines scheint sicher: Den höchsten Grad an Offenheit erreichen Gemeinschaften zu Zeiten der Desolidarisierung. Ein Anlass zu ungebremster Freude ist das selten.
In vergangenen Jahrhunderten sind Europäer, dem Bevölkerungsdruck folgend, in die Welt ausgeschwärmt – mit den allseits bekannten Folgen für den Rest der Welt und sich selbst. Heute schlägt das Pendel zurück. Es ist nicht anzunehmen, dass die erwartbaren Folgen ausbleiben werden. Das stellt die Verteidiger des Abendlandes vor die unlösbare Aufgabe, als Hüter der Geschichte die Geschichte stillzustellen oder sogar zurückzudrehen. Hier wie in anderen Fällen gilt: Die Zukunft gehört dem, der die Phantasie der Menschen zu füllen versteht. Die Bildungsgüter der Nation oder eines Kontinents waren und sind immer bloß das Eigentum einer Minderheit –: soll heißen, als mehrheitsfähig erweisen sich auf Dauer nur Programme, die aus der Zukunft kommen, unbeschadet dessen, wie oft sie in der Vergangenheit bereits abgewrackt wurden. Der Griff in die Mottenkiste, genannt ›unsere Vergangenheit‹, empfiehlt sich vor allem in Krisenzeiten, wenn die falsche Zukunft regiert und darüber die Gegenwart Schaden nimmt. In gewisser Weise ist jede Zukunft falsch und es kriselt immer. Deshalb ist und bleibt der Konservatismus eine Kraft, mit der zu rechnen ist. Wer ihn auszurotten unternimmt, der hat sich selbst das Urteil der Geschichte bereits gesprochen.
12.
Wer ein wenig Welt gespürt hat, der weiß: Die Deutschen sind das Volk, das alles ernst nimmt, 1 : 1, auch wenn es andernorts bloß zum Zeitvertreib oder als Verpackung anders gelagerter Interessen dient. In der Vergangenheit hat ihnen dieser Zug die Reformation und die Philosophie beschert, in der Kunst die singulären Leistungen der Riemenschneider und Grünewald – und auch in der Gegenwart ist es immer noch für Ingenieursleistungen gut. Erstaunlicherweise hat die Spaßgesellschaft wenig daran geändert. Sie können nun einmal nicht aus ihrer Haut. Das hat ihnen bei schmallippigen Zeitgenossen den Ruf eingetragen, ›chiuso‹ zu sein, beckmesserisch mit einem Schuss unnötiger Härte, wobei ihnen auf der anderen Seite auch wieder eine Verschwommenheit der Charaktere nachgesagt wird, die gern als Weichheit ausgelegt wird. Man kann es eben niemandem recht machen. Erregungsgemeinschaften projizieren ihre Abneigungen gern nach außen, vor allem, wenn man sich untereinander nicht riechen kann. Das Volk, das seine Geschichte, wenn möglich, mit dem verkrüppelten Arm des zweiten Wilhelm beginnen lässt, hat sich daraus ein Selbsterziehungskorsett geschneidert, aus dem jederzeit Ausbrüche möglich sind: Wo ich ist, soll ein anderer sein.
Dieser andere, gleichsam von Haus aus weltoffen-entspannte, stets zu einem Joke aufgelegte Deutsche existiert zwar nur in der TV-konditionierten Phantasie des leitbildbedürftigen Einzelnen, aber er legt strenge Maßstäbe an seine Mitmenschen an und findet sie gewöhnungsbedürftig, wahlweise auch ›unbelehrbar‹, allerdings ohne den Fremdheitsbonus, den er zu spendieren bereit ist, sobald es um die Anderen geht. So, geschichtsverheddert und geschichtsvergessen, wie die Deutschen nun einmal sind, haben sie ein gesellschaftspolitisches Programm aufgelegt, das der Romancier Günter Grass einst mit dem Titel Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus umschrieb (für den er heute wahrscheinlich keinen Verlag mehr finden würde). Schon damals ging es ums Reisen und Hadern mit sich selbst, ganz allgemein um das lehrerhafte Deutschsein, das Ausdiskutieren-wollen-um-jeden-Preis, von dem allerdings in der Atmosphäre allgegenwärtigen Denunziantentums wenig übriggeblieben ist. Aber vielleicht ist auch das nur Schein. Weltoffen ist daran nichts, es zeigt nur, dass gewisse Wunschvorstellungen, zum Programm geronnen und verkitscht, ihre Verwirklichung ebenso zuverlässig verhindern können wie die harte Versagung.
Vergleicht man die deutsche Vokabel ›Weltoffenheit‹ mit den englischen Alternativen ›open-mindedness‹ und ›cosmopolitanism‹, dann wird klar, dass hier keine Äquivalenz besteht: Weltoffenheit bedeutet mehr als Aufgeschlossenheit für fremde Impulse und nicht unbedingt dasselbe wie Weltbürgertum. Doch irgendwie bleibt dieses Mehr schwer greifbar, es fügt sich nicht wirklich geschmeidig in die gemeineuropäische Sprachwelt ein. Denn auch die renaissancehafte Offenheit, diese Antithese zur mittelalterlichen Weltflucht, bleibt dem Katholizismus verhaftet, dem sie einst neue Lichter aufsetzte. In ihr setzt sich ein seit der Antike bestehender Menschentypus gegen eine asketisch-mystische, zu ihrer Zeit populäre und durchaus ›moderne‹ christliche Strömung durch. ›Weltoffenheit‹ hingegen sprengt die letzte protestantische Schranke vor dem grenzenlosen Verkehr mit der Welt hinweg, indem sie die Liste der ›Adiaphora‹, der freigegebenen (also weder ge- noch verbotenen) Mitteldinge und -aktivitäten ad libitum erweitert und damit das Evangelium der Selbstverwirklichung auf den freigeräumten Altar hebt. Es ist also ein gutes Stück kultureller Eigenprägung dabei, von der nie die Rede ist, wenn Weltoffenheit als gesellschaftliches Leitbild verhängt wird – man will nur die Spitze des Eisbergs sehen, aber nicht den Eisberg selbst.
Selbstabschaffung, als Weltoffenheit deklariert, kann nicht funktionieren – weder im persönlichen noch im kulturellen ›Rahmen‹. Irgendwo auf dieser Reise lauert der Umschlag. Borniertheit wäre noch die harmlose Variante dessen, was dann in den Bereich des Vorstellbaren rückt. Natürlich steht es jedem frei, eine rigide Einwanderungspolitik, wie sie nach gewissen Erfahrungen zum Beispiel im skandinavischen Raum praktiziert wird, ›borniert‹ zu nennen – was anderes sollte sie sein? –, aber das ist vermutlich das kleinere Übel, verglichen mit dem, was auf längere Sicht möglich und vielleicht längst unterwegs ist. Einer Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung und Selbstabschaffung zusammenfallen (beziehungsweise auseinander hervorgehen), geht eines jedenfalls auf Dauer verloren: die Stabilität. Damit verstößt sie gegen das Prinzip der Selbsterhaltung, das in allen Gesellschaften nachweisbar ist. Sie kann daher gar nicht anders, als mit sich in Widerspruch zu geraten. Dieser Widerspruch kann nicht nur, er muss ausgetragen werden – und sei es nur deshalb, weil es keine andere Möglichkeit gibt, ihn aus der Welt zu schaffen.
Es gibt eine Form der Weltoffenheit, die der Gesamtheit aller Menschen eignet und den Einzelnen mitnimmt, gleichgültig, ob er eine besondere Neigung dazu verspürt oder nicht. Ihr hat Johann Peter Hebel 1811 in seinem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes ein paar goldene Sätze gewidmet, die den Abschluss dieser Überlegungen bilden sollen. Sie lauten:
»Bekanntlich ist die Wärme des Sommers und die Kälte des Winters nicht in allen Gegenden der Erde gleich, auch kommen sie nicht an allen Orten zu gleicher Zeit, und sind nicht von gleicher Dauer. Es gibt Gegenden, wo der Winter den größten Teil des ganzen Jahrs Herr und Meister ist, und entsetzlich streng regiert, wo das Wasser in den Seen 10 Schuh tief gefriert, und die Erde selbst im Sommer nicht ganz, sondern nur einige Schuh tief auftaut, weil dort die Sonne etliche Monate lang gar nicht mehr scheint, und ihre Strahlen auch im Sommer nur schief über den Boden hingleiten. Und wiederum gibt es andere Gegenden, wo man gar nichts von Schnee und Eis und Winter weiß, wo aber auch das Gefühl der höchsten Sommerhitze fast unerträglich sein muß, zumal wo es tief im Land an Gebirgen und großen Flüssen fehlt, weil dort die Sonne den Einwohnern gerade über den Köpfen steht, und ihre glühenden Strahlen senkrecht auf die Erde hinabwirft. Es muß daher an beiderlei Orten auch noch manches anders sein, als bei uns, und doch leben und wohnen Menschen, wie wir sind, da und dort. Keine einzige Art von Tieren hat sich von selber so weit über die Erde ausgebreitet, als der Mensch. Die kalten und die heißen Gegenden haben ihre eigenen Tiere, die ihren Wohnort freiwillig nie verlassen. Nur sehr wenige, die der Mensch mitgenommen hat, sind imstande, die größte Hitze in der einen Weltgegend und die grimmigste Kälte in der andern auszuhalten. Auch diese leiden sehr dabei, und die andern verschmachten oder erfrieren, oder sie verhungern, weil sie ihre Nahrung nicht finden. Auch die Pflanzen und die stärksten Bäume kommen nicht auf der ganzen Erde fort, sondern sie bleiben in der Gegend, für welche sie geschaffen sind, und selbst die Tanne und die Eiche verwandeln sich in den kältesten Ländern in ein niedriges unscheinbares Gesträuch und Gestruppe auf dem ebenen Boden, wie wir's auf unsern hohen kahlen und kalten Bergen auch bisweilen wahrnehmen. Aber der Mensch hat sich überall ausgebreitet, wo nur ein lebendiges Wesen fortkommen kann, ist überall daheim, liebt in den heißesten und kältesten Gegenden sein Vaterland und die Heimat, in der er geboren ist, und wenn ihr einen Wilden, wie man sie nennt, in eine mildere und schönere Gegend bringt, so mag er dort nicht leben und nicht glücklich sein. So ist der Mensch.«
Literatur
Dante Alighieri, La Divina Comedia, Inferno III, 9. »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!« Dante Alighieri, D. Gmelin (Übers.), Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Band I, dtv klassik 1988; S. 35.
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde., 8. Auflage Tübingen (Mohr Siebeck) 2003, orig.: The Open Society and its Enemies (1945).
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, 682f.
Richard Wagner, Parsifal, Act III.
Jobst Landgrebe / Barry Smith, Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, New York-London (Routledge) 2013.
Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus Logisch-philosophische Abhandlung. Erstausgabe Kegan Paul (London), 1922.
»Wo Es war, soll Ich werden.« Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933). GW 15.
Günter Grass, Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Luchterhand, Darmstadt, Neuwied 1980.
Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, Tübingen (Cotta) 1811.