Vermutungen über Attraktivität, Nutzwert und Chancen einer prekären Existenz*

Es gibt nicht allzu viele Geschichten und Traditionen, die im 21. Jahrhundert noch lebendig sind. Eine davon ist die Erzählung vom Künstler und – auf andere Art – von der Künstlerin. Sie sind erstaunlich gegenwärtig, man findet sie, wie Ostereier, an den merkwürdigsten Plätzen. Zum Mythos von Künstlern gehört, dass sie Avantgarde sind; leidenschaftlich nur ihrem Werk und den eigenen Ideen verpflichtet, schaffen Künstler frei und unabhängig ihre Bilder, Skulpturen oder Dichtungen.

Künstler seien Individualisten, anders als ›Normalos‹; zu ihrem Image gehört oder gehörte, dass sie oft nicht nur durch ihre Kunst, sondern auch durch Auftreten, Kleidung und Lebensform die Umgebung verstören. Was kann diese Tradition noch bedeuten, in einer Welt, in der alle kreativ und verrückt sind, Abweichung in immer mehr Berufen verlangt wird und ›Normalität‹ beinahe ein Schimpfwort geworden ist?

Wie auf anderen Gebieten auch mutieren Traditionen und werden aktuellen Erfordernissen angepasst. Grundbestandteile haben sich erhalten, wie die schwer erkämpfte und heute im Grundgesetz verankerte ›Freiheit!‹, die der Kunst und dem Künstler (und der Wissenschaft und dem Wort) zustehe. Immerhin. Sie hat je nach Zeit und Land Verschiedenes bedeutet: Freiheit von aristokratischen und kirchlichen Auftraggebern, Malen frei von dem Vorbild der Natur, man wollte sich von den Zwängen der bürgerlichen Lebensweise befreien oder von der Notwendigkeit, Geld zu verdienen. In der Renaissance glaubte man an die heilende Kraft der Kunst, wie in der Geschichte vom kränkelnden Künstler, der, als er ein Bild von Maria und dem Jesuskind malte, gesund wurde. Im aufstrebenden Bürgertum, als seine Stellung noch ungesichert war, wurde der (vor allem im Nachhinein heroisch überhöhte) Künstler zum Inbegriff des Außenseiters, der überkommene Sichtweisen und Sitten infrage stellte. Die Vorstellung, er wäre Sprecher und Vorbild für den Rest der Menschheit, hat sich bei einigen Nachfahren bis heute erhalten. Zu den Attributen von Künstlern gehörten Einsamkeit und Melancholie, samt Attitüde des Schwierigen. Der Geniekult des Sturm und Drang war mit der Verachtung aller Regeln, manchmal mit Wahnsinn, manchmal mit Kränklichkeit verbunden. Künstler wurden als Mahner, Propheten oder Seher, Narren oder – wie bei Thomas Mann – als ›Bruder des Verbrechers‹ beschrieben.

Kurzer Rundgang

In Cafés, auf Festen, an Strandbars treffe ich junge Leute, die auf die Frage: ›Was machst du?‹ locker flockig antworten: ›Ich bin Künstler‹, junge Frauen sagen eher: ›Ich beschäftige mich mit Kunst‹; sie filmen oder fotografieren, malen oder schreiben, wirken und werkeln als Schauspieler, Dramaturginnen, Bühnenbildner oder Assistenten am Theater, in Studios oder in Hinterhöfen. ›Ich mache etwas mit Kunst‹ kann die Beschäftigung mit Kalligraphie, Organisieren von Konzerten und die Arbeit in einem Designbüro einschließen. Seit der Name ›Kreativwirtschaft‹ erfunden wurde, hat der Tätigkeitsbereich – wie auch die Nachfrage – für kreativ sein wollende Individuen weiter zugenommen. Sie werden als Emotionsexperten und Content-creators gekauft und gerne auch in unsichere, unregelmäßige und ungeregelte Arbeitsverhältnisse übernommen. Der Markt war wieder einmal schneller.

Ich kenne Künstler, die sich als Handwerker verstehen und ihr Geschick für alle möglichen Tätigkeiten einsetzen, andere mühen sich mit langweiligen Arbeiten ab, um in der Nacht oder nebenher ihrer Kunst zu leben. Es gibt Musensöhne und -töchter, die ihre Karriere strategisch planen und schnell herausfinden, wann man wo präsent sein sollte, ebenso wie Besessene, die nicht anders können, als ihren künstlerischen Leidenschaften zu frönen, auch unter widrigen Bedingungen. Manche tun irgendwas oder gar nichts und fühlen sich wie Künstler, andere sehen aus und leben, wie das im vorigen Jahrhundert mit Künstlertum assoziiert wurde. Etliche junge Leute schlagen sich mehr oder weniger kreativ durchs Leben – sind mal Friseurin und dann Tänzerin, nachts Croupier und tagsüber Sänger. Heute nennt man es ›slash-identities‹, und assoziiert diese Lebensform mit ›social innovators‹. Vor nicht allzu langer Zeit war sie Dichtern und Malern – und nicht zuletzt sich selbst ernährenden Frauen – vorbehalten. Inzwischen gibt es sehr viel mehr solche Existenzen als noch im 20. Jahrhundert. Nicht bloß Maler und Schriftsteller, Schauspieler, Filmer und Fotografen, auch Programmierer, Praktikanten und Handwerker arbeiten unter Bedingungen, die so unsicher und ungeregelt sind wie die des Künstlers oder gar, noch schlechter, der Künstlerin.

Schubkräfte

Der erste Verdacht richtet sich auf die prekäre Situation junger Leute in der deregulierten Wirtschaft: Ich bin arm, gehöre nirgends dazu, aber Künstler-Sein hat immer noch Prestige. Ich kann hoffen, jenseits der Hauptverkehrsstraßen einen eigenen Weg zu finden, kreativ, unabhängig, ›frei‹ und irgendwann vielleicht doch anerkannt? Aber das erklärt noch nicht die Anhänglichkeit vieler Menschen an einen Mythos, der seine Grundlage längst verloren hat. Das Glück, das die Künste immer noch versprechen, nährt die Vermutung, dass mehr dahinter beziehungsweise darin steckt als bloß Spekulation und Trost. Der naheliegende Gedanke, dass die Berufsbezeichnung tröstet, trifft ja nur für einen kleinen Teil der sich Künstler und auch Künstlerinnen nennenden jungen Menschen zu (sehr oft sind sie jung; ältere, die sich noch immer so nennen, haben ihren Platz gefunden oder verlassen oder sich anderweitig getröstet). Kunst, oder doch etwas, das so genannt wird, hat sich in den letzten Jahren auch im Hochpreissektor behauptet. Auf Auktionen wird moderne Malerei mit mehrstelligen Dollar-Millionenbeträgen erworben. Die Kunst- und Künstlerszene ist eines der beliebtesten Instrumente für die Aufwertung heruntergekommener Stadtviertel. Einige Große bleiben, die Kleinen müssen weiterziehen.

Reality-Check

Nur fünf Prozent der Absolventen von Kunstfachschulen arbeiten als Künstler, sagt die Statistik. (Meine Künstlerfreunde halten das für übertrieben, es seien bestenfalls zwei bis drei Prozent.) Ob sie davon auch leben können, sagt die Statistik nicht, auch nicht, welche Art Kunst in dieser Statistik ein- oder ausgeschlossen wurde. Sind es Künstler oder gar Künstlerinnen, die vom Markt oder Marketing leben, sind es jene, die sich von Preisen und Stipendien ernähren können, oder, wie ich neulich las, ›Biennale-erprobte Künstler‹? Es könnten natürlich auch Viennale- oder Basel-bewährte oder Cannes-geprüfte Künstler sein, wie es ja auch Bachmann-Büchner-Goncourt-bewährte Schriftsteller gibt. Auch das gehört zu den Merkmalen moderner Kunst: Biografien, die nur noch aus der Aufzählung der erworbenen Preise und Stipendien bestehen. Der überwiegende Teil von Künstlern lebt unterhalb der Armutsgrenze, hält sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser und kann auch von den nettesten Förderungen nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten. Es gibt allerdings auch (ein paar) Karrierechancen und in dem enorm erweiterten Feld für Kreative aller Art, sodass Väter (und erst recht Mütter, die ja prinzipiell verständnisvoller für Neigungen sind) ihren Sprösslingen, wenn sie Künstler oder Dichter werden wollen, nicht mehr nahelegen, einen ernsthaften Beruf zu ergreifen, wie man das aus Künstlerbiographien früherer Jahrhunderte kennt.

Avantgarde sind nicht nur sich verdingende, kurzfristig angeheuerte Einzelkämpfer, auch Start-ups und renommierte Firmen, Ministerien und Beraterorganisationen nehmen Attribute in Anspruch, die vor nicht allzu langer Zeit primär Künstlern anhafteten. Subversiv, anders, provozierend ist allemal eine Werbung, die sich am Markt der Künstler bedient, die mit kreativ gestalteten Joghurt- oder auch Klodeckeln besser verdienen als mit leidenschaftlich nur ihrem Ich verpflichteter Kunst. Mit deren Aufmerksamkeitserregung kann Kunst ohnehin kaum mithalten. Wer genug Geld hat, kann sich mittlerweile auch Künstler mieten, um mit ihnen zu arbeiten, eine absolut innovative Idee, die wie eine versnobte Steigerungsstufe von Bungee-Jumping anmutet. Stellenausschreibungen im Mediensektor, für Stadtmarketing oder auch weltweit erfolgreiche Schuhproduzenten lesen sich wie die Verschrottung jener hohen Ideale des aufstrebenden Bürgertums, die in Kunst und Literatur ihre edelste Heimstätte hatten. Der Grundstücksmakler bei mir um die Ecke hat auf seinem Firmenschild das Wort ›Visionen‹ untergebracht; die einst kämpferisch gemeinte Subjektivität hat sich in Egobranding verwandelt, die Sammlungen wahnwitzig reicher Sammler, die von Kunst nichts verstehen, ersetzen kaum mehr finanzierbare staatliche Museen; Anleger, die ihr nicht immer sauberes Geld in Kunst anlegen, treiben die Preise hoch; auch das ist eine Funktion von Kunst: sie heilt nicht nur die Künstler, sie wäscht auch Geld.

Unangepasste und Unangepasstes haben weit über das Gewerbe hinaus einen hohen Marktwert. Für Künstler und solche, die es werden wollen, ist es leichter – und schwieriger – geworden, ihren Platz zu finden. Nur zum Teil sind damit auch Künstlerinnen gemeint, weil sich Motive und Erfolge in diesem Revier zwischen männlichen und weiblichen Mitspielern immer noch heftig unterscheiden. Für beide Geschlechter aber gelten die Mythen, die an der Geschichte ihrer Idole hängen: Außenseitertum, Grenzüberschreitung, Entdeckungslust und Suchen (im deutschsprachigen Raum gern zusätzlich mit Verrücktheit und Weltflucht assoziiert). Man will etwas Authentisches, auch Wichtiges für die Welt tun, das vielleicht sogar bleibt, wenn man gestorben ist. Außerdem gilt Kunst als interessanter Beruf, in dem man interessante Leute kennenlernt.

Obsolet oder nur noch szenespezifisch beantwortbar scheint die Frage, was Kunst ist. Normen sind weitgehend gefallen. An den Idealen wird trotzdem festgehalten, sei es von Künstlern selbst oder von den traurigen Gebildeten, die den Abschied von Qualitätskriterien beweinen. Künstler ist, wer es schafft, von seiner Kunst zu leben. Wäre das eine adäquate Definition? Gehören Stipendien, Preise und Auszeichnungen dazu? Sind sie noch Kunstförderung oder schon Wirtschaftspolitik als Investition in künftige Kulturgüter? Ranking und Auftrittshäufigkeit, der Ruf der Galerie/des Kurators/des Verlags, bestimmen den Preis – und den Ruhm. Künstler reüssieren, wenn sie zum Label werden und früh ihr Netzwerk zu Galerien, Verlagen, Museen und vor allem Kuratoren knüpfen, international, versteht sich. Die Tipps für solche Wege zum Erfolg findet man in Handbüchern und sozialen Medien, vorzugsweise via ›amazon‹. Jeder Absolvent einer Kunsthochschule weiß oder hat in einem Kurs gelernt, dass es als Künstler primär darauf ankommt, eine Marke zu haben, noch besser, eine zu werden. Das hat sich in das Selbstverständnis der nachwachsenden Generation eingeschrieben. Konjunktur haben natürlich auch Scharlatane und Fälscher, Spekulanten und Betrüger, wie es sie, wenngleich nicht in diesen Dimensionen, auch vor zwei- oder dreihundert Jahren gab.

Blick zurück nach vorn

Es gibt allerdings auch Bestandteile der Tradition, die nicht oder kaum mehr gelten. Für junge Genies des 18. und 19. Jahrhunderts war die Rebellion gegen Regeln zentral, heute gibt es für Kunst keine Regeln. Hingegen im Kunstbetrieb ein kompliziertes Regelwerk samt Hierarchien, die mehr und weniger guten Zugriff auf die Definition von Bedeutung haben. In der Renaissance, im Sturm und Drang, in der Romantik und bis weit ins 19. Jahrhundert gehörte zu einem guten Künstler eine fundierte Bildung. Jetzt aber höre ich immer wieder, dass Bildung, Wissen und Analyse ein Hindernis für echtes künstlerisches Empfinden seien. Vom Genie und Irrsinn des Sturm und Drang bleibt die Neigung zum Irrationalismus, im sogenannt kreativen Milieu propagieren Gurus gern Bauchgefühl statt Verstand. Der besonders in der deutschen Tradition gut verankerte Anti-Intellektualismus knüpft an den verkürzten romantischen Künstlermythos an und wird durch eine ebenso verkürzt verstandene Theorie über die Funktion von linker und rechter Gehirnhälfte gestützt.

Auch aus der Mode gekommen ist die Vorstellung, dass Kunst Distanz zur Macht halten sollte. Heute sind staatliche Auszeichnungen, Freundschaft mit Mächtigen und eine enge Bindung an den Markt eine selbstverständliche Bedingung des Kunstbetriebs, und das erschwert natürlich die Distanz. Auch wird Anerkennung weniger von Künstlerkollegen und Liebhabern, sondern von Managern des Kunstbetriebs definiert. Protest hat sich in ein leicht integrierbares Ritual verwandelt, das Spiel im Abseits gerät schnell zur koketten Geste.

Die romantischen Ideale kehren, frei nach Marx, als Farce wieder – als Aufforderung, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben« (Marx, Deutsche Ideologie), vor allem, wenn wir die nötige Ausrüstung dazu kaufen. Und, um nochmals den bärtigen deutschen Revolutionär aus dem englischen Exil zu adaptieren: Nicht nur die Bourgeoisie rast um den Erdball, speziell Künstler jetten von Australien nach Kanada, von Deutschland nach China, und tauschen ihre Künste dank staatlich finanzierter Kooperationen.

Fragen

Was kann künstlerische Freiheit heute noch meinen, wo wäre sie zu finden? Oder ist vielleicht die Kritik an dieser Entwicklung romantisch, einem überholten Kunstverständnis geschuldet – und erstaunt nur altmodische Gemüter, die Dichtung mit stillem Kämmerchen und Kunstgenuss mit Eliten verbinden? Passt der traurige, zynische Ton in eine Zeit, die positiv denkt und vorwärts drängt, schnell, erfolgreich, initiativ, oder zeugt er bestenfalls von Nostalgie? Warum soll man sich nicht freuen, dass die einst nur an den Rändern der Gesellschaft geduldeten Sonderlinge nun anerkannt und willkommen sind? Ist Abstand zur Macht und zum ›Betrieb‹ möglich und vor allem: noch sinnvoll? Zumal auch schwer zu bestimmen ist, wo in der durchliberalisierten, erodierenden Gesellschaft die ›Macht‹ sitzt. Der Unterschied zwischen Provokation – die billig geworden ist – und Distanz (zur Macht, zu Mächtigen, zum alles verschlingenden Betrieb), die teuer werden kann, wird seltener diskutiert. Wenn alles Rand ist, wo wäre dann das Zentrum? Es gibt durchaus Versuche der Vereinnahmung zu entkommen, frei von Markt und Staat zu agieren, wie jene Performance-Kunst, die nur minutenlang zu sehen und nicht archivierbar ist. Und es wird in Zeitschriften und auf elektronischen Foren debattiert, wie man der Vereinnahmung entgehen kann. Oder sind die Kurzauftritte, die sich gegen den Kunstbetrieb oder die Musealisierung von Kunst aufbäumen, (zumindest auch) dem Zeitnotstand geschuldet? Spiegel einer Klick- und Zapp-Gesellschaft? Sind Künstler heute noch melancholisch? Und was könnte Distanz zur Macht aktuell heißen? Wird man in fünfzig oder hundert Jahren die Künstler von heute mit genauso strengen Maßstäben nach dem Grad von Kollaboration und Verrat an ihrer Kunst beurteilen wie jetzt in Feuilletons die Schriftsteller oder Maler in diktatorischen/autoritären Regimes?

Trotzdemistische Aussichten

Zur Kunst gehört(e) eine Leidenschaft für die Suche nach dem Unmöglichen. Wo also könnte ein sensibler Beobachter Gras wachsen hören? Steckt vielleicht doch irgendwo in dem vermanschten, zerdehnten, missbrauchten Wort Kunst – zumindest auch – eine befreiende Kraft? Irgendetwas treibt ja wohl all die ›erfolglosen‹ Künstler und Künstlerinnen um, die mit ihren Bastelexistenzen manchmal verzweifelt und immer wieder von Neuem nach Wegen suchen, um ihrer Kunst (oder etwas Ähnlichem) zu dienen. Sie unterrichten, kellnern, performen im Wohnzimmer vor Freunden, verkaufen sich ein bisschen, um ein größeres Bisschen Freiheit für ihre Selbstverwirklichung oder Befriedigung oder eben Kunst zu gewinnen. Ich habe die tollsten Kombinationen von ›slash-identities‹ erlebt (und mich an die Beschreibung von Studenten aus dem Leipzig des 18. Jahrhunderts erinnert, die mit Singen, Übersetzen, Diensten für Professoren oder als Cicisbeos ihren Lebensunterhalt verdient hatten). Trotz aller berechtigten Klagen über Kommerzialisierung und Verflachung, Vernutzung und Korruption der Kulturbetriebsamkeit entstehen auch ständig Plattformen auf den Spuren jenes Surplus, das über den bunten aufgeblasenen Ballon aus Geschäften und Gschaftlhuberei, Kunstauktionen und lukrativer Geldanlage hinausweist. Spricht nicht jedes Konzert, jede Ausstellung, jedes – na ja, nicht jedes – Gedicht dafür, dass sich sogar die heilende Wirkung erhalten hat, wenn das Publikum beglückt mit leuchtenden Augen applaudiert? Und heilsam sind die mit Niederlagen und Enttäuschungen erkämpften Werke allemal für Künstler, Schriftsteller oder auch Performerinnen, wenn sie nach mehreren Versuchen dann doch eine Form finden, um das Chaos für kurze Zeit zu bändigen.

Ob das Vergnügen, für ein paar Millionen einen echten Warhol zu ersteigern, vergleichbar ist mit der Befriedigung von Autoren oder Künstlern, denen ein Buch, Bild, Film Theaterstück gelungen ist? Es mag ja sein, dass wir in einer postmodernen, postheroischen, granularen und deregulierten Welt leben, die in lauter Subkulturen und Parallelwelten zerfallen ist. Aber es ist doch erstaunlich, dass man meistens weiß oder spürt, ob ein Musikstück, Bild oder Buch reich macht – ohne andere arm zu machen. Zu den Edelsteinen im künstlerischen Erbe gehörte lange Zeit eine Verschränkung von Vernunft und Imagination. An Orten, wo man es nicht vermuten würde, bemüht man sich um eine Wiedervereinigung von Intellekt und Gespür. Fließende Übergänge zwischen Technik und Literatur oder Kunstgeschichte und Hirnforschung haben längst auch diese Grenzen aufgelöst. Die im 19. Jahrhundert so unbedingt objektive Wissenschaft sucht mit und bei der Kunst neue – selbstverständlich kreative – Antworten auf unbeantwortbare Fragen, allerlei Stiftungen und Institute bemühen sich um Kooperationen zwischen Künstlern und Wissenschaftlern. Offenbar hat Kunst auch für durch und durch vernünftige Aufklärer noch einiges zu bieten, in ihr steckt ein Versprechen – das Wissenschaftler international, transdisziplinär und wahrscheinlich fantasievoller arbeiten lässt als in ihrer jeweiligen Monokultur. Und sie trifft auf Künstler(innen), die ihre Projekte für Forschung, Analyse und Entwicklung benutzen. Die lange segregierten Bereiche haben sich längst (wieder) angenähert. Als willkommenen Nebeneffekt bieten diese Kooperationen neue Möglichkeiten von Finanzierung, weil sich nun auch Künstler und Künstlerinnen an den noch ganz gut ausgestatteten Töpfen für innovative, kreative Wissenschaft & Kunst laben können. Seit nicht nur Wissen, sondern Kompetenz gefragt ist, werben neben Lehrern, Eltern und Schuldirektoren auch CEOs für mehr Kunstunterricht. Es könnte auch sein, dass in all den Kursen, von Creative writing bis Keramik, Basteln von Ohrringen oder Stricken für Laternen jene Elemente enthalten sind, die einmal das Privileg der Kunst waren. Kunstkritisch betrachtet mögen sie auf sogenannt niedrigem Niveau agieren. Aber man könnte, analog zu den Schrebergärten, die als Unterschicht-Schwundform aristokratischer Gärten beschrieben werden, auch die Freude und Befriedigung am Kunstwerken als demokratisierte Variante jener Heilkraft lesen, die der Renaissance-Maler erlebte, der ein Bild von Maria und Jesus zu malen begann. Und in all den Anwärtern auf eine Künstlerlaufbahn das Versprechen auf ein ehrliches Leben, nicht effizient, aber womöglich schön, wahr und gut.

Noch in den Umdeutungen steckt jene Energie, die Kunst – für Päpste und Monarchen, Philosophen und Bürger – teuer gemacht hat. Und darum ist nicht ausgeschlossen, dass noch die flachste Form dieses Erbes dazu beiträgt, Selbständigkeit, Verantwortung für das, was einer tut, die Lust an befremdenden Sichtweisen zu verbreiten. Mit augenzwinkerndem Optimismus ließe sich folgern, dass sie Möglichkeiten aufzeigt, mit Chaos, Unordnung und nicht vorgegebenen Wegen (auf denen man sich auch verirren kann) umzugehen.

Kommerzialisierung, Kulturbetriebsamkeit und die Eventisierung von allem und jedem fallen uns besonders auf, weil sie so laut und aggressiv sind. Daneben und in Zwischenräumen wachsen aber auch neue Sorten von Gras. Die Motive und die Erwartungen haben sich diversifiziert, es gibt mehr Gründe als früher, Kunst zu betreiben, zu wollen, zu konsumieren – und zu kaufen. Anknüpfend an die alten Geschichten sehe ich in den vielen jungen oder nicht mehr jungen Leuten, die für wenig Geld Dinge tun, die keine Karriere versprechen, aber Freude machen, jene antikapitalistische Sehnsucht, die mit Konsumverzicht und Spielfreude einhergeht. ›Nicht mehr als das, aber auch nicht weniger‹, hätte Ernst Bloch gesagt, als in den Künsten noch die Hoffnung auf eine andere, bessere Welt geborgen war. Im vorigen Jahrhundert hieß das ›Kampf gegen Entfremdung‹. Vokabular und Lektüre dieser Kohorte sind überholt, ein kühner Übersetzer würde vielleicht von ›Fair Trade‹ im Umgang miteinander, mit der Welt und der Kunst sprechen? Nicht mehr als das, aber auch nicht weniger. Zur antikapitalistischen Sehnsucht von heute gehört, der zerstückelten, automatisierten Lebensform etwas Ganzes, Eigenes oder wie man heute sagt ›Authentisches‹ entgegenzusetzen. Auch das sind Erbschaften aus einer Zeit, in der Kunst noch ressortiert war, abgegrenzt von anderen, ›gewöhnlichen‹ Tätigkeiten. Jetzt, wo ›Kunst‹ nicht mehr abgrenzbar ist, könnten – theoretisch – Grenzüberschreitungen, Aufklärung, die Hoffnung auf Alternativen und sogar Schönes inzwischen überall ihr Unwesen treiben. Es ist ergo nicht unmöglich, dass infolge der Verbreitung von Kunst, Kunstähnlichem, Kunstgewerbe und Kunstmarkt viel mehr Menschen als früher auch den Möglichkeitssinn am Leben halten und – theoretisch – all die Versprechen, die in Kunst steckten, weiterwirken. Auf säkulare Art, deshalb auch ohne den Heiligenschein, der Weltflucht impliziert und (speziell deutschen Kunstliebhabern) das Wegschauen erleichtert hat.

* Der Text ist eine leicht geänderte Fassung der Erstveröffentlichung in der Zeitschrift »wespennest«, Heft Nr. 169.

 

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