von Ulrich Schödlbauer
Wider das Vergessen: Wir wissen jetzt, wie das gemeint ist. Wir, die ›nach dem Kriege‹ Geborenen, haben im Schatten dieses Appells gelebt, wir haben zu verstehen geglaubt und die Aufgabe umstandslos auf das historische Geschehen bezogen, dessen Zeitzeugen wir, nach Lage der Dinge, nun einmal nicht mehr sein konnten. Wir haben uns, so gut es ging, an der ›Aufarbeitung‹ beteiligt – ein historisches Verdienst, dessen sich die Generation der späten Geburt von Anfang an brüstete und für das sie sich im Alter mit Ehren bedecken lässt, ohne, wie sich jetzt herausstellt, die psychische Dynamik kennengelernt zu haben, die dem Appell seine ganz eigene Bedeutung verleiht: anzugehen gegen die moralische Benommenheit, die den vom Albtraum des verbrecherischen Treibens Befreiten ins Licht taumeln lässt und den eigenen Anteil daran, das berühmte Mitmachen auf allen Ebenen, dadurch verwischt, dass sie die Überkomplexität des Geschehens in ein ›Das war alles ganz anders‹ umdeutet.
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Man kann das Nebeneinander des nagenden Gewissens (oder auch bloß der verwirrten Eitelkeit: ›Darauf soll ich hereingefallen sein?‹) und des Vorwärts, Kameraden! so weit treiben, dass man Minister ins Amt hebt (oder darin belässt), die sich als aktive Treiber betätigt haben und sich nun als heillos überfordert dem Spott der Öffentlichkeit stellen müssen, während ihr Verweilen im Amt doch nur dem einen Zweck folgt, die Aufarbeitung zu verhindern oder so lange hinauszuzögern, bis die Verantwortlichen aller Ebenen sich aus der ›Schusslinie‹ zurückziehen und eine ›neue Existenz‹ aufbauen konnten. Man muss nicht, aber man kann – gerade darin liegt dieses befremdliche Vergessen, das nichts vergisst, vielmehr davon lebt, dass ein Kollektiv nicht vergessen kann, solange die Geopferten ›unter uns‹ leben, ebenso wie die Täter übrigens, deren Markierung so unendlich schwer fällt, weil man mit ihren Motiven konform ging, so weit und so lange es eben ging. Solange ›der‹ Täter einer von uns ist, bedeutet die Parole ›Wider das Vergessen‹: Schüttelt die moralische Benommenheit ab, in deren Schutz die Verantwortlichen sich aus der Verantwortung stehlen! Aber um das zu verstehen, muss man den Bann bereits kennengelernt haben. Man muss in ihm stehen oder, als beteiligter Beobachter, gestanden haben. Wir, die Nachgeborenen, haben nichts verstanden.
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Kann Wissenschaft Täter sein? Die einfache Tatsache ist: Wissenschaft steht nie vor Gericht. Jeder Wissenschaftler, der irgendwann vor einem Untersuchungsausschuss oder vor den Gerichten landet, ist per se ein Abtrünniger, ein Betrüger, falls er nicht von jedem Verdacht der Falschhandlung freigesprochen wird. Wissenschaft schadet nicht, Wissenschaft tötet nicht, sie gibt nicht einmal Ratschläge, sie ist gar nicht beteiligt an dem, was die Menschen außerhalb ihres Zirkels so treiben. Es gibt keine wissenschaftliche Praxis außerhalb der Wissenschaft. Das sollte man wissen, wenn eine Politik sich als ›wissenschaftlich begründet‹ verkauft. Dennoch ist Wissenschaft, wie jedermann weiß, tief in die politisch-administrative Praxis verwoben. Wissenschaftler sind Menschen. Das gilt in Lambaréné genauso wie in Auschwitz. Deshalb geht der Vergleich mit den Massenvernichtungswaffen, welche die Technik bereitstellt, so sehr in die Irre. Der Mensch ist keine Waffe. Er steht dazwischen.
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Wer Massenvernichtungsmittel, seien sie atomarer, chemischer oder biologischer Art, erfindet oder herstellt, oder erfundene oder hergestellte sich verschafft und in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter… Unter den verschiedenen Mitteln, Unwillen bei den vielen Wenigen zu erzeugen, gehört dieser Satz zu den probatesten. Warum? Weil niemand diese Waffen erfindet: niemand, niemand und nochmals niemand. Zum Erfinden gehört, wie man weiß, eine Absicht und ein Motiv. Ein biologisches Etwas, das die Kapazität hat, weltweit Menschen zu töten und die Lebensverhältnisse aller auf den Kopf zu stellen, darf keine menschliche Erfindung sein, es darf auch nicht von Menschen freigesetzt worden sein, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit bei 99 Prozent liegt, glaubt man den Äußerungen von Leuten, die etwas von der Sache verstehen und sich dafür das blasierte Grinsen von Leuten einfangen, die nichts davon verstehen. Der Ursprung eines solchen Etwas wird in öffentlicher Rede verschleiert, soweit Verschleierung überhaupt gehen kann. Er ist tabu. »Und wenn schon, wo läge der Unterschied?« In diesem Satz findet sich die ganze Perfidie des falschen Vergessens. Er ist der klassische Ausdruck jener Benommenheit, in der ganze Gesellschaften, die umstandslos zusammenbrächen, würde nicht an Millionen von Arbeitsplätzen Rationalität praktiziert, sich das klare Denken verbieten. Nimm die Benommenheit von den Menschen und sie sehen sich auf beiden Seiten involviert. Das darf nicht sein, das kann nicht sein, so war es nicht.
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Das Etwas und die Furcht. Ein Etwas, dessen Herkunft mit allen Mitteln der Propaganda verschleiert wird, muss nicht willentlich eingesetzt werden. Es genügt, dass es in der Welt ist, um Furcht zu erzeugen. Dass die Rede vom ›Bösen‹ so plötzlich in den ›säkularen‹ Gesellschaften aufspringen kann, ist eine unmittelbare Folge des restituierten Tabus. Etwas ist schlimm, aber es bleibt, tabuisiert, das Ungreifbare, welches die involvierte Wissenschaft gern in die vertrauten Worte kleidet: Wir wissen noch nicht. Währenddessen werden denjenigen, die sehr wohl wissen und ihr Wissen weiterzugeben bereit sind, reihenweise Maulkörbe verpasst, sofern sie nicht, plötzlich und unerwartet, vollkommen von der Bildfläche verschwinden. Die Furcht springt auf jeden, den die öffentliche Meinung markiert, und deklariert ihn in Auge und Ohr der Menge als ›böse‹. Es ist nicht notwendig, dass die Vielen das Wort in ihren privaten Sprachgebrauch einbauen. Der Einzelne ist aufgeklärter als die soziale Puppe, in der er agiert. Die Aura des Bösen umschwebt den Feind, der plötzlich überall aufpoppt, wo gestern noch jeder, ohne sich Böses dabei zu denken, seiner beruflichen Tätigkeit nachging. Am Ende ist böse, was der Fall ist. Das ist der tiefe Fall der Kultur.
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Gleichzeitig ist die Menge sich des abgrundtief Lächerlichen ihres Verhaltens bewusst. Das wiederum erzeugt die berühmte Wut auf Andersdenkende, die von keinem Denken ausgeht, sondern von einem Nichtdenken, einem verhaltenen, einem angehaltenen Denken, dem das Bis hierher und nicht weiter eingeschrieben (oder eingetrichtert) wurde. Ein solches Denken lebt, nebenbei, in der steten Sorge, irgendwann durch ein Computerprogramm ersetzt zu werden, durchaus berechtigt übrigens, denn in gewisser Weise ist genau das bereits mit ihm passiert, nur dass es – entsprechend stimuliert – das Programm in sich selbst generiert hat. Nicht alles, was Blech redet, muss aus Blech sein. Natürlich ist auch das nicht die ganze Wahrheit, sonst fände sich nicht jene Benommenheit ein, in der sich das Elend des moralischen Bewusstseins manifestiert, soweit es eben in den Vielen existiert. Der ›Andersdenkende‹ – das zu begreifen gelingt den wenigsten – ist ein Phantasma: die ungewisse Gestalt, in welcher der Mitmensch, der das Denken noch nicht eingestellt hat, im verschwommenen Bewusstsein anlandet – seltsam unwirklich, seltsam gefährlich, seltsam verführerisch, seltsam konturlos, wenn man von der schreienden Markierung einmal absieht.
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Die Geschichte, so weit sie den Einzelnen betrifft, lässt sich einer Injektion vergleichen, deren Folgen noch niemand kennt. Sie wird verabreicht, weil etwas geschehen muss, weil unmöglich sein kann, dass nichts geschieht: die metaphysische Unmöglichkeit ballt sich unter dem Diktat des furchterregenden Etwas, das nun einmal in der Welt ist, in eine und nur eine Richtung, gleichgültig darum, was die Warner dazu vorbringen mögen. Die realiter verabreichte Spritze ist zur Metapher geworden. In ihr konzentriert sich das Versprechen des Schutzes, der Sicherheit vor dem Bösen, an deren Verhinderung nur das/der Böse selbst ein Interesse besitzen kann. So avanciert die verweigerte Spritze, wie das verweigerte Weihwasser in der Kirche, zum Lackmustest des Bösen. Wer sie ablehnt, der trägt das Mal der Verworfenheit. Er ist nicht gefährdet, er ist gerichtet. Aus ihm spricht der die das, dem unser Kampf gilt.
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Wer glaubt, damit sei der Gipfel der Verblendung erreicht, der täuscht sich. Jedes Hochgefühl geht einmal zu Ende. Der Gipfel der Verblendung wird dort erreicht, wo die enttäuschte, in gemischte Angst vor der panisch konsumierten Panazee umgeschlagene Erwartung sich eine Ersatzheimat bastelt, in der sie sich, wenn schon nicht sicher, so doch geborgen wähnt: Solange der erwähnte Minister noch im Amt ist, kann nicht alles falsch gewesen sein, und es ist meine ganz persönliche Aufgabe, der Geschichte mit meinen kruden Argumenten zur Hilfe zu eilen. Man sieht die betrogenen Betrüger ihr Garn spinnen, man fühlt sich abgestoßen (um das Mindeste zu sagen) von den zahllosen Verstößen gegen die Logik, die unwidersprochen dahingehen, man ist sich völlig im Klaren darüber, dass gewisse Herrschaften sich gerade (wie lange schon?) um Kopf und Kragen reden, inzwischen weiß man die Welt draußen vom Wahn befreit – und die bedrängte Psyche eilt den Märchenerzählern zur Hilfe und spinnt ihr eigenes Garn und gackert und kollert und wehrt nach Kräften ab, was doch, für jedermann seh-, hör- und schmeckbar, in der Luft liegt. Dieses Stadium und kein anderes ist das Stadium der tiefsten Erniedrigung, der Selbst-Erniedrigung. Es ist das Elend der vollendeten Selbsttäuschung ohne Glauben mit einem schlechten Gewissen, das sich selbst das Führungszeugnis ausstellt: Ich bin gut.
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Man muss den Mitmenschen, einmal dort angekommen, bei der Hand nehmen und kann es nicht. Man muss ihm die Last einer verkorksten Geschichte von der Schulter nehmen und kann es nicht. Man muss … Warum eigentlich? Warum muss der Perhorreszierte dem Perhorreszierer zur Hilfe eilen? Weil er der Aufgeklärte der beiden ist? Das mag sein, doch solange die Gegenseite genau das bestreitet, ist damit kein Blumentopf zu gewinnen. So verfällt er am Ende, von allen guten Geistern verlassen, auf die Botschaft der Ambivalenz: Wenn alle ein bisschen Recht behalten, sollte es möglich sein, zur gemeinsamen Abschlussfeier zusammenzufinden. Da klatschen die Toten Beifall und die für immer Lädierten, unfähig, das Tanzbein zu schwingen, summen im Takt. Wer annimmt, das sei das Ende vom Lied, der … nun, der irrt.