von Ulrich Schödlbauer
Wann immer dem kritisch gestimmten Deutschen die Richtung nicht passt, schmäht er ›die Deutschen‹. Man kennt sich aus, man hält sich raus. Stichwort ›deutsche Hysterie‹ – die üblichen Medien leisten ihr ideologisches Übersoll und ›die Deutschen‹ kriegen sich angeblich vor ›German angst‹ und Ähnlichem nicht mehr ein. In diese Schublade gehört auch das Stereotyp vom obrigkeitshörigen Deutschen, fest etabliert als Teil linker Historiker-Klagen über das Ausbleiben der ›richtigen‹ deutschen Revolution. Nicht dass es den Typus nicht gäbe – keine falschen Hoffnungen! –, aber das erklärt weder den Verfall der westlichen Wertegemeinschaft noch die weltweit beobachtete Arg- und Hilflosigkeit der Massen angesichts des Covid-Debakels und ihr seit Jahrzehnten anschwellendes, mediengeschürtes Warten auf Klima-Godot. Merke: Wenn die Erklärungen schwächeln, springt der Deutsche gern ein. Er ist der Übeltäter vom Fach.
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Medien versus Antimedien: Bemerkenswert einig sind sich die feindlichen Zwillinge im Abrufen der deutschen Schuld. Da passt kein Blatt dazwischen – sie würden es einträchtig in der Luft zerreißen, falls es denn hereingeschwebt käme. In Zwietracht vereint (wie die Deutschen seit eh und je): Die einen legen vor, die andern liefern das Fehlende nach. So entsteht aus allerlei Puzzlesteinen ein Bild medialer Wirklichkeit, das sich von der vor dem Fenster wesentlich unterscheidet. Erstaunlicherweise soll es noch Leute geben, denen ihr Leib-und-Magen-Blatt (oder die Leib-und-Magen-Sendung) vollauf genügt. Das sind Menschen, die den vorgegebenen Ordnungsrahmen benötigen, um sich zurechtzufinden, und Entscheidung durch Unterlassung praktizieren. Sie unterlassen es sich zu informieren und halten das, was sie sich damit einfangen, für zuverlässige Information.
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Dass die Westdeutschen, glaubt man den Umfragen, sich rein zahlenmäßig im politischen Klima dieser Tage besser aufgehoben (und repräsentiert) fühlen, liegt weder an ihrer deutscheren Mentalität (vor ein paar Jahren las man’s anders) noch an der größeren Aufgewecktheit der östlichen Brüder und Schwestern. Die Exzesse der Schamgesellschaft werden verständlicherweise dort am ehesten akzeptiert, wo sie den längsten Vorlauf besitzen. An der Cancel Culture ist nur das Wort neu. Auch hat das Spektrum gewechselt, aus dem sie sich ihre Opfer holt. Medien sind Privateigentum und wechseln von Zeit zu Zeit den Besitzer. Und staatliche Förderung … fördert Loyalitäten. Wo das nicht reicht, winken verschärfte Rechtsbestimmungen. Sie sind der Zaunpfahl, mit dem Regierungen für Ruhe im Land sorgen.
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Als der Heidelberger Philosoph Dieter Henrich, einer der subtilsten Köpfe der Republik, während der turbulenten Jahre einmal mehr den schüchternen Versuch wagte, die Identität der Deutschen aus ihrer verqueren Geschichte herzuleiten, da war das Wochenblatt des gemeinen Deutschlehrers zur Stelle und verzierte den frisch erschienenen Suhrkamp-Titel umgehend mit einem braunen Schwänzchen. Der Initiator des Verrisses konnte darauf bauen, dass der zarte Intellektuelle und seine Gesinnungskollegen im Lande den ihren schon einziehen würden. Härter fasste die Front der Einheitsnörgler den eher weltfremden, in den einschlägigen Kreisen bis dahin wohlgelittenen Philosophiehistoriker Manfred Riedel an, der eine deutsch-deutsche Biographie vorzuweisen hatte und seine aufsteigenden Erinnerungen an den entschwindenden sozialistischen Einheitsstaat weder zurückhalten konnte noch wollte: Er wurde gecancelt wie nur irgend eines der heutigen Medienlichter. Das sind bloß zwei Geschichten von vielen.
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Woran liegt’s, dass sich nur Einzelne verschwommen daran erinnern? Vor allem daran, dass in den analogen Zeiten nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Mitmenschen informiert genug war, um sich im Einzelfall ein profundes Urteil darüber zu erlauben, was vorgeht – falls es denn überhaupt zu ihrer Kenntnis gelangte. Mit dem Strom gelangt man schneller ans Ziel (oder rauscht an ihm vorbei). Seither hat das Netz samt den mit ihm erblühten Möglichkeiten horizontaler Kommunikation dafür gesorgt, dass die mediale Einheitsdecke gelüpft werden konnte und gleichzeitig eine neue Klasse in ihrer Rede- und Schreibfreiheit Bedrohter geschaffen: Vorwitz muss schließlich bestraft werden. ›Darf man das?‹ – in dieser Frage erkennt sich der Beschützer/Benützer des Internet. Die Kette möglicher Verfehlungen ist lang und täglich wird sie länger. Man geht umso mehr ins Detail, je mehr man sich bedroht fühlt.
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Man hat Covid-19 samt Kritikern unter den Teppich gekehrt, also dorthin, wo mittlerweile neben anderem auch Nord Stream 2 Platz finden muss – eng geworden ist es dort unten und das Personal muss aufpassen, wohin es tritt. Auch weiß niemand, ob das, was unter dem Teppich liegt, wirklich solider Grund ist. Bei meinem ersten Besuch in Paris Anfang der Siebziger frappierte mich vor allem das Loch im Fußboden, das durch den roten Hotelteppich abgedeckt wurde. Ein solches Loch hat die Pariser Regierung, abgenickt durchs Parlament, mit ihrem Gesetz gegen Konsensstörung soeben in den solide scheinenden Boden der französischen raison gebohrt. Doch zurück nach Berlin: Hält der Teppich oder hält er nicht – das ist die bange Frage, die das Hotel Deutschland seinen Besuchern aufs Auge drückt. Im Covid-Fall, davon kann man ausgehen, wird er Stückchen für Stückchen beiseite gezogen werden. Dafür sorgt schon das schiere Ausmaß der Sache. Merke: Eine Gesellschaft kann in Depression verfallen, aber sie arbeitet sich zuverlässig auch wieder heraus. Hier gilt der Satz Alles ist Anfang.
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Die Familie als Mentalitätsgeber musste zerstört werden. Das Jahrhundert der Propaganda ließ nichts anderes zu. Inzwischen kämpft man an anderen Fronten. Stolz auf die Herkunft hält sich nur dort, wo Widerstandslegenden blühen – damit ist sie Teil der allgemeinen Geschichte, die von den Medien geschrieben wird. (Eine Ausnahme bilden die Weinkellereien, die noch auf unterirdische Reservate zurückgreifen können). Die Familie schlägt bloß insofern zurück, als sie fehlt. Hinterlassen hat sie einen Phantomschmerz, der nicht weggehen will und die Neigung zur Autoaggression verstärkt, die sich in jeder Gesellschaft findet. Das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, das dergleichen durch freie Geschlechtswahl heilen soll (jedenfalls könnte das eine seiner Aufgaben sein), liegt ganz auf dieser Linie. Es fördert die Dissoziation dessen, was die Linke einmal das gesellschaftliche Bewusstsein nannte und was man heute vielleicht als sozialen ›Zusammenhalt‹ bezeichnen würde – ein magisches Wort, da keiner weiß, was ihn bewirkt, während jeder es zu wissen glaubt. Es sind Freunde der Freiheit, die dieses Gesetz vehement ablehnen. Paradox, aber einleuchtend.
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Verstünden die Menschen den medialen Wandel, von dem sie (das heißt, ihre Gefühle, Empfindungen, Einfälle, Überzeugungen, Loyalitäten) doch nur ein Teil sind, so wären sie weniger ängstlich, aber auch weniger zuversichtlich. Sie würden den Satz besser verstehen, der da besagt: Die Welt erschafft sich jeden Tag neu. Dass sie ihn nicht verstehen können, gerade weil sie nur ein Teil sind, verschafft ihnen dieses sklavische Bewusstsein, in dem hin und wieder der Gedanke aufblitzt, sie könnten an Selbstverklavung leiden. Der mediale Mensch (der sich früher Zivilisationsmensch nannte) verlangt nach Erlösung wie der Alkoholiker nach der Flasche: wissend, dass sie keins seiner Probleme lösen wird, ohne dass der Drang sich dadurch minderte. Das erklärt den Esoteriker-Anteil unter den Gebildeten: Sie lehnen den Hype ab, zu dem ihre klickende Hand sich bekennt.
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Es war der Typus der (west-)europäischen Familie, welcher der Frau die einzigartige Position verschaffte, aus der heraus Emanzipation möglich wurde. Nun ist sie zerstört und die Folgen werden in bestimmten Regionen der Gesellschaft bereits spürbar. Merke: Jede gesellschaftliche Bewegung landet irgendwann bei den Antipoden. Das ist kein Gesetz, aber es entspricht der Erfahrung eines langen Lebens. Goethe wusste davon, jetzt ist es an uns, den Schleier zu zerreißen und das Jenseits der Loyalitäten zu erkunden. Bei einzelnen Regionen wird es nicht bleiben: Dafür sorgen bereits die ausbleibenden Geburten und die dadurch ausgelösten demografischen Verschiebungen. L'Europe n'existe plus. Die Deutschen, gewohnt, immer nur auf den eigenen Nabel zu schauen, verpassen mit ihrer Selbstobsession das Beste: Die Neudefinition Europas vollzieht sich außerhalb seiner selbst. Gierig saugt es ein, was es bekommen kann, und nennt es sein Kapital. Wie hätte Marx gelacht!
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Souverän ist, wer den politischen Gegner wegsperren kann. Das demokratische Volk kann es nicht. Wer also ist hier der Souverän? Aber vielleicht sollte man besser fragen: Woher der plötzliche Drang, den Gegner wegsperren (oder auf irgendeine Weise aus der Sphäre der Wirksamkeit verbannen) zu wollen? Wer nach Antworten sucht, sollte in die Archive gehen. Tendenzen wie diese haben einen langen Vorlauf. Plötzlich erweisen sich Biographien als wichtig, die vordem nur ein müdes Gähnen hervorriefen, da sie so üblich erschienen. Es ist leicht, als junger Mensch in die Fänge eliminatorischer Ideologien zu geraten. Ihren Pferdefuß zeigen sie erst lange nachdem sich die reife Person davon distanziert hat – im Instrumentarium des Machtwillens, der einer ›Vision‹ folgt, woher sie auch kommen mag. So nährt die verjährte Verblendung die aktuelle, während alle Welt versichert, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun.
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Ja, es gibt sie, die Trauer um den verlorenen Staat DDR. Sie ist in die Gene der Tüchtigen eingeschrieben, von denen es hierzulande immer einen leichten Überschuss gab. Genügend wofür? Genügend, um Ungenügen angesichts eines Landes zu empfinden, in dem die Freiheit des Anderen die Grenzen der Tüchtigkeit vorzeichnet: Was wäre nicht zu verbessern, würden die Taugenichte aus Politik und Medien nicht alles vermasseln? Der Satz repräsentiert sozusagen die innere DDR der Deutschen, gleichgültig, ob eine Ost- oder eine Westbiografie dahintersteckt. Die DDR, das wusste jeder, war ein Gesellschaftsprojekt, das seine Legitimität aus der Weltverbesserung zog. Als solches konnte es nur scheitern. Die gelernte ›DDR-Wissenschaftlerin‹ hatte nichts Besseres zu tun als das wiedergewonnene Land der Deutschen erneut in ein Vorzeigeprojekt zu verwandeln. Doch alles, was es vorweisen konnte, war die ererbte enorme Wirtschaftskraft einer Teilnation, deren sozialdemokratischer Kanzler, auch er der Tüchtigen einer, allen Visionären empfohlen hatte, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Die im Osten wissen Bescheid, die im Westen wollen es wissen. That’s all.
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›Deutsch-deutsch‹ – so nannte man seinerzeit, ganz offiziell, Biografien oder, ganz allgemein, Angelegenheiten, welche die innerdeutsche Grenze überspannten. In diesem Sinne könnte man heute wieder, ganz allgemein, die anstehenden Probleme des Landes, von der Energie- über die Geburten- und Migrationskrise bis hin zur allumfassenden Klimakrise, nicht zu reden von der Krise der auswärtigen Beziehungen, deutsch-deutsch nennen, um den stacheldrahtbewehrten Umgang der Deutschen miteinander ins rechte Licht zu rücken. Die innere Einheit wurde verspielt … was so vermutlich nicht richtig ist: Sie wurde offenen Auges zerstört. Warum? Um eines temporären Vorteils willen, der eher einem Fetisch ähnelt: der gesteigerten Handlungsfähigkeit einer Regierung angesichts der sogenannten Herausforderungen der Postmoderne, deren Ende bekanntlich nicht abzusehen ist. Was als Shock-and-Awe-Strategie des amerikanischen Hegemons zu Beginn des neuen Jahrtausends die Welt beunruhigte und in den Aufzeichnungen des WEF-Direktors als pandemiebedingte Chance aufblitzte, hier nahm Gestalt an, was für immer in die Vorgeschichte der Posthistoire verbannt schien … Spötter mögen dafür die richtigen Wörter finden, dem braven Bürger werden sie par ordre du mufti verwehrt.
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Die Professoren, bei denen ich studierte, haben es großenteils mit Arroganz quittiert. Das war damals kein Einzelfall, es wäre, nehme ich an, auch heute eher die Regel. Den Grund vermute ich darin, dass sie das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis für sich beanspruchten, ohne dass die mentalen Voraussetzungen dafür noch gegeben waren. Ich lernte bei ihnen, was es zu lernen gab, aber sie waren nicht meine Lehrer. Was zu sein sie vorgaben, war eine Maske, unter der die Ehr- und Ichsucht ihre Triumphe feierten, hinter denen wiederum der ängstliche Konformismus lauerte, das bange Darf-man-das? Nein, man darf es nicht. Man durfte es damals nicht und heute erst recht nicht. Die Rede ist vom Denken auf eigene Rechnung. Kaum stellt einer seine eigenen Berechnungen an, werden ihm Rechnungen präsentiert, ohne dass der Dienstleister dahinter sichtbar würde, es sei denn, man bemüht, statt des Großen Urhebers, die Gesellschaft, das alte Chamäleon, das, obzwar ungreifbar, für alles verantwortlich gemacht werden darf. Wer heute ›die Gesellschaft‹ oder ›die Deutschen‹ sagt, beweist damit wenig mehr als träges Denken. Immerhin: Er beweist seine Unschuld.