von Lutz Götze

Die Welt von heute scheint immer mehr Zeitgenossen unüberschaubar. Von Nachrichten und Informationen überflutet, ziehen sie sich zurück, resignieren oder reagieren panisch: Globalisierung der Handelsströme, weltweiter Klimawandel, Migration rund um den Erdball – dies alles auf einmal stürzt auf den Menschen ein und überfordert viele; häusliche Sorgen um Kinder, Krankheiten, etwaige Trennungen und Geld kommen hinzu. Psychologische Beratungsdienste, Seelsorger und Mediatoren haben alle Hände voll zu tun.

Da hilft es auch nichts, wenn Statistiker feststellen, die Deutschen lebten in einer der wenigen Demokratien, in denen es üblich ist, Konflikte im Gespräch zu lösen, solidarisch zu handeln, Kompromisse zu schließen und Toleranz gegenüber Mitmenschen zu üben: die Grundpfeiler jedes demokratischen Gemeinwesens. Dabei stimmt es: Mehr als neunzig Prozent aller Staaten dieser Erde sind autoritär oder diktatorisch verfasst, weniger als zehn Prozent dürfen sich (noch) Demokratien nennen, darunter die Bundesrepublik Deutschland. Es müsste also hierzulande alles weit besser gelingen im Zusammenleben der Menschen als anderswo.

Die überwiegende Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger aber ist konträrer Auffassung. Sie erfährt allenthalben Alleinsein, Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Verrohung der Gesellschaft, beginnend bei der Sprache: In der Diskussion um die Organspende werden Menschen als ›Ersatzteillager‹ bezeichnet, das ›ausgeweidet‹ gehörte, die ältere Generation wird pauschal als ›Umweltsau‹ bezeichnet, in sogenannten Hassmails werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit nicht zitierfähigen Ausdrücken der Fäkalsprache beleidigt, Morddrohungen gegen Politiker und andere Bürger sind an der Tagesordnung. Seit Kassel und Halle wissen wir, dass den Worten Taten folgen.

Diese Erfahrungen treffen nicht immer zu, doch sie prägen das Land täglich mehr. Dabei wird deutlich, dass die traditionellen Erklärungsschemata nicht mehr zutreffend sind: Weder ›Rechts‹ vs. ›Links‹ noch ›Konservativ‹ vs. ›Progressiv‹ oder ›Kapitalismus‹ vs. ›Sozialismus‹ passen, noch ist eine Einigung über das dem Gemeinwesen zugrundeliegende Wertesystem möglich. Die Gesellschaft bricht auseinander: Die Grenze zwischen Arm und Reich wird immer deutlicher, zwischen Einheimischen und sogenannten Fremden brechen immer tiefere Gräben auf, Rassismus und Antisemitismus sind, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, salonfähig geworden. Die extreme Rechte rüstet landesweit auf. Dies am 75. Jahrestag der Befreiung des Todeslagers Auschwitz festzustellen, ist bitter. Noch vor zehn Jahren hätte sich jeder vernünftige Mensch in diesem Lande nicht vorstellen können, dass derartiges möglich wäre.

Woran liegt das?

Es fehlt, vordergründig betrachtet, an glaubwürdigen Autoritäten, deren Reden und Handeln übereinstimmen und die daher beispielhaft und vorbildlich auftreten. Es fehlt, zum Zweiten, an Institutionen, die in ihren Programmen und Zielsetzungen den Menschen wegweisend sind: Parteien, Kirchen und andere gesellschaftliche Organisationen. Sie haben sich, über Jahre hinweg, mit sich selbst beschäftigt, sind durch Korruption und Missbrauchsfälle unglaubwürdig geworden und haben, über weite Teile, grundlegende Sorgen der Menschen um bezahlbaren Wohnraum, Sicherung des Arbeitsplatzes und finanzielle Mindestgarantie nicht ernst genommen. Nur zwei Beispiele: Die ›Hartz-Vier-Reform‹ hat die deutsche Sozialdemokratie zerrüttet, die Massenfälle von sexuellem Missbrauch Minderjähriger haben die christlichen Kirchen in ihrer Existenz bedroht. Was Wunder, dass immer mehr Menschen ihr Heil in vermeintlichen Heilslehren, Esoterik und fragwürdigen Beratern suchen!

Dies alles stimmt und beleuchtet doch nur die Oberfläche. Der Sinneswandel der Menschen auch in den demokratisch verfassten Gesellschaften ist struktureller, ja: fundamentaler Natur. Er betrifft das Wertesystem mitsamt den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das menschliche Handeln. Damit rücken Bildung und Erziehung in den Vordergrund. Sie müssen daher wieder zum zentralen Aspekt der Auseinandersetzung um die Zukunft der Gesellschaft werden, um gegenzusteuern. Dies ist gemeint im Sinne Wilhelm von Humboldts, der, gestützt auf Immanuel Kants Diktum, Aufklärung müsse den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts forderte, Schule und Universität müssten den jungen Menschen befähigen, »dass er physisch, sittlich und intellektuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden« könne. Und weiter verlangt er, dass die Schule »nur auf harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten in ihren Zöglingen sinnen (muss); nur seine Kraft in einer möglichst geringen Anzahl von Gegenständen an, so viel möglich, allen Seiten üben, und alle Kenntnisse dem Gemüth nur so einpflanzen (muss), dass das Verstehen, Wissen und geistige Schaffen nicht durch äußere Umstände, sondern durch innere Präcision, Harmonie und Schönheit Reiz gewinnt«.

Von diesem Ziel sind Schule und Hochschule heute meilenweit entfernt, genauer: Sie sind keine Stätten der umfassenden humanistischen Bildung, sondern solche der Ausbildung, genauer: der Einpassung in Wirtschaftsabläufe, Verwaltungsrichtlinien und Produktionsprozesse, geworden. Entsprechend werden, Zug um Zug, künstlerische Fächer und Geisteswissenschaften mit der Begründung geschleift, sie könnten ihren ›gesellschaftlichen Mehrwert‹ nicht belegen. An ihre Stelle treten, auf breiter Front und als Allheilmittel, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, die bis heute in keiner Weise nachgewiesen haben, dass sie Entscheidendes zur Entwicklung einer kritischen und umfassend gebildeten Persönlichkeit beitragen, vielmehr den Vernunftbegriff im Sinne Kants trivialisiert und primitiviert haben. Hatte der Königsberger noch entschieden zwischen Verstand und Vernunft unterschieden und dem Verstand die Bildung von Begriffen und ihre, unter Berücksichtigung der Anschauungen und Erfahrungen, Verknüpfung zu Urteilen zugewiesen, so fasse die Vernunft hingegen Ideen und Begriffe zusammen und befähige, unter Einbeziehung sittlicher Normen (Sittengesetz, kategorischer Imperativ), den Menschen zu umfassendem praktischen Handeln. Die Vernunft ist somit als ›Vermögen der Prinzipien‹ das höchste geistige Vermögen der Menschen.

Die ›Frankfurter Schule‹ hatte daran bereits Abstriche vorgenommen: Ausgehend von den Erfahrungen der Verbrechen des Nazireichs und während des Zweiten Weltkriegs hatte Max Horkheimer 1967 der Menschheit vorausgesagt, sie sei allenfalls noch zu einer instrumentellen Vernunft in der Lage, lediglich geeignet, Menschen, Maschinen und Natur zu beherrschen, bis sie – die Menschheit – dereinst selbst von Maschinen gelenkt würde. Horkheimer hatte geschrieben: »Die Begriffe werden auf Zusammenfassungen von Merkmalen reduziert, die mehrere Exemplare gemeinsam haben … Begriffe sind zu widerstandslosen, rationalisierenden, arbeitssparenden Mitteln geworden … [Das] Denken selbst ist auf das Niveau industrieller Prozesse reduziert worden … kurz, zu einem festen Bestandteil der Produktion gemacht.«

Diese Perspektive bewahrheitet sich heute mehr und mehr. Es wird rund um den Globus daran gearbeitet, den Menschen durch die Maschine zu ersetzen und Computer zu bauen, die das menschliche Hirn an Leistung überträfen.

Jürgen Habermas hatte, Jahre später, eine Ehrenrettung der Vernunft versucht, indem er den herrschaftsfreien Diskurs zum eigentlichen Kern einer Vernunft-Theorie machte: Im Gespräch und im Austausch unterschiedlicher Positionen werde Verstehen möglich. Die kommunikative Vernunft sei ein anzustrebendes Ziel. Die Hoffnung erweist sich freilich heute immer häufiger als Trugschluss.

Versagen der Wissenschaften

Mit der Verwechselung von Verstand und Vernunft einher geht ein weit verbreitetes Misstrauen der Gesellschaft gegenüber den Wissenschaften, Geistes-und Naturwissenschaften gleichermaßen. Gelegentlich wird dieses Phänomen als Wissenschaftsphobie apostrophiert. Die Ursachen sind vorderhand leicht erkennbar: Wer sich mit Theorien oder auch Forschungsergebnissen der Wissenschaften beschäftigt, braucht Zeit und muss sich mühen. Das passt nicht in eine Epoche, die auf schnellen Erfolg und geldwerte Vorteile in möglichst kurzer Zeit sinnt. Das passt auch nicht zu einer nachwachsenden Generation, denen genau diese Erkenntnis der Mühsal allen wissenschaftlichen Strebens abtrainiert wird. Albert Einsteins Wort wird nicht mehr akzeptiert: »Es gibt für jedes komplizierte Problem eine einfache Lösung: Und die ist falsch!«

Hinzu kommt die weit verbreitete Verwechselung von Daten/ Informationen einerseits und Wissen andererseits. Wer sich im Netz Informationen beschafft, erwirbt kein Wissen, sondern sammelt Daten. Nichts sonst. Wer immer diese Daten beschafft hat und wie das geschehen ist, vor allem aber, wer welches Interesse an der Verbreitung dieser Daten hat, wird nicht erfragt oder gar erforscht. So können aus puren Meinungen und Ansichten die Grundlagen für Urteile entstehen, die vermeintlich wissenschaftlich gesichert sind. Sie sind freilich nichts als Meinungen, die Vorurteile des Benutzers bestätigen und bekräftigen. Derart bewaffnet, ziehen die ›wissenden‹ Menschen in die Debatten und machen andere, möglicherweise evaluierte, Überzeugungen nieder: anfangs verbal, zunehmend auch gewalttätig.

Die zunehmende Radikalisierung dieses Vorgangs zeigt sich beispielhaft in der Klimadebatte: Es liegen inzwischen Hunderte von wissenschaftlichen Untersuchungen über den Klimawandel vor, die beweisen, dass er von Menschen verursacht ist. Tenor dieser Forschungen ist, dass der zunehmende Ausstoß von Treibhausgas die Abstrahlung von Wärme in das All beeinträchtige und dadurch die Erde unentwegt mehr Sonnenenergie aufnehme als sie durch Wärmestrahlung wieder emittiere. Ergebnis: Es wird global wärmer. Derzeit geschieht es brutal und für alle erkennbar in Australien; Europa und Nordamerika werden einen heißen Sommer 2020 erleben wie nie zuvor. Schon jetzt ist es selbst am Alpenrand für jeden erkennbar: Schnee im Januar? Fehlanzeige! Zugefrorener Ammersee oder Starnberger See? Mitnichten. Dafür kilometerweise Maulwurfshügel wie früher im April!

Freilich ficht das die Klimawandelleugner samt ihren Interessenvertretern in Automobilkreisen oder Rechtsparteien nicht an. Sie werfen den Wissenschaften und Bürgern ›Klimahysterie‹ vor, setzen weiter auf fossile Energien und verhindern mit Taschenspielertricks den Ausbau der Windenergie, so Wirtschaftsminister Altmeyer. Sein Kabinettskollege Scheuer sperrt sich, wider besseres Wissen und trotz wachsender Unfallzahlen wegen Raserei, gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen und wird damit zum Lakaien der Automobilindustrie. Sie alle folgen der Parole: Ich glaube nicht, was ich (eigentlich) weiß. Ich habe Recht!

Doch die Wissenschaften sind zu einem gerüttelt Maß selbst Schuld an dem Misstrauen, das ihnen die Bevölkerung entgegenbringt. Sie haben sich über Jahrzehnte hinweg mit vermeintlichen Forschungen beschäftigt und dafür Unsummen Geldes von Wirtschaft und Staat erhalten – Forschungen also, die die Bevölkerung entweder nicht interessierten oder nicht verstanden wurden. Ein Beispiel sind die hochtrabenden Ankündigungen der Hirnforschung, sie werde mit den neuen bildgebenden Verfahren nicht nur schwere Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder Epilepsie bekämpfen , sondern auch zentrale menschliche Kategorien wie Bewusstsein, Gedächtnis und Erkenntnis erklären können; ein weiteres Beispiel ist die Genderforschung, die nicht einmal Minderheiten in der Bevölkerung interessiert, aber Millionen von Fördergeldern einkassiert. In den Natur-und Technikwissenschaften sind es Projekte zur weiteren Förderung fossiler Brennstoffe in Industrie, Haushalt und Verkehr sowie zur Manipulation von Abgaswerten, obendrein Projekte zur Entwicklung vermeintlich sauberer Waffensysteme. Die Liste ist lang. Was Wunder, dass die Bevölkerung den Wissenschaften in wachsendem Maße misstraut! Die Arbeit an einem Ehrenkodex wissenschaftlicher Forschung kommt, wenn überhaupt, nur mühselig voran.

Normenkritik und ›subjektive Wahrheit‹

Wohin die Perversion einer einstmals gut gemeinten Idee führen kann, zeigt die wachsende Neigung, herrschende Normen des gesellschaftlichen Lebens zu kritisieren und durch eigene, im Kern vollkommen egoistische, Normen zu ersetzen. Hatten die 68-er noch zu Recht gefordert, die Position von Arbeitnehmern im Beruf zu stärken oder Kinder und Jugendliche zu ermutigen, ihre Rechte zu formulieren und, im Dialog mit der älteren Generation, durchzusetzen, so ist heute daraus ein nahezu hemmungsloses Streben der Jungen geworden, ihre egoistischen Ziele durchzusetzen. Unterstützt werden sie dabei von einer immer schwächer werdenden Elternschaft, zumal der Mütter, die ihre Sprösslinge grundsätzlich für genial halten und sie ermutigen, rücksichtslos gegen die Konkurrenz in Schule und Beruf zu agieren. Sind dann die Noten etwa in der Schule doch nicht so berauschend, sind natürlich die Lehrer schuld, auf die Druck ausgeübt wird. Rechtsanwaltskanzleien verdienen prächtig daran. Aus Angst vor den kleinen Monstern wird daher im Regelfall nur Lob verteilt: Das spart Zeit, Stress und Kritik vonseiten des Direktors oder Ministeriums, die messbare Erfolge sehen wollen. Umfassende humboldtsche Bildung und Wissen bleiben auf der Strecke.

Besonders deutlich ist dieser Verfallsprozess derzeit in Schweden zu beobachten. Das Land, in der Vergangenheit gerühmt wegen seiner sozialen Gerechtigkeit und Demokratiefähigkeit, ist verkommen zur Liebedienerei gegenüber Minderheiten oder Partikularinteressen. Schlechte Noten gibt es grundsätzlich nicht; bereits ein ›Gut‹ in der Prüfung an Hochschulen muss eingehend begründet werden, weshalb die Professoren, auch aus Lethargie, nur die allfälligen Bestnoten vergeben. Der allgemein anerkannte Feind ist der ›alte, weiße Mann‹: Seine Homophobie, so die Vorreiterin der Queer Theory Eve Kosofsky Sedgwick, müsse überwunden werden, dann werde alles gut.

Freilich ist diese Art einer Normkritik pure Heuchelei: Es geht eben nicht darum, rückwärtsgewandte und undemokratische Praktiken zu überwinden, sondern um deren Ersetzung durch die Diktatur des Ego. Dies geschieht in einem Dreischritt: Ich kritisiere eine bestehende Norm (1). An ihre Stelle rücke ich meine eigene (2). Diese neue Norm darf nicht kritisiert werden (3). Ergebnis: Eine Gesellschaft bricht auseinander.

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt, seit Monaten, ein erfreuliches Umdenken in Teilen der jungen Generation. Viele von ihnen haben begriffen, dass diese Welt, in die sie hineinwachsen, schon in sehr naher Zukunft kaum noch Luft zum Atmen lässt: in des Wortes unmittelbarer Bedeutung. Sie organisieren sich, formulieren ihre Forderungen und machen den etablierten Parteien und Interessenverbänden Druck. Das zeigt bereits Wirkung, etwa in der Klimadebatte. Doch die Gefahr besteht, dass der neu entdeckten Solidarität mit Anderen und der Erde die Luft ausgeht: in des Wortes doppelter Bedeutung. Darauf warten die Amtsinhaber und die Realitätsverweigerer, vor allem aber die Wahrheitsleugner. Das sind jene, die Wahrheit relativieren und auf dem Recht bestehen, eine eigene Wahrheit zu haben und zu verbreiten: die ›subjektive‹ Wahrheit. Dabei geht es um den fundamentalen Unterschied zwischen Wahrheit und Meinung. Hannah Arendt hatte die Dichotomie in ihrem Essay Wahrheit und Politik so gefasst: Wahrheit beanspruche allgemeine und absolute Gültigkeit, basiere auf belegbaren und hinterfragbaren Tatsachen und Fakten und sei überindividuell gültig. So etwa die ›Erklärung der Menschenrechte‹, ebenso naturwissenschaftliche Fakten. Einen Plural gebe es nicht.

Meinungen hingegen seien wandelbar, wissenschaftlich nicht abgesichert und zwischen Individuen und Gesellschaften aushandelbar. Ihr Wesen sei das Pluralische, doch seien sie insgesamt einem Wertesystem verpflichtet, etwa der Menschenrechtserklärung, und deshalb nie gleichwertig. Wer heute den Holocaust leugne, äußere eine Meinung, die aber nicht wahr sei.

Es ist ein immer deutlicher werdendes Phänomen, dass dieser fundamentale Unterschied geleugnet oder zumindest relativiert wird: Die Protagonisten einer ›subjektiven‹ Wahrheit polemisieren gegen ein ›Wahrheitsregime‹ der Öffentlich-Rechtlichen Medien; in den unsozialen Netzwerken werden Rundfunkanstalten und Qualitätszeitungen als ›Lügenpresse‹“ diffamiert, seriöse erkenntnis-und damit wahrheitsorientierte Forschung wird als interessegeleitete Fälschung abgetan. Dagegen wird die eigene Meinung als ›Wahrheit‹ deklariert, häufig unter Zuhilfenahme von Fälschungen im Netz, so zuletzt in China, wo Bilder den Bau eines Anti-Coronavirus-Krankenhauses binnen zweier Wochen suggerierten, bis die Lügner-­Produzenten eingestehen mussten, dass es sich um ein Modell in einem Werbeprospekt, Monate zurück, handele. Auf diese Weise wird ein ›Wahrheitsregime‹ errichtet, das Nachfolger millionenfach in den Netzen verbreiten, weil sie daran glauben wollen. Aus einer Wahrheit wird dergestalt ein ›Narrativ‹, mithin eine Erzählung, die Glaubwürdigkeit beansprucht. Jeder und Jede hat dann sein oder ihr Narrativ, also seine oder ihre Meinung. Nichts mehr. Nicht nur die hasserfüllten Auseinandersetzungen in den Netzen bezeugen das; auch die öffentlichen Diskurse, zumal in der Politik, sind davon geprägt. Weltsicht und Eigensicht prallen aufeinander, die Eigensicht trägt immer häufiger den Sieg davon.

Ein Vorschlag

»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«, forderte Ingeborg Bachmann in ihrer berühmten Rede bei Entgegennahme des Hörspielpreises der Kriegsblinden. »Die Wahrheit ist unbarmherzig«, warnte hingegen Albert Camus. Eine Meinung zu haben ist leicht, sie ist wandelbar und mehrheitsfähig. Meinungen begründen Anpassungsbereitschaft, je nachdem, wohin die Menge zieht. Im Grunde handelt es sich, mit Kurt Tucholsky, um eine ›Deinung‹ oder eine ›Seinung‹. Das Wegschauen bei Verbrechen ist die Folge. Die Erinnerung, gerade am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, beweist das.

Die Wahrheit aussprechen hingegen macht einsam, schafft Feinde. Sie braucht innere Stärke und Willen zum Widerstand.