von Ulrich Schödlbauer
Das große Karthago, orakelte einst Bertolt Brecht, führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden. Lange Zeit galten die Sätze als Menetekel des in zwei Weltkriegen besiegten Deutschland, dann, mit steigenden Nuklearkapazitäten der Supermächte, Europas und der menschlichen Zivilisation insgesamt. Inzwischen versetzt der Russland-Ukraine-Krieg, dem Moskau das Etikett ›Krieg‹ hartnäckig verweigert, den dominierenden Teil der Nato-Eliten in einen Rausch der Angstlosigkeit, angesichts dessen der andere Teil sich noch immer erstaunt-verzweifelt die Augen reibt. Soviel Unbedarftheit war nie.
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Unbedarftheit, so die gängige Auffassung, verweist auf einen Mangel an Bewusstsein. Paradoxerweise herrscht im heutigen Europa ein Überschuss an Bewusstsein – richtigem vor allem. Offenbar ist das Resultat dasselbe. Das richtige Bewusstsein, so ließe sich anmerken, ist der Tod oder, weniger pathetisch, das langsame Siechtum des Bewusstseins, das weder richtig noch falsch ist, sondern real, soll heißen der Ort, an dem das, was ist, zur Realität zusammentritt. Überzeugt von der Formbarkeit des Bewusstseins entgeht den Manipulateuren des Think global!, dass ihr Produkt immer nur ein Zweitbewusstsein sein kann und sie die Leute damit in eine schizoide (das Wort in seiner nicht-klinischen Bedeutung genommen) Situation hineintreiben. Man kann das Produkt, wie einst Peter Sloterdik, ›zynisch‹ nennen, man kann es auch lassen – die Annahme, die Leute des kulturellen Westens seien allesamt Zyniker, war und ist einfach absurd.
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Sie ist nicht weniger absurd als die Behauptung, die Weißen seien allesamt Rassisten, heterosexuelle Männer potentielle Vergewaltiger und ›Sexisten‹, Christen, soweit noch Rudimente ihres Glaubens vorhanden sind, ›Fundamentalisten‹ und damit islamophob. Anders als das Attribut des Zynismus stoßen diese Vorwürfe auf einen unauflöslichen Mix aus Selbstanklage und erbitterter Gegenwehr: deutliche Anzeichen der schizoiden, in sich zerfallenen Situation des manipulierten Bewusstseins. Vielen Menschen im Westen ist vage bewusst, dass ihr Alltagsbewusstsein nicht leistet, was es – qua ›Normalbewusstsein‹ – zu leisten imstande sein sollte. Die verbreitete Empfindung irgendeiner nahenden Menschheitskatastrophe – falls nicht Entscheidendes unternommen wird! – verdankt sich einem emotionalen Kurzschluss: Die Katastrophe des Bestehenden vollendet die Einsicht in das Bestehende. Das heutige Europa baut, rein bewusstseinsmäßig, am Abgrund und in nicht wenige Augen tritt ein gewisses Glitzern angesichts der Parole: Stoß zu!
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Vielleicht bedarf die Metapher des dritten Punischen Krieges der Auffrischung. Die römische ›Strafexpedition‹ gegen Karthago dauerte drei Jahre (149-146 v. Chr.) – eine nach den Begriffen antiker Kriegführung kurzen Zeit – und endete, wie bekannt, mit der völligen Zerstörung der Konkurrenzstadt. Dagegen bemisst sich die kulturelle Zerstörung Europas, einst Trägerin der christlichen Zivilisation und Keimzelle der globalen Moderne, nicht nach Monaten oder Jahren. Ironischerweise sind sich notorische Abendlandretter mit ihren Gegnern einig: Das dekadente Europa ist nicht zu retten, zimmern wir uns ein anderes. Das gemeinte Europa ist Vergangenheit oder Zukunft, bloß die Gegenwart geht leer aus. Dabei ist gerade sie das, was ist. Die verlassene Gegenwart entspricht dem geblendeten Bewusstsein des volatilen Gesinnungsmenschen, dieses Phänotyps der Stunde.
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Die heutigen Vereinigten Staaten von Amerika zerstören die Zivilisation ihrer Herkunft. Das gilt gleichermaßen nach innen wie nach außen. Das schleichende Finale Europas erreicht, wenn es nach dem Willen derer geht, die es betreiben, sein Ziel an dem Tag, an dem ›Europa‹ nur noch als leeres Wort im geographischen Gedächtnis einer Welt spukt, die, wie bekannt, ›andere Probleme‹ hat. Die Zeichen stehen, für jedermann lesbar, am Horizont, größer als jedes einzelne Ereignis, größer als der gegenwärtige ›konventionelle‹ Krieg auf europäischem Boden. Der kulturelle Wahrnehmungshorizont der Europäer schrumpft, er schrumpft von Jahr zu Jahr, man könnte meinen, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde – eine Art brain drain auch das, eine Abwanderung von Kapazitäten, man weiß nicht, in welche Spalten und Risse der Gesellschaft.
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Europas ›Zukunftsmacht‹, der EU, ist es gelungen, binnen einer Generation vom Hoffnungsträger zur Endstation europäischer Sehnsüchte abzusinken, paradoxerweise in einem Zeitraum, in dem es ihr ebenso gelang, sich als wirklicher Machtfaktor in der Welt der Zahlen zu etablieren. Leider sind die Welt der Zahlen und die der Köpfe nicht miteinander identisch. Die Köpfe Europas sind zerstritten wie selten zuvor. Es ist aber nicht ihr Streit, den sie miteinander austragen, sondern der Streit der Globalisten gegen den Rest der Welt – ein Streit, dem schon lange die europäische Geste fehlt: das ernst genommene Argument der anderen Seite. Nicht die verbale Herabwürdigung des Gegners ist das Fatale – so zimperlich war Europa nie –, sondern die völlige Gleichgültigkeit gegen die Sachhaltigkeit, manche sagen, den Wahrheitsgehalt seiner Positionen. Wahrheit war und ist in Europa ein hohes Gut, vielleicht das höchste, die Gleichgültigkeit gegen sie die antieuropäische Geste schlechthin. In dieser Hinsicht enthält der Politiker-Satz Die Fakten sind unter Demokraten nicht strittig, gefallen in einer belanglosen Talkshow, den Abschied von Europa in nuce.
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Die Durchdringung Europas mit Amerikas Popkultur war keine Angelegenheit der Eliten, sondern eine der Medien, allen voran des Fernsehens als des Verabreichungsmediums schlechthin. Der Weg, den die importierte Bewusstseinsform nahm, führte über die Kinderzimmer zur Jugendrevolte und ihren Folgen. Lange Zeit gaben sich die kulturellen Eliten ironisch: auch eine Form der Teilhabe, aber aus ›kritischer‹ Distanz. Der Siegeszug des Internet und vor allem der sozialen Medien zerbrach scheinbar mühelos diese Distanz. Man kann das Internet hassen, man kann es ignorieren, aber man kann sich ihm nicht entziehen. Stattdessen hat es einen Modus elitärer Teilhabe entstehen lassen, in dem eine eingebildete world community täglich darüber befindet, was in welchen Kreisen gilt oder nicht gilt. Dass diese ›Welt‹ an ein paar strategisch verteilten Computern produziert, beziehungsweise manipuliert wird, ist allgemein bekannt, man separiert es aber, wie in Fällen der Unausweichlichkeit üblich, als ›bekanntes Problem‹ und überlässt die Befassung mit ihm den üblichen Spezialisten.
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Erstmals gibt in den USA eine Generation den Ton an, deren kulturelle Wurzeln nicht mehr in Europa liegen, jedenfalls nicht im positiven Sinn eines gemeinsamen Wertekanons. Das übersehen Europäer, die dem globalistischen Credo mitsamt seinen kulturalistischen Glanzlichtern bedingungslos Folge leisten. Sie übersehen es, will sagen, sie ignorieren es geflissentlich, während es unterschwellig die Europamüdigkeit in ihren eigenen Reihen mehrt. Europas Eliten, ausgerichtet an Szenarien der Einen Welt, sind europamüde, weil sie aufgehört haben, sich mit seinem Erbe auseinanderzusetzen. Es lohnt nicht, schließlich bindet es Zeit und Kräfte (›Ressourcen‹), die im globalen Überlebenskampf dringend benötigt werden. Und der beginnt nun einmal am Computer und dessen Spielräume sind so virtuell wie seine Gegenstände, deren endemisches Auftreten die Furcht vor Pandemien und Crashszenarien ebenso anschwellen lässt wie die Angst, der Menschheit wachse die selbstgeschaffene Welt über den Kopf und lasse sie in Katastrophen taumeln, in denen sich die Grenze zwischen menschlicher Geschichte und kosmischen Ereignissen verwischt.
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Europa, das ›alte Europa‹ vor der Erfindung des Internet, der ›Rest‹, entsorgt unter dem Rubrum des Populismus, zu dessen Stigmatisierung das Epitheton ›rechts‹ völlig ausreicht, ist am Ende seiner zivilisatorischen Reise angekommen. Eine unangenehme Empfindung befällt den Durchschnittseuropäer, das Produkt ständiger medialer Berieselung, bereits angesichts elementarer Gegebenheiten menschlichen Lebens, der Zweigeschlechtlichkeit wie der Fortpflanzung, des ›Ausstoßes‹ des Lebensbegleiters Kohlendioxid, des Fleischverzehrs, des individuellen Mobilitätsbedürfnisses, generell des ›Ressourcenverbrauchs‹, umso mehr bei zivilen Lebensformen und Wertvorstellungen, deren christlich-antike Herkunft sich schwer verleugnen lässt. Nicht dass sich jemand dadurch ernstlich von seinem Leben abhalten ließe – aber mit einem Unrechtsbewusstseins als ständigem Begleiter, das die Mehrzahl der Menschen zum Spielball politisch-sozialer Projektemacherei werden lässt.
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Vermutlich handelt es sich um keinen Zufall, dass sich jedes dieser Projekte bisher als ökonomischer Fischzug entpuppt hat, der, nach dem gängigen Schema, die Reichen reicher und die weniger Reichen um eine Erfahrung reicher zurückließ, eine unangenehme in der Regel, sofern es denn bei einer bleibt. Der Projektkapitalismus, wie man ihn versuchsweise nennen könnte, lebt von der rechtzeitigen, möglichst umfassenden Einbindung möglichst vieler staatlicher und nichtstaatlicher Akteure (›Stakeholder‹) in die jeweils geplante Aktion. Das allein prädestiniert ihn zum Spielzeug anonymer Großvermögen, dekoriert mit den Konterfeis der Superreichen, der neuen Götter dieses seltsamen Universums. Und er steht erst am Anfang, da die schubweise Rettung des Planeten, unterhalb derer nichts in dieser Phase mehr geht, den organisatorischen Zusammenschluss immer weiterer Institutionen unter dem Dach überwölbender Interessen befördert und damit Spielräume für immer neue und größere Manipulationen schafft.
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Die Ideologie der Antidiskriminierung, letztes kulturelles Band zwischen Europa und seinem transatlantischen Partner, assistiert, wie der Ukraine-Krieg enthüllt hat, der nackten militärisch-ökonomischen Dominanz der USA. In der Praxis läuft die Strategie der Antidiskriminierung, von weitgehend unstrittigen Alltagsaspekten abgesehen, auf die Diskriminierung einer kulturellen Matrix hinaus – in der Regel der europäischen. Das setzt dem ideologischen Eifer, mit dem Europas Eliten dem amerikanischen Vorbild folgen, ganz eigene Glanzlichter auf. Kultureller Selbsthass mag hier und da im Spiel sein, aber weit seltener, als die patriotische Gegenwehr mutmaßt. An erster Stelle steht der blicklose Abschied vom europäischen Selbst: diese Eliten sind mehr oder weniger ›atlantisch‹, ihre kulturellen Wurzeln liegen ungefähr in der Mitte der Flugrouten zwischen Paris und Washington, Berlin und Los Angeles, Amsterdam und San Jose Mineta, das leise Dröhnen der Maschinen samt Bordmenü inklusive.
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Antidiskriminierung als ultimative Ratio bedeutet: Keine Handbreit Verständigung, also Krieg. Unter aktuellen Vorzeichen (›wokeness‹) geht es gegen den europäischen Menschentypus, seine kulturellen und sexuellen Dispositionen, seinen Gründungspatriotismus, soweit davon noch die Rede sein kann, und damit gegen die Reste dessen, was man im Deutschen gern ›Geschichtsbewusstsein‹ nennt und besser als Stolz aufs eigene Herkommen bezeichnen würde. Dessen Monumente sollen verschwinden, ebenso die Spuren, die er in Sprache und Habitus der ›exceptional nation‹ hinterlassen hat. Zu diesem Zweck übersieht man gern, dass ›Diversität‹ keinen positiven Inhalt bezeichnet, sondern eine leere Hülle, geeignet, mit Machtansprüchen gefüllt zu werden, die sich bedeckt halten, bis ihre Stunde schlägt. Dafür nimmt man Randale in den Vorstädten ebenso gleichmütig in Kauf wie die ›Verunsicherung‹ von Kindern und schlichten Gemütern über ihr ›wahres‹ Geschlecht. Man nimmt es in Kauf, soll heißen, man beschwört den ›weißen‹ konservativen Volkszorn herauf, um ihn auf diesem Wege kriminalisieren und entsorgen zu können.
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Das interessiert naturgemäß die cisatlantische Linke, die in einer seltsamen Ideenvertauschung ihre Zeit für gekommen hält. Um das deutsche Beispiel zu wählen: die Grünen bewegen sich weitgehend reflexionsfrei im Bann amerikanischer Machtprojektionen, eng gekoppelt mit nicht ganz so anonymen Wirtschaftsinteressen, für die es keine Sonderstellung des alten Kontinents und seiner Bewohner geben darf – im Bewusstsein nicht und schon gar nicht auf dem Papier. Aber auch die klassische Linke hat den Antidiskriminierungskatalog zum Verdruss nicht weniger Altgenossen anstandslos übernommen. Keine Sonderstellung: bemerkenswert ist die den Europäern so teure Gleichheit insofern, als sie in der Selbstdarstellung anderer Weltregionen kein Widerspiel findet. Die Auflösung der Kultur Europas in ein positives Nichts, angereichert mit bürokratischen Verhaltensvorgaben, die dem Einzelnen teilweise bis in den Intimbereich nachgehen, verordnet dem heimischen Kontinent ein Dasein als singuläre tabula rasa des Planeten, gleichgültig, ob es sich um Masseneinwanderung handelt oder um Massenexperimente à la zero-emission-economy und dergleichen mehr.
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Das Europa der Bürger, so könnte man formulieren, ist unter die Interessen gefallen ähnlich, um einen nicht ganz naheliegenden Vergleich zu ziehen, dem kaiserlichen China der Opiumkriege. Längst ist die Wahrnehmung der restlichen Welt, Europa ist reich, einer anderen gewichen: Einige Europäer sind reich (und werden immer reicher). Europa hingegen befindet sich in einer Abwärtsspirale, deren Ende noch lange nicht in Sicht ist. Gleichgültig, ob das stimmt oder nicht, unstrittig ist, dass Europa keine Maßstäbe mehr setzt. Stattdessen gilt es als der dekadente Kontinent – eine noble Auffassung, die von nicht wenigen Europäern geteilt wird, vor allem solchen, deren Länder erst vor ein paar Jahrzehnten dem sowjetischen Herrschaftsbereich entrannen, und die jetzt mit lauter werdender Stimme das Europa ihrer älteren Sehnsüchte von den Westeuropäern zurückfordern. Wenn man sieht, wie ›Brüssel‹ und seine Claqueure darauf reagieren, dann erkennt man, wie unausweichlich dieser von beiden Seiten mit harten Bandagen geführte Machtkampf gewesen ist.
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In krassem Gegensatz dazu inszeniert sich Deutschland als internationaler Vorreiter der ›Klimawende‹, als habe man hierzulande den Stein der Weisen in Sachen Energiepolitik gefunden und brauche nur noch darauf zu warten, dass die restliche Menschheit der zwingenden Kraft des besseren Vorbilds folgt, um das Klima zu retten, wie es in der Sprache der neuen Einfalt heißt. Natürlich besitzt, was als Klimawende propagiert wird, eine Reihe zum Teil heftig umstrittener Implikationen, die mit Klima wenig, viel hingegen mit Ökonomie und Herrschaftstechnik zu tun haben – so, wenn sich absehen lässt, dass die staatliche Regulierung des Energiesektors sich nicht länger auf die Bereitstellung kostengünstiger und ausreichender Energie für den Wirtschaftsstandort beschränkt, sondern zum Instrument der Wirtschaftslenkung ›ausgebaut‹ wird: Wer künftig welche Energie in welchen Mengen beziehen darf, muss bestimmte Planungsvorgaben erfüllen. Nichts anderes bedeutet es, wenn die Regierung in Zeiten teurer Energie bevorzugt Zukunftsindustrien zu erhalten verspricht. Welche Formen die Reglementierung des privaten Lebens annehmen wird, ist heute nicht einmal in Umrissen erahnbar. Klar ist allerdings, dass der Lebensstil des Einzelnen nicht ungeschoren davonkommen soll. Die Wärmepumpe für alle ist da nur der Einstieg.
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Offen hingegen bleibt die Frage, ob die konkurrierenden Industrienationen dem deutschen Vorbild folgen oder seine offene Flanke rücksichtslos ausnützen werden. Das hängt auch davon ab, wie weit der Klimaglaube das Zeug zur Weltreligion besitzt und welchen Weg die Klimawissenschaft künftig nehmen wird. Über allem schwebt die Frage, ob die Bevölkerung die ›Wende‹ zur neuen Bescheidenheit mittragen wird. Daran haben sich schon andere verhoben. Man kann von Europas Eliten nicht sprechen, ohne den als Populismus verschrieenen Einspruch mitzubedenken, den ihre Politik gezeugt hat und den sie mehr oder weniger geschickt mit Hilfe diverser ›Brandmauern‹ zur Herrschaftsstabilierung einsetzt – mit schwindendem Erfolg, wie Wahlen und Umfragen zeigen. Der Weg vom politischen In-vitro-Populismus zur Gegenelite ist weit, aber nicht unendlich. Wer die Medien aufmerksam verfolgt, der weiß, dass sie auch im Westen des Kontinents rapide im Entstehen begriffen ist. Auf kultureller Ebene bleibt sie ein Zwitter, weil sie als Verteidigerin der Kultur antritt und damit etwas Nicht-Operatives beschwört, das ihr durch die Beschwörung entgleitet. Es gibt keine Rückkehr zur Normalität, wenn die Normalität aus wesentlichen Lebensbereichen schwindet – die Rückkehr selbst wäre das Anormale, das den konservativen Widerstand weckt und wecken muss. Das bedeutet, einer Gegenelite, die erfolgreich agieren will, muss es gelingen, eine sie tragende und befeuernde Gegenkultur ins Leben zu rufen. Angesichts der übermächtigen Kulturindustrie und einer aufgedrehten Zensurszene ist das eine Herausforderung, die es in sich hat.
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Russlands Krieg gegen die Ukraine hat viele Gesichter. Betrachtet man die Rolle der USA in dieser abstoßenden Massenschlächterei, dann erkennt man (mit ein wenig Nachhilfe der noch immer einflussreichen Neocons), dass ihre Politik strategisch zwischen zwei Polen oszilliert: (1) der Errichtung einer Brandmauer zwischen dem atlantisch orientierten Westen des Kontinents und dem verbleibenden russischen Machtbereich, (2) der Suspendierung östlicher Vormacht-Ansprüche von Moskau bis Peking und der Erschließung der eurasischen Landmasse von Lissabon bis Wladiwostok für die ökonomischen Interessen der eigenen Elite. Schon einmal, zu Jelzins Zeiten, schien dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt zu sein, um sich unter Putin wieder zu verflüchtigen. Diesmal, so hoffen viele, könnte dem geschickten Spieler der fatale Zug unterlaufen sein, der seine Niederlage besiegelt. Dem steht die Warnung entgegen, eine Atommacht wie Russland sei per se unbesiegbar. In der Zwischenzeit zahlen die Europäer den Preis der Sanktionen. Für die Deutschen bedeutet die Sprengung der Nord-Pipeline eine Extrawarnung. Sie wirkt wie die Rote Karte, die gegenüber allen künftigen Alleingängen vorbeugen soll. Man mache sich da nichts vor: Für viele Deutsche geht die Warnung in Ordnung. Ihre Loyalität gegenüber dem eigenen Land ist, gelinde gesagt, wenig ausgeprägt.
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Deutschland ist aus dem Nationalsozialismus als zerbrochene Nation hervorgegangen. Vordergründig hat es dem Nationalismus abgeschworen, doch die Begeisterung für fremde Länder, ihre Fahnen und Repräsentanten und selbst ihre kriegerischen Abenteuer sprach und spricht eine davon verschiedene Sprache. Sie sagen ›Nationalismus‹ und meinen Loyalität. Dieses Deutschland ist der Grund dafür, dass de Gaulles Europa der Vaterländer ein frommer Wunschtraum der Franzosen blieb, während der deutsche Traum von den Vereinigten Staaten von Europa, einem Bundesstaat, in dem die deutschen Probleme mit sich selbst und seinem Hegemon sich in Nichts auflösen, im Gegenzug an der Grenze Frankreichs gestoppt wird. Dieses Deutschland, genauer gesagt, die Kombination aus Zentrallage und Wirtschaftskraft, die es repräsentiert, bedarf der USA als Widerpart zu seinen europäischen Freunden und die USA benötigen den verlässlichen Verbündeten Deutschland als strategisches Standbein, das ihre Dominanz über Europa sicherstellt. Betrachtet man, was vielen Analytikern nahezuliegen scheint, die EU als zivilen Arm der Nato, dann ist klar, in welchem Ausmaß der Prozess der europäischen Einigung, wie das lange Zeit vollmundig hieß, von Amerikas Interessen dependiert. Dass so viele Europäer keinen Pfifferling mehr auf die EU geben, hat sicher auch mit Propaganda zu tun. Eine unbeirrt vor sich hinwerkelnde Bürokratie mag den nationalen Regierungen manch unangenehme Arbeit abnehmen, vor allem Überzeugungsarbeit bei den eigenen Bürgern, aber sie bedeutet auch, mutierte sie erst einmal zur Karikatur, eine schwere Bürde.
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Deutschland schickt seine Panzer an die russische Front und fügt dem russisch-ukrainischen Krieg damit eine symbolische Note hinzu, die das Langzeitgedächtnis der Nationen auf den Plan ruft. Man mag das als ungerecht empfinden, doch das ändert nichts am Sachverhalt. Andererseits ist die Idee einer dauerhaften Brandmauer quer durch Europa bizarr. Sie entstammt den Planungsstuben von Geostrategen, aber nicht der europäischen Wirklichkeit. Was keineswegs bedeutet, dass nicht an ihrer Umsetzung gearbeitet wird. Seit sich China, Indien sowie einige andere Länder auf die Seite Russlands begeben haben und an einer neuen Finanz- und Wirtschaftsordnung arbeiten, rückt auch die Idee einer amerikanischen Hyperdominanz in immer weitere Ferne, während sich die USA einen Zusammenbruch der Ukraine immer weniger leisten können. Das alles deutet darauf hin, dass hier ein neuer Langzeit-Kriegsherd à la Vietnam und Afghanistan im Entstehen ist.
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Man kann es nicht deutlich genug formulieren: Hannah Arendt, die meistzitierte Vertreterin der sogenannten Totalitarismus-These, hat mit ihrem Begriff der totalen Herrschaft weder einer ersten noch einer zweiten totalitären Bewegung das Wort geredet, man sollte sie also auch nicht als Zeugin eines heraufziehenden dritten Totalitarismus bemühen. Totale Herrschaft bedarf keiner ›Bewegung‹ und ihre ›vollendete‹ Version wäre die Friedhofsordnung, aus welcher aller menschlicher Geist entwichen ist. Wovon also ist die Rede, wenn man hier und da in Wort und Handlung einen neuen Totalitarismus ›im Entstehen‹ sieht? Zweifellos von Übergriffigkeiten des Staates gegenüber dem einzelnen Bürger, seiner Privat- resp. Intim- und Körpersphäre, den Institutionen der Privatheit wie Familie, Freundschaft, Sexualpartnerschaft, Vereinstätigkeit, Berufsleben, in denen ein Hauch von Autonomie den Menschen freier atmen lässt –: lauter Bereiche, in welche der Staat seit Jahrhunderten hineinregiert, in denen aber bereits ein geringes Mehr oder Weniger über das Gefühl der Freiheit respektive Unfreiheit entscheidet. Dazu kommt die gefühlte Rechtssicherheit, die sich nicht am Paragrafenschein abarbeitet, sondern Gerechtigkeit verlangt. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist, wie Gewaltenteilung insgesamt, ein primärer Freiheitsgarant: eine willfährige Justiz, ein willfähriges Parlament gelten als sichere Kennzeichen einer um sich greifenden Tyrannei.
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So wenig totale Herrschaft und Terror dasselbe sind, so sehr vermischt sich ihre Wahrnehmung in der Praxis. Nicht ohne Grund: Terror beruht, wie totale Herrschaft insgesamt, auf Anomie. Nur der durch Angst vor physischer und mentaler Gewalt geknebelte Mensch nimmt Einschränkungen seiner Privatsphäre in Kauf, deren Sinnhaftigkeit er nicht einsieht: Darin besteht die Funktion des Ausnahmezustandes, der an die Stelle nachbarschaftlicher Verhältnisse das Freund-Feind-Verhältnis setzt. Mag der primäre Feind eine auswärtige Macht oder ein Virus sein – über kurz oder lang setzt sich das Freund-Feind-Verhältnis in die Gesellschaft hinein fort, bis es zum Umgestalter aller Verhältnisse geworden ist, in denen der Mensch dem Menschen ein Mensch und nichts als ein Mensch ist, um Carl Schmitts bekannte Formel zu variieren. Kontaktschuld, Cancel Culture, aggressive Sprachpolitik, Stigmatisierungen aller Art verstoßen so offensichtlich gegen Grundsätze der Billigkeit, dass das diffuse Gefühl, von anonymen Mächten terrorisiert zu werden, ganz ohne Einsatz physischer Gewalt sich in einem Teil der Bevölkerung ausbreitet, während der andere sich in einem pater- oder maternalistischen Hoch sonnt.
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Ist das Europa? Ist das die europäische Lektion? Ganz sicher nicht. Sokrates, Giordano Bruno, Montaigne, Kants autonomes Subjekt, die Verfolgten zweier extremer Unrechtsregime in einem Jahrhundert legen eine radikal andere Lesart nahe. Bis vor wenigen Jahren schien ihre Lektion noch unverrückbar in die Köpfe der Europäer eingemeißelt. Heute, im Zeichen planvoll geschürter Massenängste, werden reihenweise politisch-kulturelle Codes überschrieben, als handle es sich um veraltete Kochrezepte. Die Sache hat zweifellos einen technologischen Aspekt. Was gemacht werden kann, das wird gemacht. Das gilt für die allgegenwärtige Surveillance ebenso wie für den gen- und chipmodifizierten Menschen einer nahen Zukunft, der gegenwärtiger ist als vielen Mitmenschen bewusst sein dürfte. Es gilt für die schleichende Entmachtung des Souveräns wie für die pauschale Diskreditierung des Bürgerwillens, sobald er sich widerständig zeigt. Das wirft für den Bevölkerungsteil, der sich gestern noch als Citoyen in der Verantwortung für das Gemeinwesen sah, die Frage nach dem richtigen Leben auf. Und wieder zeigt sich die Wahrheit des vielgeschmähten Satzes Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Der Grund dafür ist einfach: Leben ist weder richtig noch falsch, bloß Leben unter Bedingungen, die zum geringsten Teil vom Einzelnen gesetzt sind und ihm Entscheidungen abverlangen, mit deren Folgen er zurechtkommen muss – auch wenn es schmerzt.
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Die postsokratischen Philosophenschulen der Antike, vom Epikureismus über die Stoa bis zu den Kynikern, die das Glück ins Zentrum des Nachdenkens stellten, entstanden unter dem drohenden Schirm der Tyrannis. Soll heißen, die von ihnen propagierten Weisen des Beiseitegehens und ‑Sich-Haltens dienen der Erschließung innerer Räume angesichts einer machtverhangenen Realität – nicht unbedingt im Rahmen dessen, was man heute ›Psyche‹ nennt, aber doch in wachsender Bewusstheit gegenüber der Aufgabe, gegenüber dem, was man weder verhindern noch wesentlich beeinflussen kann, Weisen der Distanzierung zu erfinden, die verhindern, dass dem Einzelnen die Verfügung über sein Leben vollständig genommen werden kann. Die Tradition hat dafür eingängige Bilder gefunden, vom Garten Epikurs bis zur Tonne des Diogenes, und das Christentum hat die verschiedenen Glückswelten zur Großen Seelenmythe amalgamiert. Die ›gewachsenen seelischen Bedürfnisse‹ wiederum haben den modernen Staat nicht vom Haken gelassen, bis er zu den republikanischen und demokratischen Formen fand, deren Effizienz man heute bereits schmerzlich zu vermissen beginnt. Der Absturz der Psychologie in der vibrierenden Atmosphäre der auf Freund-Feind-Konstellationen erpichten Medien ist ein Fanal.
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Die totalitäre Versuchung besitzt keine Zukunft. Sie bedeutet ein Abgleiten in unterkomplexes Denken, unterkomplexes Handeln, unterkomplexe Motivationswelten, verbunden mit geistiger Selbstaufgabe, der definitiven Sünde in der modernen Welt, die einigen naturgemäß leichter fällt als anderen. Wer in den Wonnen des Kollektivs versinkt, sollte zumindest keinen Führungsanspruch erheben. Die Wirklichkeit ist davon weit entfernt. Die Gleichung Kollektiv = Elite zerreißt den Gesellschaftsvertrag. Der elitäre Egalitarismus lässt die Gesellschaft diffundieren, während die sogenannte Elite sich als verschworene Gemeinschaft gegenüber dem ›Rest‹ aufspielt, der ›begreifen‹ muss, welche Spielräume man ihm, getrieben vom Wissen, wie es um den Planeten steht, zudiktiert. Das erlaubt einige ernsthafte Fragen an den Wissenschaftsbetrieb überall dort, wo ein erreichter oder auch nur erhoffter Wissensstand sich geschmeidig in politische Agenden eingliedert und in ein Absolutheitsregime übergeht, das für manche Kollegen nach Verfolgung schmeckt, als seien unversehens die Zeiten Galileis und Giordano Brunos zurückgekehrt. Der Unterschied: Es gibt keine Kirche mehr, die ihre Hände in Unschuld waschen könnte. Es gibt auch keine Partei der Unschuld, gleichgültig, was ihre Repräsentanten der Öffentlichkeit vorzugaukeln versuchen. Die Unschuld des Werdens gilt nicht für den dritten und vierten Aufguss fataler Handlungsmuster, deren Folgen jeder kennt (oder kennen sollte), der seine Finger im Spiel hat.