von Herbert Ammon

Erstens haben alle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte einen polemischen Sinn...
Carl Schmitt

Diskurse bezeichneten einst gelehrte Gespräche und Abhandlungen in den Räumen der Wissenschaft auf der Suche nach Erkenntnis. Heute besteht die Praxis des herrschenden Diskurses in Vorgabe, Einübung und Gebrauch der für ein vermeintlich unzweifelhaftes Weltverständnis ›richtigen‹ Begriffe. Die Diskurse reflektieren das Curriculum politischer Pädagogik in der ideellen Gesamtschule.

Der Terminus ›herrschender Diskurs‹ ist nicht als polemische Umkehrung des von dem bundesrepublikanischen Philosophen Jürgen Habermas eingeführten Begriffs ›herrschaftsfreier Diskurs‹ zu verstehen. Die Fiktion des Attributs ›herrschaftsfrei‹ tritt in Habermas' Explikationen in Gestalt definitorischer Einschränkungen selbst hervor. Die Diskurstheorie rücke »den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß in den Mittelpunkt«, verstehe aber den Rechtsstaat »als konsequenteste Antwort auf die Frage, wie die anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen des demokratischen Verfahrens implementiert werden können.« Weiter: »Die Diskurstheorie macht die Verwirklichung einer deliberativen Politik nicht von einer kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft abhängig, sondern von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren.« Die Diskurstheorie rechne »mit der höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen, die sich einerseits in der institutionalisierten Form von Beratungen parlamentarischer Körperschaften sowie andererseits im Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeiten vollziehen.«1

Was immer mit einem solchen Beziehungsnetz »politischer Öffentlichkeiten« gemeint sein mag, soviel ist klar: Basisdemokratisches Palaver liegt dem Philosophen fern. Krethi und Plethi haben im von »anspruchsvollen Kommunikationsvoraussetzungen« bestimmten Diskurs nichts zu suchen. Der »demokratisch-deliberative« Diskurs empfängt seine Impulse von Akteuren mit überlegenem Wissensstand und besserer Einsicht, implicite von einer Elite. Ein solcher Diskursbegriff birgt eine doppelte Ironie: Theodor W. Adorno, der elitäre Ahnherr der Frankfurter Schule, mokierte sich dereinst über den Begriff ›Elite‹, indem er sagte, über die Auswahl der Eliten entschieden nur die, die sich selbst ausgewählt hätten.

Bei unserem Thema geht es folglich nur in zweiter Linie um Methoden (»Wie werden Begriffe durchgesetzt?«), sondern um Machtfragen (»Wer setzt welche Begriffe durch?«). Es handelt sich nicht um einen ›semantischen Betrug‹, um ein schwer durchschaubares Spiel mit ideologischen Chiffren, sondern um den offenen Anspruch auf Definitionsmacht im Namen höherer Moral. Im Unterschied zur herkömmlichen Definition von ›Macht‹ – Max Weber spricht von Durchsetzungsvermögen auch gegenüber einem widerstrebenden Gegenüber – ist in den herrschenden Diskursen von Ablehnung wenig zu spüren. Vielmehr treffen die Diskursberechtigten auf ein anscheinend bereitwilliges Publikum, was die Machtmechanismen wesentlich erleichtert.

Was die Methoden zur Durchsetzung von ›richtigen‹ Begriffen betrifft, seien ein paar handfeste Techniken erwähnt. Erstens, Aufklärung: »Die Bundesregierung informiert«, d.h. die Regierenden fordern von den Regierten bessere Einsicht. Auf elektronischen Tafeln blinkt es: »Zuwanderung. Unsere Zukunft.« www.gesellschaft.de. Der Berliner Senat verkündet: »Mein Freund Ekim ist schwul. Na und?« Zweitens, Direktiven: Die Bundeszentrale für politische Bildung2 gibt elektronische Handreichungen für den Umgang mit gefährlicher »revisionistischer« Literatur, u.a. mit Viktor Suworows Eisbrecher.3 Drittens, Zensur (Nachzensur) findet statt: Die noch nicht ausgelieferten Exemplare der offiziösen Zeitschrift Deutschland Archiv mit einem geschichtspolitisch inkorrekten Text des katholisch-konservativen Politikwissenschaftlers Konrad Löw über Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte werden eingestampft.4 Als wirksamstes Instrument der Durchsetzung der ›richtigen‹ Begriffe wirkt last but not least der Verdacht. Wer mit nonkonformen Positionen vom herrschenden Diskurs abweicht, wird mit dem Etikett ›umstritten‹ versehen. Als Verschärfung genügt die Suggestion ›rechts‹, wo nicht, wird die Verdachtzone zum ›Rechtsextremismus‹ hin erweitert.

Les intellectuels in der Massen- und Mediengesellschaft

Der Konformismus erzwingende, Unfreiheit erzeugende Mechanismus ist als Hierarchie der Ideologievermittlung zu beschreiben. Die Stichwortgeber, die Erfinder von Begriffen – sofern nicht bloß plumpe Parteiparolen – entstammen den ›Eliten‹, als Popularisatoren fungieren gewöhnlich diejenigen, die für sich selbst den Begriff ›Intellektuelle‹ als Synonym für Geisteselite reklamieren. Der Terminus ›les intellectuels‹ stammt ursprünglich aus dem Arsenal der französischen Rechten. Während der Dreyfus-Affäre warf ihn der revanchistische Schriftsteller Maurice Barrès in die Debatte (1898). Émile Zola griff die polemisch gemeinte Bezeichnung auf und machte sie zum Markenzeichen der ›Linksintellektuellen‹. Alsbald gab es auch ›Rechtsintellektuelle‹. Die sich heute, gleichfalls mit elitärem Anspruch, zu dieser Gruppe rechnen, verfügen in der linksliberal konformierten Öffentlichkeit jedoch nur über marginalen Einfluß.

Intellektuelle, ob nun eigenständige Erfinder von Begriffen oder bloße Meinungsträger (›Kommunikationsscharniere‹), sind gesellschaftlich nicht eindeutig lokalisierbar. Jeder kann sich dazu rechnen, womit bereits ein Aspekt des herrschenden Konformismus angedeutet ist. Empirisch ist die Rolle der Intellektuellen im Kontext der modernen (oder zeitgenössisch ›postmodernen‹) Massengesellschaft zu definieren. Der Aufstieg der ›Massen‹ – ein disponibler, ›rechter‹ und ›linker‹ Begriff – resultiert um 1900 aus der Dynamik des Industriekapitalismus und der Auflösung festgefügter sozialer Ordnung (in Ständen und/oder Klassen). Die Massengesellschaft geht einher mit dem Aufkommen der Massenmedien (Presse, Film, Radio, Fernsehen) und wird seit den 1960er Jahren zum Synonym für die Mediengesellschaft.

Schon vor der als ›Kulturrevolution‹ bezeichneten Jugendrevolte 1968 begannen die alten deutschen Bildungseinrichtungen – Universität, Gymnasium, Volksschule – ihren Charakter grundlegend zu verändern. Der Publizist Georg Picht rief den »deutschen Bildungsnotstand« aus und forderte die Ausschöpfung von Bildungsreserven für die ökonomisch-technische Wettbewerbsfähigkeit. Der Ausbau der Gymnasien, zuvor Stätten rigoroser Auslese (›Eliten-bildung‹), eröffnete einerseits bislang ausgeschlossenen sozialen Schichten die Chance höherer Bildung, leistete andererseits Egalisierungstendenzen Vorschub, die in der Konsequenz zur gegenwärtigen Massenuniversität führten. Die Debatte um ›Eliteuniversitäten‹ mit ›excellence‹-Status verdeutlicht, dass sich das Problem der Elitebildung nur ›nach oben‹ verlagert hat.

In den einstigen Geisteswissenschaften, in den Sozialwissenschaften, in den jüngst kreierten ›Kulturwissenschaften‹, in Fächern wie Publizistik und Kommunikationswissenschaften produzieren die Universitäten jene Unzahl von Absolventen (oder Studienabbrechern), die sich –je nach Statusbedürfnis – zu den ›Intellektuellen‹ rechnen. Sie streben in die staatlichen Bildungseinrichtungen, in den sich ausweitenden nichtstaatlichen Bildungssektor (Akademien, Erwachsenenbildung, Parteistiftungen) und konkurrieren um Jobs in der Medienindustrie. An den Universitäten bewegen sich die Studierenden in einem überwiegend ›linksliberal‹ bis ›grün‹ bestimmten Klima. Geht es um Berufs- und Karrierechancen, so befördert der Konkurrenzdruck in allen Bereichen, namentlich in der Medienindustrie, die Anpassung an die herrschende Ideologie. Wer reüssieren will, übernimmt die Begriffe des herrschenden Diskurses.

Bereits im Zentrum der Begriffsbildung, an den einst ob der Freiheit des Geistes gerühmten Universitäten, treffen wir auf das Phänomen der ›Schweigespirale‹ (Elisabeth Noelle-Neumann). Wer aneckt, macht sich unbeliebt, auch Noten gilt es zu bedenken. Um der Einsamkeit zu entgehen, passt man sich der Gruppe, dem geistigen Umfeld an.5 Der nonkonformistische opinion-leader, das demokratische Idealbild des couragierten Denkers, der sich mit Moral und überzeugenden Argumenten durchsetzt, verkehrt sich ins Gegenbild: Führungsfigur ist derjenige, der die ›sozial erwünschte‹ Meinung vertritt und durchsetzt, weil sich ›die schweigende Mehrheit‹ lieber mit der eigenen Meinung, mit Kritik zurückhält.

Wo und wie findet in der Massengesellschaft und in der ihr wesensverwandten Massendemokratie die für das demokratische Selbstverständnis grundlegende »politische[n] Willensbildung des Volkes« (Art. 21,1 GG) statt? Ist das Leitbild der liberalen Demokratie, der ›mündige Bürger‹, bereits in den Seminaren selten anzutreffen, so entfaltet sich eine Etage tiefer, in der Medienindustrie, der akademisch erzeugte Konformismus. Als Staffage der Talkshows wirkt das handverlesene Publikum. Wenn eine Frau wie Eva Herman, ausgestattet mit schlichten Begriffen und Starrsinn, den Ausbruch aus ihrer bislang geglaubten Begriffswelt wagt, fliegt sie beim Talkmaster Johannes B. Kerner, einem der Fürsten des herrschenden ›Diskurses‹, raus. Ganz unten treffen die Auguren der Mediendemokratie auf ein gehorsames Publikum. Die ›Massen‹ finden Befriedigung in den Unterhaltungssendungen (einschließlich der Pornostreifen). In den endlosen Krimi-Serien werden sie mit politisch korrekter Moral überhäuft. Der Medienbetrieb trifft auf die Passivität des von ›Stress‹, Arbeitsplatzängsten und Konsumbedürfnissen getriebenen Publikums.

...und das »Volk«

Soweit der kulturkritische Befund. Er ist unvollständig und bleibt an der Oberfläche. Die einst als ›rechte‹ Attitüde angeprangerte Verachtung der ›Massen‹ – vor Zeiten das revolutionäre Subjekt der Linken – gehört längst zum Habitus der ›aufgeklärten‹ Diskurslinken. Das ›Volk‹, Substrat der Demokratie, trifft der Vorwurf der Selbstentmündigung, des Verzichts auf kritische Teilhabe an den ›Diskursen‹ insofern zu Unrecht, als es von den herrschenden Diskursen von vornherein ausgeschlossen ist. Wo sich ›unten‹ Kritik regt, wird wiederum die Schweigespirale wirksam. Die vom medialen Konsens abweichenden Stimmen verstummen. Die sog. ›schweigende Mehrheit‹ wird ridikülisiert oder sieht sich in die ›rechte Ecke‹ gedrängt. Nicht umsonst ist der ›Stammtisch‹, der Ort, wo die Schweigespirale nicht zuschnappt, seit eh und je Gegenstand des pseudo-elitären Spottes. Im Kontext geschlossener Diskurse trifft Gegenbewegungen oder Bestrebungen alternativer Parteibildung das Verdikt des ›Populismus‹.6

Nicht zufällig fungiert als Träger der Demokratie (dêmos – kratós) im herrschenden Diskurs immer weniger das ›Volk‹. Als Synonym für ›lebendige Demokratie‹ oder ›demokratische Gesellschaft‹ setzt sich mehr und mehr der Begriff ›Zivilgesellschaft‹ durch. In Wirklichkeit geht es um die alte Legitimationsproblematik von Macht und Herrschaft im Kontext der neuzeitlichen Demokratie. Bleiben wir daher zunächst bei den alten Begriffen: Der liberalen Vertragstheorie der Aufklärung (John Locke) nach besteht das ›Volk‹ aus der Summe der freien, vernunftbegabten Bürger. Die Revolution wird von Locke als denkbare (und in der Glorreichen Revolution von 1688/89) als reale Ausnahmesituation gedacht, in der das Volk direkt, gewaltsam (ermächtigt durch einen »Appell an den Himmel«) seine Souveränität ausübt. Danach tritt wieder der friedliche Vertragszustand ein. Das Volk delegiert seine Souveränität an seine Repräsentanten im Parlament. In seinen Two Treatises on Civil Government lieferte Locke eine nicht ganz widerspruchsfreie Vorlage der liberalen Diskurstheorie.

Schon Jean-Jacques Rousseau lehnte in seinem Contrat social nicht nur den Repräsentativgedanken, sondern die in Lockes Vertragkonzept implizierte Idee freier Übereinkunft – die Vorform des ›herrschaftsfreien Diskurses‹ – in politicis ab. Er hielt nichts von der Dissonanz der Einzelwillen (volonté de tous), sondern ging von der für das Wohl der Republik erforderlichen Harmonie, vom Gemeinwillen (volonté génerale) aus. Rousseau erkannte das demokratische Dilemma von Mehrheit und Minderheit und wollte es durch den alle verbindenden Gemeinwillen, die Wurzel der Volkssouveränität, lösen. Der Erzeugung des Gemeinwillens dient die Erziehung zur bürgerlichen Tugend. Wenn nötig, kann die tugendhafte Minderheit die Mehrheit der egoistischen Ungelehrigen zu Einsicht und Tugend zwingen. Der Elitegedanke durchzieht mithin auch Rousseaus egalitäre Republik. Die Frage: Wer erzieht die Erzieher? lässt er im Contrat social unbeantwortet. Er hat sie zeitgleich (1762) in seinem Erziehungsroman Emile, wo sich der sanfte Vikar um den Knaben kümmert, behandelt.

Konservative Kritiker sehen in Rousseau den Stammvater der totalitären Demokratie, der modernen Diktatur. Verteidiger Rousseaus verweisen auf die Notwendigkeit eines Patriotismus, der Bindung des Bürgers an sein Gemeinwesen und appellieren an bürgerliche Tugenden. In all seinen Widersprüchen (›Paradoxien‹) erfindet Rousseau den Begriff ›Zivilreligion‹ (Contrat social, IV,8). Ob totalitär oder demokratisch-freiheitlich, mit Hilfe des Rousseauschen Begriffs können wir die Dogmatik der zeitgenossischen Zivilreligion, die Begriffe der political correctness entschlüsseln. Wie jede Art von Religion, gründet die Zivilreligion7 auf gläubiger Bejahung oder nötigt zur Heuchelei.

Belastete Begriffe

Eine Zwischenbemerkung: Es ist ratsam, in Diskursen, die vom fürsorglich-tödlichen Soupcon begleitet sind, sich gegen derlei Verdacht abzusichern. Diese taktische Überlegung führt zu der grundsätzlichen, historischen Feststellung: Ohne die deutschen Katastrophen im 20. Jahrhundert, namentlich ohne die ungeheure zweite Katastrophe – die Hitlerei –, wäre die Debatte über politische Semantik ein vergnügliches wissenschaftliches Unterfangen. Sie ist es aber nicht.

Das Regime des Nationalsozialismus führte Europa in die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Es führte, nach dem Scheitern des Rettungsversuchs am 20. Juli 1944, die Deutschen in eine Doppelkatastrophe: zum einen in die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 19458 samt immensen Verlusten an Menschen, Territorien und Kulturgütern, zum anderen in eine abgrundtiefe moralische Katastrophe.

Den Einwand, hier finde eine Begriffshülse der politisch korrekten Geschichtsbetrachtung Verwendung, ist zurückzuweisen. Das deutsche Trauma ist der für unser Thema grundlegende Begriff, keine leere Gebetsformel, sondern eine Tatsachenbeschreibung: Ohne die deutsche Geschichtskatastrophe, ohne die nihilistische Verneinung der christlich-abendländischen Tradition, ohne den semantischen Betrug der NS-Ideologie an Begriffen wie Mensch – in der darwinistischen Umdeutung und Umkehrung (›Untermensch‹) eines hybriden Begriffs Nietzsches –, Volk, Gemeinschaft, Nation, Staat, Recht, Europa, nicht zuletzt am ehrwürdigen Begriff des Reiches und ohne den aus ideologischen Motiven verübten Völkermord, für den sich der Begriff ›der Holocaust‹9 durchgesetzt hat, fände der ›semantische Betrug‹, genauer: die Durchsetzung von vermeintlich eindeutigen Interpretationsmustern zur Bestimmung der Wirklichkeit, zur Analyse von Geschichte und Gegenwart, nicht statt.

Der Siegeszug dieses Begriffs ist ohne die bundesrepublikanische Vorgeschichte kaum denkbar. Lange ehe sich ›der Holocaust‹ als Dreh- und Angelpunkt aller Diskurse durchsetzte (die amerikanische TV-Serie kam erst 1979 ins deutsche Fernsehen), war in der westdeutschen Geschichtsschreibung der Boden für ein ›negatives‹ Nationalbewusstsein bereitet. Ein ideeller Bezug auf den 20. Juli (gleichsam als Rettungsanker unserer Geschichte) wurde aus mancherlei Gründen – nicht zuletzt aufgrund der Einwirkung der US-Besatzungsmacht – nach dem Krieg nicht konstitutiv. Ein führender Historiker wie Hermann Heimpel (1901-1988) sprach – in anderen Begriffen als der Philosoph Karl Jaspers – von der Last der Schuld und von persönlichem Versagen. Ende der 50er Jahre proklamierte der Historiker Fritz Fischer (1908-1999), ohne Frage getrieben von protestantischen Gewissensbissen ob seiner eigenen NS-Vergangenheit, die These von der deutschen Haupt-, ja Alleinschuld am I. Weltkrieg (Der Griff nach der Weltmacht, 1959/1961) und zerstörte damit den letzten Haltepunkt des historischen Selbstbewusstseins.

Wenig später zerlegte Hans-Ulrich Wehler mit seinem Bild von Bismarck als Urheber des deutschen, bis dato dem Wilhelminismus angelasteten Imperialismus, das positive Selbstbild des preußisch-protestantischen Bildungsbürgertums. Während katholisch-konservative Historiker zum preußisch-deutschen Nationalstaat Distanz hielten, setzte sich in den Geschichtsseminaren die linksliberale These vom ›deutschen Sonderweg‹ durch.10 Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Ausbildung deutscher Befangenheit gegenüber der katastrophischen Nationalgeschichte spielte parallel zu gleichlautenden Konzepten der ›Umerziehung‹ die maßgeblich vom Kulturprotestantismus verbreitete These einer Kollektivschuld. In die Zeit der Studentenrevolte fiel die Kritik an den ›undemokratischen‹ Konzepten des nationalkonservativen Widerstands durch Hans Mommsen. In den 90er Jahren wurden sodann verstorbene akademische Leitbilder wie Theodor Schieder (1908-1984) und Werner Conze (1910-1986) mit kompromittierenden ›Siedlungskonzepten‹ aus ihrer frühen Karriere konfrontiert. Um der ›linken‹ Diskursherrschaft auf den Grund zukommen, müsste man außer der Frankfurter Schule von der Bielefelder und Bochumer Schule sprechen. Deren Schüler besetzen heute nicht wenige Lehrstühle und Redaktionen.

Die Mehrdeutigkeit von Begriffen

Ohne die spezifisch deutschen Präokkupationen täten wir uns in allem leichter, so im Umgang mit Begriffen, mit denen wir Phänomene ordnen. Begriffe sind keineswegs eindeutig, selbst nicht der Begriff des ›Begriffs‹ (gr. lógos, énnoia; lat. conceptus, notio). Zur Erläuterung: Hegel verwendet die alte ›Idee‹ Platons für sein auf das Absolute zielendes Begriffssystem. Für Schopenhauer war der Begriff die »Vorstellung einer Vorstellung«.11 Die umgekehrte, auf Eindeutigkeit zielende Definition finden wir bei dem Philosophen Christoph von Sigwart (1830-1904): »Der Begriff ist eine Vorstellung von bestimmter, eindeutiger, beständiger, gemeinsam festgestellter Bedeutung.«12

Für Begriffe der politischen Philosophie sowie für politisch-ethische Fragen, erweist sich der Begriff einer ›festen Vorstellung‹ als untauglich, im Gegenteil: Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl (salus publica), Demokratie, Rechte und Pflichten des Bürgers (polítes oder cives) sind seit je Gegenstand der Reflexion, Problematisierung und Kritik. Schon bei Aristoteles ist die Bestimmung des Begriffs ›Demokratie‹ nicht eindeutig.13 Erst recht fehlt Begriffen, die in popularisierter Form die lingua politica durchziehen – obenan ›links‹ und ›rechts‹, Sozialismus oder das jüngste Modewort ›Zivilgesellschaft‹ – die semantische Eindeutigkeit. Selbst die Menschenrechte sind, ungeachtet der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 und nachfolgenden Ergänzungen, unter sich wandelnden historisch-politischen Konstellationen ausdeutbar und veränderlich, insbesondere was soziale, kulturelle, erst recht politische Kollektivrechte betrifft. Wer interessiert sich schon ernsthaft für Religionsfreiheit in Saudi-Arabien, für das Los der Tschetschenen, das Selbstbestimmungsrecht der Papuas in West-Neuguinea, der Kurden in der Türkei etc.? Was resultiert aus menschenrechtlichen Ermahnungen der zum Kapitalismus konvertierten chinesischen Kommunisten?

Ohne die Hitlerei, die in fast allen Aspekten des herrschenden Diskurses als Letztbegründung des vorgetragenen Arguments dient, wäre es möglich, unbefangen über die komplexe Wirklichkeit zu sprechen. Die Begriffe des herrschenden Diskurses, die politische Dogmatik des sog. Linksliberalismus, unterläge der Ideologiekritik, d.h. der Überprüfung durch freie Geister hinsichtlich der Macht- und Interessenlagen. An solcher Freiheit herrscht heute aus vielerlei Gründen Mangel. In Medien, Schulen, Universitäten, in den Seminaren der Partei- und Privatstiftungen, selbst in Kirchenräumen, vornehmlich in den kirchlichen Akademien14, herrscht die ideologische Monotonie des vermeintlich liberalen Pluralismus – mit einem zeitgenössischen Begriffsklischee: das ›Mantra‹ der political correctness.

Es gibt Gesinnungshüter, die ›PC‹, diesen selbst in den USA, dem Herkunftsland der Mehrzahl ›korrekter‹ Begriffe, ironisch gebrauchten Terminus am liebsten verbieten möchten. Wir mögen uns darüber amüsieren. Indes ist damit das tiefer liegende Problem, die ›politisch korrekte‹ Ausdeutung der Wirklichkeit, nicht aus der Welt geschafft.

Begriff und Sprachscham

Das Problem, die Einführung und Durchsetzung von ›richtigen‹ Begriffen beginnt mit der Sprache. Der philosophisch zentrale Terminus lógos (gr. -s Wort, -r Begriff, -r Sinn) kommt von légo (= ich spreche). Die Sprache des herrschenden Diskurses ist Englisch. Amerikanisches Englisch, die Sprache des amerikanischen Universalismus und dessen Wertesystems (value system) dient als geistiges Vehikel in fast allen gesellschaftlichen Bereichen: in der Popkultur, in der ›linken Szene‹ bei den sog. Autonomen (›Fight fascism!‹ ›Smash capitalism!‹ ›Kill the Nazis!‹) und bei ihren ›rechten‹ Antipoden von der White Aryan Brotherhood, vor allem im globalisierten Alltag, wo coolness mit dem gedankenlosen Gebrauch von Anglizismen einhergeht, vom check-in counter auf dem Airport bis zum Klingeln des ›Handy‹ und dem ›Downloaden‹ einer neuen CD, in den chat-rooms des Internet, im Wirtschaftsleben, wo der Erfolg einer Bewerbung von der richtigen Handhabung des Power Point beim Assessment Center (nicht etwa beim assessment = Beurteilung, Einschätzung) abhängt, nicht zuletzt im akademischen Raum.

Das Vordringen des Englischen und die Zurückdrängung der lingua propria ist nicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Zu erinnern ist an die beharrliche Abwehr des franglais in Frankreich sowie an das Vorherrschen des Englischen in der globalen Popkultur. Doch nirgendwo vollzieht sich der Sprachverlust so frappierend wie in Deutschland. Eine der Hauptursachen liegt dabei nicht in der reeducation, sondern in der Offenheit einer Generation von Nachkriegsdeutschen für die Sprache der amerikanischen Alltagskultur. Überspitzt formuliert: Ohne AFN in den 1950er Jahren kein Rock'n Roll, auch keine Country Music und keine Folk Music in Deutschland. 1968 – sex, drugs and rock'n roll – kam erst einige Jahre später, im Gefolge der Hormonpille und nach der Entzauberung des unbefleckten Vorbilds USA im schmutzigen Krieg von Vietnam.

Das von der amerikanischen Popularkultur, sodann von der Hippie-Gegenkultur inspirierte Lebensgefühl war für große Teile der Protestgeneration grundlegender als die elitäre Kulturkritik der Frankfurter Schule. Die Ideologie des Protests speiste sich aus allen möglichen neomarxistischen Quellen, jedenfalls mehr aus den eingängigen Schriften Herbert Marcuses denn aus den Werken Theodor Adornos und Max Horkheimers. Es bedürfte einer tiefgründigen Untersuchung, wie aus vielerlei unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Quellen, einschließlich der neuromantischen Emotionalität der deutschen Jugendbewegung – mit unerwarteten Gegenbewegungen wie der Suche nach deutscher ›Identität‹ bei den frühen Grünen – die herrschende bundesrepublikanische Ideologie hervorgegangen ist.

Der Vormarsch der political correctness findet ›oben‹ statt. Er geht einher mit dem Verzicht auf die deutsche Sprache im akademischen Raum: »Die deutschen Eliten haben...in den internationalen Prestige-Diskursen das Deutsche aufgegeben«, stellte unlängst ein Germanist fest.15 Er beleuchtete die Sprachscham der Deutschen, bei den im internationalen Kontext, in Wissenschaft, Wirtschaft, Diplomatie tätigen deutschen Eliten. Die deutsche Sprache wird zum Opfer der deutschen Vergangenheit: Das Gebell Hitlers im Ohr – wann wird in den ewigen TV-Dokumentationen je erkennbar, dass vor der Erfindung des coolen Mediums Fernsehen fast alle Politiker einen emotional aufreizenden Redestil pflegten? – empfinden junge Deutsche ihre Muttersprache als eine Art Geburtsfehler, als ein ungeliebtes Instrument, auf dem man ungern spielt und das man gerne beiseitelegen möchte. Man entledigt sich der ›Schamsprache‹ und beteiligt sich an den ›Diskursen‹ in Englisch, in der unbefleckten lingua universalis.

Nicht nur auf Kongressen halten deutsche Wissenschaftler ihre Vorträge in mehr oder minder elegantem Englisch.16 Zunehmend halten an deutschen, österreichischen und Schweizer Universitäten deutschsprachige Professoren ihre Vorlesungen selbst in den Geisteswissenschaften auf Englisch. Setzt sich der Trend fort, so verschwindet Deutsch als Diskurssprache. Es wird zu einer Sprache, die für spezifische Disziplinen (Philosophie, Geschichtswissenschaften, Philologie, Theologie) aufgrund der Wissenschaftsgeschichte erlernt werden muss, vergleichbar den ›toten Sprachen‹ Latein, Griechisch, Hebräisch. Mit der Vermeidung der deutschen Sprache verzichten die akademischen Eliten nicht nur auf ihr höchst eigenes Denkinstrument, sie beteiligen sich am Verlust, ja an der Zerstörung einer jahrhundertealten Wissenschaftstradition, die im 19. und 20. Jahrhundert für die Gebildeten aus aller Welt als Vorbild diente.17 Der in Frankfurt verliehene, begrifflich präformierte Sigmund-Freud-Preis für deutsche wissenschaftliche Prosa dürfte alsbald hinfällig werden.

Zur Invasion von Begriffen

Wir erleben eine Inflation von ›neuen‹ Begriffen: Globalisierung, nation-building, failing states, Migration, Zuwanderung, humanitäre Katastrophe, robustes Mandat, gender-mainstreaming, interkulturelles Lernen, Multikultur, Integration, Ethnizismus, Kulturalismus usw. Wir erleben den rapiden Wechsel der Begriffe. Einige Beispiele: Aus dem Völkerkundemuseum in Berlin-Dahlem wird das Ethnologische Museum. Die entsprechende Wissenschaft kennt keine Völker mehr, sondern nur noch ›Ethnien‹.18 Der die deutsche Einheit 1989/90 erzwingende Protestruf auf den Leipziger Montagsdemonstrationen ›Wir sind ein Volk!‹ wird im herrschenden Diskurs mit Stillschweigen quittiert, mehr noch als Entgleisung der ›Ossis‹ behandelt. ›Volk‹ wird mit ›völkisch‹ assoziiert und als NS-imprägnierter Terminus eliminiert. Aus dem Berlin-Dahlemer Museum für Volkskunde wird 1999 das Museum Europäischer Kulturen.19 Im April 2007 ändert das Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte seinen Namen und Begriff zu Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften.

Zur Klarstellung: Die Durchsetzung von Begriffen ist nicht einfach eine Frage der Manipulation, der Techniken von Macht und Herrschaft. Wir erleben seit etwa drei Jahrzehnten einen schnellen sozialen Wandel, einerseits verursacht durch die ökonomisch-technischen Prozesse der ›Globalisierung‹, andererseits durch die ungehemmte ›Zuwanderung‹ von außereuropäischen Bevölkerungsgruppen. Die vom Wechsel der Begriffe begleiteten Fakten in Stichworten: In West- und Mitteleuropa entstehen ›allochthone‹ communities, die sich von der ›Mehrheitsgesellschaft‹, den ›Autochthonen‹ erkennbar abheben. Wenn die Migrationsprozesse, wie allenthalben beschworen, friedlich verlaufen, bildet sich in den west- und mitteleuropäischen Staaten des ›Staatenverbundes‹ EU20 ein ›modernes‹, heterogenes Staatsvolk heraus, Synonym für eine vielfältig zusammengesetzte, namenlose Gesellschaft. Die classe politica sucht der weitgehend selbst verursachten Einwanderungsdynamik derzeit wieder mit dem Stichwort ›Integration‹ beizukommen. Dass ›Integration‹ (=Eingliederung), die auf Assimilation (=Angleichung) verzichtet, die seit den 80er Jahren von ›progressiven Linken‹ propagierte ›multikulturelle Gesellschaft‹ befördert, wird billigend in Kauf genommen. Das Integrationskonzept der postnational orientierten Elite besteht in der Kooptation von Repräsentanten der ›communities‹.

Entsprechen die Begriffe in vielerlei Hinsicht der sozialen Wirklichkeit, so ist ihr ideologischer Gehalt nicht zu verkennen, denn die das Bild Europas völlig verändernden Prozesse werden von den ›Eliten‹ – in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien, Kirchen – in ihrer Dynamik gefördert, forciert und begrifflich überhöht. Die Völker Europas sollen sich der Einwanderung öffnen, die in ihren Staaten entstehenden multi-ethnischen Gesellschaften als ›Bereicherung‹ begrüßen.

Der Ausgang der Transformationsprozesse (›Ethnomorphose‹) ist gänzlich ungewiss.21 Schon jetzt treten türkische und andere islamische ›Migranten‹-Vertreter mit Machtansprüchen hervor. Immer deutlicher zeichnet sich eine von gewaltsamen Verteilungs- und Machtkämpfen, von ethnischen Konflikten zerrissene Gesellschaft ab, deren Integration – wenn überhaupt – nur mit repressiver Staatsgewalt zu gewährleisten ist. In der Konsequenz einer von Clanstrukturen durchdrungenen, mafiotisierten Gesellschaft liegt der Zerfall des bürgerlichen Rechtsstaats.

Anders als bei ausländerfeindlichen Gewaltakten werden die heiklen Aspekte, nicht nur die materiellen Kosten der Masseneinwanderung, in Politik und Medien stets heruntergespielt. Allenfalls bei ›Ehrenmorden‹ regt sich gespieltes Entsetzen. Dass die politischen Loyalitäten der ›Migranten‹ meist anderswo als in ihrem ›Aufnahmeland‹ liegen – offenkundig bei Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken –, wird ignoriert.

Die Warnung vor Desintegration und Konflikten wird vom herrschenden Diskurs unverzüglich als ›rechtes Schreckensszenario‹ perhorresziert. Indes: Das propagierte positive, ›fortschrittliche‹(›linke‹?) Gegenbild einer friedlichen, von interkulturellen Begegnungen geprägten Einwanderungsgesellschaft überdeckt – jedenfalls in Deutschland – einen grundlegenden Widerspruch. Das deutsche Volk (ob nun Mehrheitsgesellschaft oder deutschstämmige Bevölkerung) existiert im herrschenden Diskurs begrifflich als ›Volk der Täter‹ weiter.22

Das ideologische Grundmuster der postnationalen Gesellschaft ist zentriert um einen ›völkischen‹ Begriff. Damit schließt sich der Zirkel der deutschen Diskurse.

Die Hegemonialmacht deutscher Diskurse

Wer den Zirkel aufbrechen will, stößt auf Machtrealitäten. Das weltpolitische Zentrum des herrschenden Diskurses liegt in der westlichen Hegemonialmacht USA. Nota bene: Es geht hier nicht um Verschwörungstheorie, etwa um die finsteren Mächte von Wall Street. Die Führungsrolle der USA entstammt der Logik der Geschichte. Sie entspringt nicht primär dem amerikanischen Sendungsbewusstsein, sondern der aus der europäischen ›Urkatastrophe‹ (George F. Kennan) von 1914 hervorgegangenen deutschen Katastrophe: Ohne Hitler kein II. Weltkrieg, keine Kriegserklärung an die USA (11. Dezember 1941), keine Casablanca-Formel Unconditional surrender. Noch einmal: Ohne die NS-Katastrophe 1933-1945 fände die deutsche Selbstaufgabe von heute nicht statt.

Der Dramatiker Heiner Müller, der aus seiner proletarisch-sozialistisch geprägten Existenz heraus ein Gespür für die deutsche Tragödie hatte, zitierte als anachronistische Metapher einen Satz von Edgar Allen Poe, dem großen amerikanischen Dichter und Vertreter der ›schwarzen Romantik‹: »Der Schrecken, von dem ich spreche, kommt nicht aus Deutschland.« Heute könnte man an eine ironische Aktualisierung des Satzes denken. Um allfälligen, bewusst gepflegten Missverständnissen entgegenzutreten: Es handelt sich um eine Metapher, um ein Sprachbild zur Veranschaulichung einer komplexen Problematik. Unvermeidlich zieht das Bild den Vorwurf des ›Antiamerikanismus‹ auf sich – ein Begriffsklischee, das im herrschenden Diskurs als ideologische Allzweckwaffe der Abwehr kritischer Analyse dient. Kritik an der Rolle der USA als der »einzigen Weltmacht« (Zbigniew Brzezinski), an ihrem Selbstbild als Leuchtturm der Demokratie sind im etablierten Meinungsspektrum nicht statthaft, sie gelten als ›rechtslastig‹. Damit ist der Diskurs über die Weltmacht USA, über den Aufbau und Ausbau ihrer Machtpositionen in Krisenregionen, über das ›Great Game‹ in Nahost, im Kaukasus und in Mittelasien, allgemein über Problematik und Unwägbarkeiten der Weltpolitik beendet.23

Reeducation

Das Schlagwort ›Antiamerikanismus‹ taucht mit Sicherheit auf, wenn es um Kritik an der reeducation geht, an Theorie und Praxis der Umerziehung der Deutschen zu ›guten Demokraten‹. Als die wichtigsten Urheber sind der Pädagoge John Dewey (1859-1952), die Kulturanthropologin (Ethnologin) Margaret Mead (1901-1978) und der Soziologe Talcott S. Parsons (1902-1979) zu nennen. Es ging den liberals, den amerikanischen Umerziehern, denen sich im Office of Strategic Services (OSS), dem Vorläufer der CIA, eine Reihe von deutschen Emigranten hinzugesellte, um die Psychologie der Besiegten. Die ›Frankfurter Schule‹, die erst in den 1950er Jahren in Frankfurt, im Hauptquartier der Besatzungsmacht aufblühte, gehörte ursprünglich nicht zu den Hauptakteuren. Adorno-Horkheimer verknüpften ihre Kritik an der bürgerlichen Familie als Mutterboden des ›autoritären Charakters‹ mit antikapitalistischer Kulturkritik, die eindeutig deutscher Herkunft war. Allerdings hatte Mead ihr Repertoire mit neofreudianischer Psychoanalyse angereichert, als sie 1942 ein Memorandum über die deutsche Charakterstruktur verfasste. Darin etablierte sie die (ethno-)psychologischen Standardbegriffe zur Erklärung des Nationalsozialismus aus den autoritären Deformationen der Deutschen.24

Der funktionalistische Soziologe Parsons', der als Vermittler der Soziologie Max Webers in den USA gilt, war von neomarxistischer Theorie unberührt. Für Parsons, Anhänger des Rooseveltschen New Deal und einer der Stammväter des amerikanischen liberalism, ging es um Analyse und Verteidigung der amerikanischen Demokratie als eines gelungenen »sozialen Systems«, einer für sozialen Wandel offenen »Gesellschaft im Gleichgewicht«. Ein tragender Begriff in Parsons' sozialem System ist das ›Wertesystem‹ (value system) sowie der ›Wertekonsens‹ einer Gesellschaft. Folglich spielt die Sozialisation, vermittels derer das Individuum das Wertesystem erlernt und ›verinnerlicht‹, eine zentrale Rolle. Das Konzept wurde grundlegend für die ›Umerziehung‹. In den Begriffen Parsons' sind die Konturen der zeitgenössischen Zivilreligion vorgezeichnet.

Dehnt man den Begriff ›Umerziehung‹ ins Politische aus, so gehört das 1948/49 vom Parlamentarischen Rat in Frankfurt geschaffene Grundgesetz nicht unmittelbar dazu. Die Ausarbeitung der Verfassung geht zwar auf eine Weisung der Alliierten im Jahre 1948, auf dem ersten Höhepunkt des Kalten Krieges zurück. Die etablierte ›freiheitlich-demokratische Grundordnung‹ war dennoch mehr als ein bloßer Oktroi. Mit direkten Interventionen hielten sich die Westmächte bei der Ausarbeitung der Verfassung weitgehend zurück. Die deutschen Vertreter zielten mehrheitlich selbst auf die Begründung einer parlamentarischen Demokratie, in der Parteien das Wahlverhalten kanalisieren sollten. Im Blick auf das Scheitern der Weimarer Republik sollte das Repräsentativprinzip Vorrang vor plebiszitären Elementen, vor dem vermeintlich irrationalen (deutschen) Volkswillen haben.

Unmittelbar auf amerikanische Einflussnahme geht indes die Einrichtung des Verfassungsschutzes zurück. Aus den ›Lehren aus Weimar‹ leitete man den Begriff der ›wehrhaften Demokratie‹ (militant democracy) ab. Der Begriffs geht auf den in die USA emigrierten Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler Karl Loewenstein (Militant Democracy and Fundamental Rights, 1937) zurück. Gegen den Schutz der staatlichen Ordnung vor realen Feinden, vor Umstürzlern unterschiedlicher Couleur lässt sich wenig einwenden. Tatsächlich hat sich ein Apparat herausgebildet, der, vermittels eines wissenschaftlich ungesicherten Begriffsinstrumentariums (rechts/links, demokratisch/extremistisch) und oft fragwürdigen ›Quellen‹ den in der Verfassung garantierten Freiheitsraum, den Pluralismus der Meinungs- und Willensbildung verengt oder im Sinne des ›herrschenden Diskurses‹ verschiebt.

Die Assoziation mit der heiligen Inquisition liegt nahe, wenn Behörden unliebsame Kritiker des etablierten politisch-sozialen Systems mit dem Stempel ›extremistisch‹ (oder ›radikal‹) belegen oder in die Nähe des Verdachts rücken. Zu erinnern ist an die Interpretationskünste von beamteten Verfassungsschützern und die langjährige Brandmarkung der Jungen Freiheit als eines getarnt ›rechtsextremistischen‹ Organs. Erst nach einem langen und kostspieligen Weg durch die Instanzen schob das Bundesverfassungsgericht der amtlich verfügten Durchsetzung des Begriffs bezüglich einer Zeitung, die sich mit Selbstbezeichnungen wie »konservativ«, »nationalkonservativ« oder »rechtsdemokratisch« schmückt, einen Riegel vor.

An dem genannten Beispiel wird der illiberale Umgang mit echten und/oder vermeintlichen »Feinden der offenen Gesellschaft« (Karl R. Popper) deutlich. Während die Lehren eines Carl Schmitt und dessen Freund-Feind-Kategorie verpönt sind, trägt die herrschende Ideologie den unterschwelligen Schmittianismus mit sich. Zum Beleg ein Zitat des amerikanischen Politik-wissenschaftlers Sidney Tarrow: »Liberal systems can be ferociously illiberal when challenged by those who do not share liberalism's values.«25

Illiberaler liberalism

Welche Rolle spielen dann ›die 68er‹ als jahrzehntelange Verwalter der Diskurse der Bundesrepublik? ›Die 68er‹ als Sammelbegriff waren alles andere als ein geschlossenes marxistisches/neomarxistisches Kollektiv. Nach der Zersplitterung des psychologisch doppelbödigen ›Protests‹ – als unterschwellige Strömung war in der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg ein verkappter Nationalismus vorhanden – legten die meisten den Marxismus wieder ab und folgten neuen Moden: Ökologie, Feminismus, Pazifismus, Menschenrechte. Der von österreichischen NS-Emigranten abstammende Paul E. Gottfried zeigt in seinem Buch The Strange Death of Marxism: The European Left in the New Millennium (2005), dass sich in der europäischen (deutschen) Linken eine »Amerikanisierung« vollzogen hat.26 Die Weltrevolutionäre und Klassenkämpfer von gestern fungieren heute als Prediger und Praktiker der neuesten ›linken‹ (=liberalen) Zivilreligion, als Verfechter der Menschenrechte und eines neuartigen ›Antifaschismus‹, der nur noch selten – bei den ›Autonomen‹ und bei einigen Vorkämpfern von attac –, den Kapitalismus als Quelle aller Weltübel im Visier hat.

Die Durchsetzung von Begriffen wurzelt somit maßgeblich in der Ideologie des amerikanischen liberalism. Dieser hat sich über Generationen hinweg in Deutschland (und in vielen Ländern Europas) als geistige Begriffsstruktur etabliert. Hinzu kamen die ideologischen Impulse der New Left samt Hippie-Bewegung mit ihrer spezifisch amerikanischen Mischung aus antipuritanischem Hedonismus und puritanischem Moralismus. Die jüngere amerikanische Ideologie prägt die Geistes- und Sozialwissenschaften an den deutschen Universitäten in dem Ensemble ›politisch korrekter‹ Begriffe. Sie manifestiert sich in Studienfächern wie ›gender studies‹, in Forschungsprojekten zu interkulturellen Themen sowie in Negativthemen wie Nationalismus/Ethnizismus, Rassismus, Eurozentrismus etc.

Dem Universalismus des amerikanischen Wertesystems, der Idee der liberalen Demokratie und des Demokratieexports, begegnen wir beispielsweise im Curriculum der Berliner Stiftungshochschule Hertie School of Governance. Das Selbstporträt auf der Homepage dieser Schule, wo angehende Politiker, Politikberater und Angestellte von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Master-Studiengängen ausgebildet werden, definiert den dort vermittelten Begriff von ›Demokratie‹: »Democracy is a type of political rule which is subject to permanent self-observation and self-transformation. Evaluating, changing, correcting and re-evaluating democracy form an intrinsic part of democracy itself. This is what constitutes its dynamic character, its openness to permanent change, its susceptibility to challenges, and its perception as an inherently problematical entity. This dynamic is triggered and enforced by actors within civil society and modes of communication such as parties, associations, social movements, the media, and the public sphere.«27

Die zitierte Definition enthält im zweiten Satz eine Tautologie: Die Demokratie definiert, was demokratisch ist. Daran schließen sich weitere Fragen: Was ist die ›public sphere‹, wie gelangen wir Bürgerinnen und Bürger in diese Sphäre, wie kommen wir in die Medien, welche sozialen Bewegungen sind statthaft, welche eher ›asozial‹, schließlich: was ist die Zivilgesellschaft?

Widersprüche des demokratischen Pluralismus

Ungeachtet der genannten Dynamik, d.h. der sich wandelnden sozialen Wirklichkeit und der vom ›Wertewandel‹ umgeformten Verfassungsrealität, bezieht sich der in der linksliberalen, Öffentlichkeit geführte Diskurs auf einen als ›normativ‹ befundenen Begriff der liberalen Demokratie. Hier liegt der Kern des Problems. Es geht um die ›Werte‹ (oder um die mit ›Werten‹ ausgestatteten Begriffe) einer Ordnung, die sich als ›liberal‹, ›demokratisch‹ und/oder ›pluralistisch‹ versteht. ›Pluralismus‹ bezeichnet die konkurrierende Vielfalt von ›Werten‹ oder Wertsystemen: In der liberal-demokratischen Gesellschaft steht es jedem frei, sich als Atheist, Christ, Sozialist, als Moslem, Mormone oder Veganer, vorzugsweise als Buddhist zu bekennen, solange er die ›liberale‹ (oder freiheitlich-demokratische) ›Grundordnung‹ nicht in Frage stellt.

Der – im Hinblick auf den Integrismus des Islam höchst akute – Widerspruch liegt in der geistigen Klammer der weltanschaulichen Vielfalt in der westlichen Demokratie. Ob als ›Minimalkonsens‹ oder als ›unantastbare Werteordnung‹ bezeichnet, es handelt sich um die Metaphysik der liberalen Demokratie, in anderen Worten: um die Zivilreligion der westlichen Gesellschaft. In den herrschenden ›Diskursen‹ wird sie meist verkürzt zu einer Ontologie der Menschenrechte.

Die in der Präambel des deutschen Grundgesetzes explizit ausgesprochene Metaphysik (»In Verantwortung vor Gott und den Menschen...«) erregt in der agnostischen Gesellschaft meist nur Achselzucken. Die implizite Metaphysik jeder westlichen Verfassung28 wird entweder nicht erkannt oder überspielt. Die Paradoxien demokratischer Theorie, begründet im Verhältnis von Subjekt und Außenwelt, von freiem Bürger und Einbindung in die von vielfältigen Machtverhältnissen bestimmte, sich demokratisch legitimierende Staatsordnung, treten als Kernfrage politischer Philosophie gar nicht erst vor Augen.

Ignoriert werden in den herrschenden Diskursen die Grenzen der Verfassungsmetaphysik. Sie liegen, von der Labilität des Systems hinsichtlich der materiellen Bedürfnisbefriedigung abgesehen, 1) in der Verfassungswirklichkeit, d.h. in der kontinuierlichen Veränderung und Umformung von Inhalten der Verfassung 2) in der sozialen Wirklichkeit (Das »deutsche Volk« als Subjekt der Verfassung löst sich in der Einwanderungsgesellschaft auf. Im Gefolge fortschreitender sozial-kultureller Desintegration schwindet die Bindekraft der Zivilreligion.) 3) in den europäischen und globalen Machtrealitäten.

Europa

Am Begriff ›Europa‹ treten die ideologisch schillernden Aspekte und hinter diesen die machtpolitischen Dimensionen des herrschenden Diskurses paradigmatisch hervor. Im Zeitraum von weniger als zwanzig Jahren erleben wir in Europa den Begriffswandel der einst konservativen Idee des christlichen Abendlandes – der Vision eines Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide de Gasperi – hin zur linksliberalen Idee und Wirklichkeit eines postchristlichen Europas ohne Grenzen.

Was ist, wo liegt Europa? Über den Begriff herrschte in der Antike Klarheit: hier das freiheitsliebende Hellas, dort die asiatische Despotie. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 ging der Begriff auf das lateinisch-christliche Abendland über, mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zentrum. Dem Reich oblag die Verteidigung Europas gegen die Osmanen und den Islam. Die Vorkämpfer der Aufklärung unterschieden, an die Antike anknüpfend, klar zwischen Asien und Europa. Nach den Erschütterungen Europas im Revolutionszeitalter bezog Metternich das Osmanische Reich als Stabilitätsfaktor in sein System ein, er pflegte gute Beziehungen zur Pforte, hegte keine Sympathien für den Freiheitskampf der Hellenen, blieb vom Massaker auf Chios ungerührt. Doch dass die Türkei nicht zu Europa gehörte, war für Metternich so selbstverständlich wie für die anderen Staatsmänner auf dem Wiener Kongress.

Umgekehrt war Russland im 18. Jahrhundert, spätestens unter Zar Alexander I. in den Befreiungskriegen gegen Napoleon Bonaparte in den Kreis der europäischen Mächte eingetreten. Am europäischen Charakter Russlands mochten liberale und demokratische Revolutionäre Zweifel hegen, nicht die Staatsmänner in Wien, Berlin, Paris und London. Im 20. Jahrhundert war das zaristische Russland den Westmächten als Bündnispartner willkommen, sodann der Tyrann Stalin (»Uncle Joe«) gegen Hitler-Deutschland. In der Endphase des Kalten Krieges genoss der christliche Humanist Alexander Solschenyzin die Wertschätzung der westlichen Intelligentsia. Heute, nachdem sich Russland im Gefolge des Mauerfalls seiner kommunistischen Diktatur entledigt hat, gehört es dank höherem Ratschluss wiederum nicht zu Europa.

Es scheint entgegen der vorherrschenden Medienberichterstattung29 unzweifelhaft, dass in Russland heute mehr ›Demokratie‹ herrscht als in der Türkei. Von der ›asiatischen Despotie‹, die seit Montesquieu (und Marx) das westliche Russland-Bild bestimmt, ist das Land heute weiter entfernt als das Regime in Ankara: »Was die Rechtsstaatlichkeit anbelangt«, so äußerte sich jüngst Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, »sind die Verhältnisse in Russland heute besser als je zuvor in der langen Geschichte«30. Historiker könnten unter Verweis auf die vom ›Zarbefreier‹ Alexander II. eingeleitete Reformära sowie die Jahre nach der Revolution von 1905, insbesondere in der Ära Stolypin (1907-1911) widersprechen. Für die Gegenwart liegen die Dinge klar zutage: Die sich unter Putin regenerierende Großmacht, Russland, der natürliche Partner der EU, passt Washington, London, Warschau und anderen Mächten nicht ins Konzept.31 Anders steht es mit dem NATO-Mitglied Türkei. Sie fungiert in den politisch-strategischen Konzepten der USA, Israels und – im Hinblick auf seine Sonderrolle in der EU – Englands als europäisches Land.

Die Türkei, über Jahrhunderte die islamische Bedrohungsmacht des christlichen Europa, wurde in den 90er Jahren zu einem europäischem Land umdefiniert. Als Begründung für den europäischen Charakter des Landes dienen zwei gegensätzliche Argumente: 1) die von Mustafa Kemal Atatürk als Hinwendung zu Europa vollzogene Modernisierung der Türkei. Der für Mustafa Kemal, hervorgegangen aus der Schule der Jungtürken, und den Kemalismus kennzeichnende Nationalismus – in den 20er Jahren gehörte Mustafa Kemal neben Mussolini zu den Vorbildern Adolf Hitlers – spielt für die postnationalen, antinationalistischen EU-Protagonisten offenbar keine Rolle. 2) Der angeblich gradlinige Demokratisierungskurs des eindeutig vom Islamismus geprägten Ministerpräsidenten Erdogan.

Statt einer ausführlichen Widerlegung der vorgeschobenen Argumente beschränke ich mich auf ein weiteres Zitat von Helmut Schmidt: »Aber weder sehe ich einen Sinn darin, ein muslimisches Land von 70 Millionen Menschen, das im Laufe dieses Jahrhunderts auf 100 Millionen anwachsen wird, in die Europäische Union zu integrieren, noch sehe ich einen Sinn darin, das Kurdenproblem und andere Konflikte im Mittleren Osten in die EU hineinzutragen oder ein Präjudiz für die Aufnahme von Staaten wie Algerien, Marokko oder Israel zu schaffen. Das ist Großmannssucht von Leuten, die meinen, dass es auf schiere Ausdehnung ankäme.«32

Hinter dem ›Diskurs‹ über die ›EU-Reife‹ der Türkei steht ein simples Machtargument. Unmittelbar vor dem in sensiblem timing auf den 3. Oktober 2005 (dem ›Tag der deutschen Einheit‹) festgesetzten Verhandlungsbeginn der EU mit der Türkei belehrte die US-Außenministerin Condoleezza Rice den widerstrebenden österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel am Telefon über Begriff und Grenzen Europas. Seitdem ziert die Türkei die politische Landkarte EU-Europas.

Zivilgesellschaft

Was das angestrebte Selbstverständnis des ›neuen‹, post-nationalen und post-christlichen Europa betrifft, so steht seit einiger Zeit im Zentrum des herrschenden Diskurses die ›Zivilgegesellschaft‹ als Substrat eines demokratischen Staates.33 Es handelt sich um die Wiederbelebung eines traditionsreichen Begriffs der abendländischen Philosophie.

Für Aristoteles war die koinonía politiké die auf das Wohlergehen (eudaimonía) ihrer Polis zielende Gemeinschaft freier Hellenen, mithin ein geographisch und ethnisch definierter politischer Raum. Bei Thomas von Aquin lautet der Begriff societas civilis sive politica sive populus (=bürgerliche Gesellschaft oder Staat oder Volk). In der politischen Aufklärung fungiert die civil society als Abstraktion der Vertragstheorie: Bei Thomas Hobbes bildete sie, hervorgegangen aus dem Herrschaftsvertrag, die Grundlage der monarchischen Souveränität im Staat (des »Leviathan«). Bei John Locke war die ›civil society‹ (›political or civil society‹) der Schlüsselbegriff der Kritik am monarchischen Staatsabsolutismus. ›Civil society‹ war identisch mit dem zur Revolution ermächtigten Souverän, dem Volk. In der altständischen Gesellschaft des alten Deutschen Reiches bezeichnete ›societas civilis‹ das Bild einer guten Ordnung, in der Staat und Gesellschaft noch nicht auseinandergetreten sind. Erst bei Hegel tritt die bürgerliche Gesellschaft dem Staat gegenüber – ein Dualismus (bei Hegel ›Differenz‹), den Marx radikal zuspitzt und revolutionär überwinden möchte.34 Allgemein zielt die demokratische Theorie – ablesbar am Intensivum ›Demokratisierung‹ – auf die Überwindung der von Hegel benannten Trennung von Staat und Gesellschaft. Nicht zufällig beziehen sich die auf eine ›gute Ordnung‹ abzielenden Vertreter des ›Kommunitarismus‹ wie der Philosoph Charles Taylor auf die Ahnenreihe Aristoteles – Thomas von Aquin – Montesquieu – Hegel – Tocqueville.

Der zeitgenössische Begriff ›Zivilgesellschaft‹ ist kein Import aus den USA, sondern wird auf Notate in den Gefängnisheften des kommunistischen Theoretikers und Märtyrers Antonio Gramsci (1891-1937) zurückgeführt.35 In ihrer Kritik am Machtmonopol der kommunistischen Staatsparteien entdeckten ostmitteleuropäische Intellektuelle die Zivilgesellschaft als sozialen Freiraum und Antithese zum Staat neu. Dem Soziologen Claus Offe zufolge fand das Konzept der Zivil- oder Bürgergesellschaft »im Anschluß an den Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa«, in den Sprachgebrauch der OECD-Gesellschaften Eingang.36

In seiner Begrifflichkeit von »bürgerlicher Gesellschaft« (societá civile) weicht Gramsci von Marx (und Hegel) ab. Anders als Marx spricht er von zwei »Ebenen« des »Überbaus«, nämlich der Ebene der societá civile und einer zweiten Ebene, »die der ›politischen Gesellschaft oder des Staates‹«. Innerhalb der »Zivilgesellschaft« (societá civile), die er als die »Gesamtheit der umgangssprachlich als ›privat‹ bezeichneten Organismen« definiert, fungiert eine »herrschende Gruppe« als Träger der gesamtgesellschaftlichen »Hegemonie«, im Staat wird »gesetzlich« »direkte Herrschaft« ausgeübt. In beiden Herrschaftsbereichen weist Gramsci den »Intellektuellen« die Rolle von »Commis« zu, die nur »untergeordnete Funktionen der gesellschaftlichen Hegemonie ausüben.«37 Die Intellektuellen, die sich gerne als Avantgarde der Gesellschaft wähnen, laufen bei Gramsci nur im zweiten Glied. Die Definition von societá civile bleibt selbst unscharf. Dessen ungeachtet tritt als zentraler Begriff Gramscis die ›gesellschaftliche Hegemonie‹ hervor – der Führungsanspruch einer Elite.

Claus Offe, heute an der Hertie School of Governance lehrend, trägt folgende Definition der ›Zivilgesellschaft‹ vor: »Dieser Begriff bezieht sich auf die Gesamtheit der nicht-staatlichen Kooperationsformen, durch die verantwortlich handelnde Bürger (citoyens) einen Teil ihrer gemeinschaftlichen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen verfolgen, die entsprechenden Konflikte bewältigen und damit zugleich als Nicht-Regierungsorganisationen (sog. NGOs) den ambivalenten Auswirkungen staatlicher Betreuung, Versorgung und paternalistischer Bevormundung (»Klientelisierung«) Einhalt gebieten.«38

Die Schwammigkeit der Definitionen ist kein Zufall. Die Erläuterung Offes nimmt den Dualismus Hegels von Staat und Gesellschaft wieder auf, der durch durch die Verschränkung von Staat und Gesellschaft sowie durch die Idee von ›mehr Demokratie‹ als überwunden galt. Im Begriff ›Zivilgesellschaft‹ erscheinen die beiden Sphären des Politischen und des Sozialen wieder getrennt.  Damit verliert die ›liberale Demokratie‹ als idealtypischer Begriff für die Regularien und Normen ›demokratisch‹ legitimierter Herrschaft ihre Substanz. Parallel zur Antithese Staat-Gesellschaft kehrt die ideologisch brisante Scheidung von Citoyen und Bourgeois wieder.

Eine Detailkritik der in der Zivilgesellschaft als vermeintlich uneigennützig wirkenden NGOs spürt leicht die materiellen Widersprüche auf: Es handelt sich entweder 1) um private Stiftungen und/oder Thinktanks, deren Initiatoren und Geldgeber vielfach spezifische innen- und außenpolitische Ziele verfolgen (z.B. die George-Soros-Stiftung bei der sog. ›Rosenrevolution‹ in Tbilisi (2003) oder bei der ›orangen Revolution‹ in Kiew (2004) oder 2) um aus Steuergeldern finanzierte Institutionen (Parteistiftungen) oder subventionierte karitative Organisationen oder 3) um von den Beiträgen der Mitgliedstaaten getragene Suborganisationen der EU oder UNO. Für die in den NGOs Beschäftigten handelt es sich nicht um ehrenamtliches Engagement, sondern um Vollzeitbeschäftigung zum Broterwerb im ›global village‹. Ein Kritiker schrieb unlängst über die Bertelsmann-Stiftung, sie sei allgegenwärtig, changiere »an den Grenzen von privatwirtschaftlich, gemeinnützig, staatsnah und halbwissenschaftlich, prominenzorientiert und kommunal. Ein echte Nichtregierungsorganisation mit Kontakten in alle Regierungen hinein. Das festliche Wort dafür ist ›zivilgesellschaftliches Engagement‹...«39

Conclusio

Die Kritik der ›Zivilgesellschaft‹, des derzeit universelle Gültigkeit heischenden Leitbildes, führt über den Hegemoniebegriff, über den beanspruchten – von der classe politica gleichsam arbeitsteilig anerkannten – moralischen Führungsanspruch diverser Gruppen von ›verant-wortlichen‹ Bürgern zurück zur Ausgangsfrage: Wer gehört zu den die Diskurse bestimmenden ›Eliten‹? Wer bestimmt die Inhalte der ›Diskurse‹? Wie legitimieren die Diskursträger jenseits der hohen Menschheitsziele ihren politisch-moralischen Vorrang?

Kritik hat an den Widersprüchen des herrschenden Diskurses anzusetzen, an der Leugnung von Machtrealitäten, an der selektiven Wahrnehmung der Realität sowie an den Machtansprüchen der mit der etablierten Politik liierten Avantgarde der ›Zivilgesellschaft‹. Nicht zufällig schlägt bei Gesinnungsethikern von Mal zu Mal die Neigung zu gewaltsamen Lösungen durch. Die Grünen, die diskursbeherrschende bundesdeutsche Moralpartei, wandelten sich im Handumdrehen von Pazifisten (wenn es sich nicht stets um bloße Lippenbekenntnisse handelte) zu ›Bellizisten‹, zu Befürwortern kriegerischer (›friedensstiftender‹) Zwangsmaßnahmen. Andererseits umgeht der Universalismus der Menschenrechte, welche der eigenen Logik gemäß in globalen Interventionismus münden müsste, die inhumane Wirklichkeit dort, wo er auf unbequeme Machtrealitäten stößt, etwa in China, Pakistan oder Zimbabwe.

Der von westlichen Diskursführern zur Maxime erhobene Interkulturalismus ist doppelt widersprüchlich. Einerseits überwölbt er den dem Begriff inhärenten Kulturrelativismus mit einem universalistischen ›westlichen‹ Credo, andererseits entspringt er, erwachsen aus der Tradition eindimensionaler Aufklärung, einem kulturellen Pluralismus-Begriff, der mit Agnostizismus einhergeht. Nicht nur in islamischen Ländern stößt derlei säkularer Missionarismus auf wenig Gegenliebe. Auch in den europäischen ›Einwanderungsgesellschaften‹ vermag die bislang in Wahlen demonstrierte Zuneigung türkisch-islamischer Gruppen zu ›linken‹ Parteien die Unvereinbarkeit des Säkularismus der aufklärerischen Linken und der voraufklärerischen Glaubenstreue der ›Migranten‹ auf Dauer nicht zu überdecken.

Umgekehrt importiert die von den ›postnationalen‹ Eliten beförderte Einwanderung Fundamentalismen sowie auf das Herkunftsland gerichtete Nationalismen, denen mit Formeln wie ›Verfassungstreue‹ und ›Integrationspflicht‹ nicht beizukommen ist. Längst wird von Befürwortern der Migration die Forderung erhoben, die Aufnahmegesellschaften hätten sich im Namen der ›Toleranz‹ den Kulturtraditionen der Einwanderer (Stichwort: Schariah) zu öffnen. Wo europäische Länder zugunsten der ›Migranten‹ auf den Begriff der christlich-abendländischen ›Leitkultur‹ verzichten, zeichnet sich das Ende der europäischen Kultur ab.

Um die herrschenden Diskurse zu durchbrechen und umzusteuern, bedarf es der Klarheit des Denkens, der Ironie und der Zivilcourage – des Muts zum Widerspruch. Gegen politisch sterile, zweideutige und irreführende Begriffe sind die Waffen der Kritik zu richten: Wissen und Einsicht, Selbstbewusstsein, an der historischen Wirklichkeit geschärfte ethische Sensibilität.

 

Anmerkungen

1 J. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Politik, in: Herfried Münkler (Hg.), Die Chancen der Freiheit: Grundprobleme der Demokratie, München, 1992, S. 22, 23.

2 Als Präsident fungiert der ehemalige evangelische Vikar Thomas Krüger ( SPD). Zu seiner politischen Biographie: Gründungsmitglied der SDP in der DDR, 1991 letzter (kommissarischer) Oberbürgermeister von Ost-Berlin, von 1991 bis 1994 Senator für Familie und Jugend in Berlin, von 1994-1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. »Zuvor war er im Wahlkampf mit dem Motto ›eine ehrliche Haut‹ auf Postern nackt zu sehen, was für bundesweites Aufsehen sorgte. Krüger kam im Jahr 2005 in die Kritik, weil er den Vorsitzenden der vom Verfassungsschutz beobachteten ›Islamischen Gemeinschaft in Deutschland‹ (IGD) Ibrahim El-Zayat als ›Experten für Integrationsfragen‹ empfahl und auch als dessen islamistischer Hintergrund klar wurde, an el-Zayat festhielt.‹« http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Kr%C3%BCger_(Politiker.

3 Siehe bpb: Bundeszentrale für politische Bildung, Argumente gegen rechtsextreme Vorurteile, Stichwort ›Präventivkrieg gegen die Sowjetunion‹ (Autor: Wolfgang Benz). http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion.html?guid=KFXDV0. Das Buch von Suworow, Der Eisbrecher, erschien 1989 im Stuttgarter Verlag Ernst Klett. Der KGB-Überläufer Suworow (Wladimir Resun) unternahm es, Stalin der systematischen Vorbereitung einer militärischen Aggression nach Westen zu überführen. Seine Thesen werden in Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unbefangen diskutiert. Dazu eine Anmerkung: Von einem Präventivschlag Hitlers am 22. Juni 1941 kann keine Rede sein. Die deutsche Angriffsplanung setzt im Juli 1940 ein, als Hitler angesichts britischer Unbeugsamkeit erkennen muss, dass er in der Falle sitzt. Im Gefolge des Berlin-Besuchs von Außenminister Wjatscheslaw Molotow (12./13. November 1940) gibt Hitler am 18. Dezember 1940 die ›Weisung Barbarossa‹. Umgekehrt gehört das Bild vom ahnungslosen Unschuldslamm Stalin angesichts seiner Schachzüge 1939-1941 sowie des ihm am 15. Mai 1941 vorgelegten Schukow-Plans ins Reich historischer Fabeln. An der Art der Kriegsführung, an den alsbald propagierten ›Lebensraum‹-Konzepten (›Generalplan Ost‹ 1942) sowie an den Fakten der NS-Mordpraxis ändert der auf das komplexe Mächtespiel im II. Weltkrieg gegründete ›Revisionismus‹ nicht das mindeste. Der herrschende ›Diskurs‹ verbietet jedoch selbst die nüchterne Betrachtung der evidenten Fakten.

4 So geschehen mit der Ausgabe von Deutschland Archiv 2/2004.

5 Als klassische kulturkritische Analyse, die über den Begriff des Anerkennung heischenden, konformistischen ›Radartyps‹ in E. Noelle-Neumanns ›Schweigespirale‹ Eingang gefunden hat, gilt David Riesman, The Lonely Crowd, 1950 (dt. Die einsame Masse, Reinbek 1951).

6 Der aus Amerika stammende Begriff ›Populismus‹ hat einen interessanten Bedeutungswandel hinter sich. In den USA mündete der um 1880 erwachsene agrarische Protest im Süden und Mittelwesten gegen Abhängigkeit von Bank- und Industriekapital in die rasch wieder zerfallene ›People´s Party‹ (1892). Lange erfreute sich der Protest als in amerikanischer Tradition verwurzelte, radikal-demokratische Bewegung einer gewissen Wertschätzung ›progressiver‹ Autoren. Das Bild wandelte sich, als Historiker das Augenmerk auf fragwürdige und abstoßende Züge der Bewegung lenkten. Seither gilt ›Populismus‹ als anrüchiger Begriff. Vgl. Richard Hofstadter, The Age of Reform, New York 1955, (Kap. II The Folklore of Populism), S. 60-93.

7 Zur Begriffsproblematik s. Wolfhart Pannenberg, Zivilreligion, in: Staatslexikon (Herder), 7. Aufl. Freiburg-Basel-Wien 1995, Bd. V, S.1170f.

8 Ein historisch-semantisch ungenaues Datum. Die Kapitulationsurkunden wurden am 7. Mai (in Reims) und frühmorgens am 9. Mai (in Berlin-Karlshorst) 1945 unterzeichnet. Russland begeht den ›Tag des Sieges‹ am 9. Mai.

9 Es handelt sich – abgesehen von der aus der antiken Kultpraxis stammenden Semantik – um einen grammatikalischen faux pas. Im Griechischen (tò holókauton, n. = das Brandopfer) steht das ›gänzlich Verbrannte‹ sinngemäß im Neutrum. Siehe Greek-English Lexicon, abr. from Liddell and Scott´s Greek-English Lexicon, Oxford 1963, S. 484.

10 Die Widerlegung der ›Sonderweg‹-These durch die englischen marxistischen Historiker David Blackburn and Geoff Ely wurde von der westdeutschen Zunft kaum zur Kenntnis genommen. (Siehe D. Blackburn / G. Ely, Mythen deutscher Geschichtsschreibung, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1980; siehe auch die Kritik des ›Sonderwegs‹ von David P. Calleo, Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr, Bonn 1981.) Heinrich August Winkler, einer der Hauptvertreter der These, hielt den ›Sonderweg‹ erst mit dem Jahr 1990 für abgeschlossen. (Siehe H.A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde. München 2000).

11 Es liegt nahe, diese Definition insbesondere auf Talkshow-›Diskurse‹ anzuwenden: ›Die Vorstellung einer Vorstellung‹ entspricht in der Regel dem, worüber der Moderator /Talkmaster (sc. Moderatorin/Talkmistress) und die Talk-show-Gäste mit Emphase reden.

12 Zit. in: Max Apel / Peter Ludz, Philosophisches Wörterbuch, Berlin-New York 1976, S. 43, s.v. ›Begriff‹.

13 Er zählt die Demokratie einerseits in ihrer guten Variante neben Königtum und Aristokratie zu den ›richtigen‹ Verfassungen, erklärt sie andererseits in ihrer extremen Form zur negativen Abart der politeia. Zudem unterscheidet er in seiner Typologie fünf Arten von Demokratie. (Aristoteles, Politik, Buch III, Kap. 7, Kap.8, Buch IV, Kap. 4). Zur Problematik in der Antike siehe auch: Christian Meier, Die Entstehung des Begriffs Demokratie, in: Ch. M. , Entstehung des Begriffs ›Demokratie‹. Vier Prologomena zu einer historischen Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 7-69.

14 Das Titelblatt des als Beilage zu deutschen Zeitungen erscheinenden evangelischen Magazins Chrismon (11.2007) mit einem Bild von Rudi Dutschke lautet: »Streiten Sie hier. In den Evangelischen Akademien darf man Undenkbares denken – wie Rudi Dutschke 1968 in Bad Boll« suggeriert eine realiter nicht vorhandene Liberalität.

15 Jürgen Trabant, Die gebellte Sprache, in: F.A.Z., 28.09.2007, S. 40.

16 Jüngst redeten deutschsprachige Referenten auf einem Hamburger Symposium über den Physiker Heinrich Hertz in penetrantem Englisch – selbst die Quellentexte waren ins Englische übertragen – von ›Hörrtz‹. Der Berichterstatter Wolfgang Krischke kritisierte zu Recht, dass die in zentralen Theorie-Begriffen der Physik wie ›Kraft‹, Bild, ›Darstellung‹ eingeflossene sprachspezifische Geistesgeschichte bei derlei sprachlicher Nonchalance verloren geht. (W.K., Philologische Annäherung an die Natur, in F.A.Z v. 24.10.07, S. N3)

17 Gewiss sind nicht alle Negativphänomene der deutschen Massenuniversität der Sprachscham anzulasten. Bei der Einführung von Bachelor und Master ging es u.a. um die Beherrschung des akademischen Massenbetriebs. Doch fraglos trägt die unter dem Signum ›Bologna-Prozess‹ – angeblich zur Homogenisierung des europäischen Bildungssystems – durchgesetzte ›Reform‹ zur Zerstörung deutscher Bildungstradition bei. Von der auf enge Einzelfächer bezogenen Qualität abgesehen, handelt es sich bei Bachelor- und Master-Studiengängen um die Verballhornung der anglo-amerikanischen Termini B.A., B.S., M.A., M.S. usw. Wir erlauben uns – zu spät – zu fragen: Warum verzichtete man auf die Wiederbelebung des lateinisch-abendländischen Baccalaureus und die ›gendersensible‹ Neuerschaffung einer Baccalaurea? Doch nicht etwa, weil sich Goethes Faust über einen naiven Baccalaureus lustig machte? Das lateinische Genus wäre jedenfalls politisch korrekter gewesen.

18 ›Ethnie‹ (falsche Betonung im deutschen Seminarjargon meist auf der ersten Silbe) ist abgeleitet von gr. ethnos = -s Volk, -r Volksstamm.

19 In der Selbstdarstellung des Museums heißt es: »Schwerpunkt des Museums ist die europäische Alltagskultur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. [...] Mit seinem Umzug in das Museumsquartier Dahlem, unter das Dach des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst, hat das Museum Europäischer Kulturen seinen Diskurs durch die Beschäftigung mit den außereuropäischen Kulturen in idealer Weise erweitert.« Frage: Welcher Begriff gilt, Singular oder Plural? Gibt es die europäische Kultur, Grundlage der europäischen Einigung, oder ist Europa in Wirklichkeit ein ›multikulturelles‹ Ensemble von fröhlichen Folkloregruppen?

20 Der Begriff ›Staatenverbund‹ für die EU wurde vom deutschen Bundesverfassungsgericht anlässlich der von vier Wissenschaftlern und dem FDP-Politiker und ehemaligen EU-Kommissar Manfred Brunner angestrengten Klage gegen den Vertrag von Maastricht geprägt, um den staatsrechtlichen Status und das Verhältnis der Mitgliedstaaten als politisches Gebilde sui generis – zwischen Staatenbund und Bundesstaat – zu definieren. Der Begriff dürfte vom faktischen EU-›Prozess‹ bereits überholt sein.

21 Der Konstanzer Soziologe Jost Bauch spricht bereits von »Ethnosuizid«. (J.B., In welcher Gesellschaft werden unsere Enkel leben?, Vortrag am 7. Dez. 2007 bei der Berliner Burschenschaft Gothia; unveröff. Manuskript.)

22 Beispiel: In einer Nachrichtensendung des RBB Kultur Anfang November 2007 über das ›umstrittene‹ Zentrum gegen Vertreibungen wurde die Frage ventiliert, ob durch ein solches Dokumentationszentrum die Schuld der Deutschen als ›Volk der Täter‹ - keiner spricht hier von ›Täterinnen und Tätern‹ - in den Hintergrund gerückt werden könnte.

23 Die ›rechts‹ wie ›links‹ gepflegte Vorstellung von den USA als des machtgierigen, kapitalistischen Imperiums (›The Empire‹) zielt an der Wirklichkeit vorbei. Erinnert sei an die von mancherlei guten Absichten geprägte Außenpolitik des Präsidenten Jimmy Carter (1977-1981). Wie seine spätere Rolle als unermüdlicher Friedensvermittler, nicht zuletzt als Verteidiger der Rechte der Palästinenser zeigt, war die in seiner Regierungsära ins Spiel gebrachte Menschenrechtspolitik mehr als schiere Propaganda. Gleichwohl scheiterte Carter 1979 an der seit dem CIA-Putsch gegen den Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh (1953) von einer langen Kette von Fehlern geprägten US-Politik gegenüber dem Iran. – Die Dialektik der (seit 1917 und/oder 1941 ausgeübten) Weltmachtrolle der USA trat unmittelbar darauf in Afghanistan hervor. Die von Carters Sicherheitsberater Brzezinski, einem Vertreter der ›realistischen Schule‹, eingeleitete Herausforderung der UdSSR in Afghanistan, brachte zwar in kaum mehr als einem Jahrzehnt das Sowjetregime zu Fall, ist aber für das unendlich währende Chaos in Afghanistan mit ursächlich. Der Fall Afghanistan illustriert zugleich die geistige Schlichtheit der deutschen classe politica im Umgang mit Begriffen: Für die deutsche Beteiligung am Krieg (»Friedensmission«) in Afghanistan hatte Verteidigungsminister Struck (SPD) das Argument parat: »Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.« Die These trug Struck erstmals am 4.12.02 vor. Sie erschien sodann als Maxime in der Regierungserklärung vom 11.03.04. Keiner wagte auszusprechen, dass die Bundesrepublik nach Schröders Verweigerung einer aktiven Teilnahme am Irak-Krieg ( Aufmarsch 2002, Kriegsbeginn 20.03.03) einen Affront der Vormacht USA nicht riskieren konnte.

24 Vgl. Karl-Heinz Füssl, Deutscher Charakter im Blick der Umerzieher, FAZ v. 31.10.07, S. N 3. Zum Gesamtkomplex Caspar von Schrenck-Notzing, Charakterwäsche, 2. Aufl. Frankfurt/M.-Berlin, S. 106-149, wo Parsons unerwähnt bleibt. Zu Mead, die 1943 ein Vorwort zu einem Buch mit dem Titel Ist Deutschland unheilbar? beisteuerte. Vgl. ebda., S. 110-12, 125.

25 »Liberale Systeme können wildentschlossen illiberal sein, wenn sie von jenen herausgefordert werden, welche die Werte des Liberalismus nicht teilen.« (zit. in: Michael Minkenberg, Die neue radikale Rechte im Vergleich, Opladen-Wiesbaden 1998, S. 64f.).

26 Vgl. die Besprechung von Daniel J. Mahoney, Stranger Than Fiction, in: The Intercollegiate Review 42,1 (Frühjahr 2007), S. 48f.

27 »Demokratie ist ein Typus politischer Herrschaft, der ständiger Selbstbeobachtung und Selbstveränderung unterworfen ist. Die Bewertung, der Wandel, die Korrektur und die Wiederbewertung von Demokratie bilden einen wesentlichen Teil der Demokratie selbst. Dies begründet ihren dynamischen Charakter, ihre Offenheit für ständigen Wandel, ihre Empfänglichkeit für Herausforderungen und ihre Perzeption als eines im Kern problematischen Wesens.
Diese Dynamik wird ausgelöst und durchgesetzt von Akteuren innerhalb der Zivilgesellschaft und durch Modi der Kommunikation wie Parteien, Vereinigungen, sozialen Bewegungen, den Medien und der Öffentlichkeit.« (Übs. H.A.). Zit in: Advanced Curriculum der Hertie School of Governance. http://www.hertie-school.org/content.php?nav_id=401.

28 Z.B. die empirisch zweifelhafte Präambel der US-Verfassung »We the people«.

29 Wir mögen wie Gerhard Schröder den Präsidenten Wladimir Putin für einen »lupenreinen Demokraten« halten oder nicht. Natürlich sind die Schwächen und Willkürlichkeiten des Regimes, erst recht die brutale Wirklichkeit des Tsche-tschenienkriegs, nicht zu übersehen.

30 Interview in: Der Spiegel Nr. 44 v. 29.10.2007, S. 38.

31 Siehe dazu den Aufsatz des Vorkämpfers der Perestrojka und der deutschen Wiedervereinigung Wjatscheslaw Daschitschew, Schlacht um Russland. Die von den USA weitverbreitete These über die «Rückkehr» Russlands zum kalten Krieg ist für Einfaltspinsel bestimmt, in: http://www.zeit-fragen.ch/ausgaben/2007/nr28-vom-1672007/schlacht-um-russland/

32 Interview (Anm. 30), S. 36.

33 Einige ihrer Protagonisten wie der Soziologe Ralf Dahrendorf bevorzugen den Begriff ›Bürgergesellschaft‹. Er versteht darunter ein von friedlicher Nachbarschaft, von vielfältigen Aktivitäten der Bürger (einschließlich Blaskapellen) und uneigennützigem Engagement getragenes soziales Ensemble. Immerhin sieht Dahrendorf auch die Phänomene sozialer Desintegration, die von Émile Durkheim mit »Anomie‹ (=Normen- oder Gesetzlosigkeit‹ bezeichneten Zustände in der sozialen Wirklichkeit. Siehe Ralf Dahrendorf: Recht und Ordnung. Weniges ist schlimmer als eine Welt ohne Halt, in: FAZ v. 21.11.01, S. 10.

34 Zum Begriff der societas civlis s. Otto Brunner, Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, S. 137f., ders.: Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, 187f., in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2Göttingen 1968. Eine umfassende Diskussion des Begriffs liefert Manfred Riedel, Der Begriff der »Bürgerlichen Gesellschaft« und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: M. Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1969, S. 135-166.

35 Eine neomarxistische Darstellung des Begriffs bei Gramsci bietet der Artikel Zivilgesellschaft und Revolution. Antonio Gramscis Definition eines Begriffs, der zum Modewort wurde, in: Analyse & Kritik, nr. 441/31.8.2000. http://www.akweb.de/ak_s/ak441/03.htm.

36 Vgl. Hans Joas, Ungleichheit in der Bürgergesellschaft. Über einige Dilemmata des Gemeinsinns, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25-26/2001. C. Offe, Staat, Demokratie und Krieg, in: Hans Joas (Hg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt/New York 2001, S. 431. – Ich selbst (H.A.) erlebte den Vormarsch des Begriffs im Sommer 1986 bei einer Ost-West-Konferenz in Coventry.

37 A. Gramsci, Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/M. 21986. Die »Zivilgesellschaft« (societá civile) wird erläutert in dem Aufsatz Die Herausbildung der Intellektuellen, S.228f. Siehe auch Anm. 172 zu »bürgerliche Gesellschaft« auf S. 372.

38 Offe (Anm. 36), 431f.; s. auch S. 466, s.v. Zivilgesellschaft.

39 Jürgen Kaube, Prost Gemeinwohl!, in: FAZ v. 31.10.07, S. 41.

 

 

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