von Herbert Ammon

Die Kommentare zu den Gewaltszenen, die sich in Reaktion auf den durch einen weißen Polizisten zu Tode gebrachten Afroamerikaner George Floyd in zahllosen amerikanischen Städten abspielten, bleiben weithin vordergründig. In den deutschen Medien herrscht vor allem Empörung über Donald Trump, der vor der traditionsreichen St. John’s Episcopal Church unweit des Weißen Hauses mit einer hochgehaltenen Bibel posierte, um im Hinblick auf die Wahlen im November seiner Anhängerschaft unter den weißen Evangelikalen zu imponieren.

1.

In einem Bericht dazu hieß es, das von radikalen Demonstranten im Untergeschoss der Kirche gelegte Feuer sei schnell gelöscht worden und habe nur geringen Schaden angerichtet. Die schändliche Tat als solche blieb unkommentiert. Zu erfahren war immerhin, dass in Los Angeles jüdische Einrichtungen mit antiisraelischen Parolen beschmiert wurden. Hier waren offenbar entweder israelfeindliche Araber oder ›linke‹ Aktivisten aus dem Umfeld der ›Antifa‹ am Werk. Darüber hinaus waren nur in den social media Bilder von Protesten in Salt Lake City im Mormonenstaat Utah zu sehen, bei denen Demonstranten, jugendliche Latinos, mit mexikanischen Fahnen auftraten.

Dass derlei Phänomene auf tiefe Spaltungen in der amerikanischen Gesellschaft verweisen, wird in der Berichterstattung wiederholt betont, ohne dass die tieferen Ursachen ausgelotet werden. Die Analysen – oft im Tenor der Kampagne Black Lives Matter – zielen in erster Linie auf die Polizeigewalt, der – laut einer von der Washington Post ermittelten Statistik (https://de.statista.com/infografik/5487/toedliche-polizeigewalt-in-den-usa/) – zweieinhalb mal so viele schwarze wie weiße Amerikaner zum Opfer fallen, sodann auf den ihr maßgeblich zugrundeliegenden, nie überwundenen Rassismus der weißen, derzeit noch die Mehrheit bildenden Bevölkerung der USA. Nur am Rande erwähnt wird dabei etwa hinsichtlich der brutalen, tödlich endenden Polizeiaktion in Minneapolis – in Parenthese: die Anklage lautet auf ›Totschlag‹ (second and third degree murder), unsere Bundeskanzlerin spricht von »Mord« –, dass zwei der vier Polizisten nichtweißer Herkunft waren. (Details dazu findet man im Internet: https://www.startribune.com/two-fired-minneapolis-police-officers-charged-in-george-floyd-death-cast-blame-on-derek-chauvin/571009922/.) Zur Erhellung der über ›weißen Rassismus‹ hinausweisenden Gesamtproblematik könnte auch die Erinnerung an die blutigen riots dienen, die sich anno 1992 in Los Angeles nach dem Freispruch von wegen exzessiver Gewaltanwendung gegen den schwarzen Bauarbeiter Rodney King (https://en.wikipedia.org/wiki/Rodney_King#Death) angeklagten Polizisten entzündeten und 50 Todesopfer forderten. Damals richtete sich die aus der black community hervorbrechende Gewalt vor allem gegen erfolgreiche koreanische Einwanderer.

2.

Von der Berichterstattung in den deutschen Zeitungen hebt sich die Neue Zürcher Zeitung in zwei im Tenor konträren Beiträgen ab. Der Deutsch-Amerikaner Hans Ulrich Gumbrecht, emeritierter Literaturwissenschaftler an der Stanford University, wendet sich gegen die wohlfeile »antirassistische« Haltung in den europäischen Medien. Vielmehr gehe es um die Frage nach den tieferen Ursachen für den »wirklichen, weitgehend unsichtbaren, also ›systemischen‹ Rassismus, wie er sich gegen den politischen Willen der Amerikaner [!] durchsetzt«, und darum, »endlich wirksame Strategien« dagegen zu entwickeln.

Gumbrechts Argumentation folgt dem geläufigen historischen Muster: Der »systemische« Rassismus gründe in den nach Abschaffung der Sklaverei gegen Ende des Bürgerkriegs (1865) entwickelten neuen Formen von Unterwerfung und Diskriminierung wie des convict-leasing (Vermietung von Strafgefangenen) und der ›Jim Crow‹-Gesetze in den Südstaaten. In der Psychologie der Weißen existiere noch immer die in der Sklaverei verwurzelte Vorstellung von der »animalischen« Natur der Schwarzen, einschließlich der erotischen Verfügbarkeit der schwarzen Frauen. Gumbrecht schließt damit implizit an die These an, die spezifisch instabilen Familienverhältnisse unter Schwarzen seien wesentlich die Spätfolge der unleugbar auch von sexueller Gewalt geprägten Ära der Sklaverei.

Warum aber haben die von der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren errungene Gleichberechtigung sowie die antirassistischen Bildungsprogramme an der desolaten Lage der schwarzen Bevölkerung wenig geändert? Die Erklärung findet Gumbrecht im nach wie vor unzureichenden öffentlichen Bildungssystem sowie insbesondere in dem 1970 von Präsident Nixon eröffneten war on drugs. Seither habe sich die Zahl der in amerikanischen Gefängnissen einsitzenden Strafgefangenen, in der Mehrzahl wiederum Schwarze, versechsfacht. In der Tat liegen die USA (Gesamtbevölkerung 330 Mio. E.) mit über 2 Millionen Gefängnisinsassen prozentual weltweit an der Spitze. 40 Prozent davon sind Afroamerikaner.

Das Argument, Armut, schlechte Schulen, Drogen, Drogendelikte und Strafverfolgung begründeten einen Teufelskreis, ist nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl reicht es zur Erklärung der statistisch deutlich höheren Kriminalitätsrate unter den ›einheimischen‹ amerikanischen Schwarzen nicht aus. Die Biographie des in Minneapolis getöteten Floyd bietet ein schillerndes Beispiel. Gumbrecht selbst hält folgendes fest: »Zum Beispiel ist die Gefahr, dass die Konfrontation mit einem afroamerikanischen Mann in Gewalt umschlägt, signifikant hoch – und mag in bestimmten sozialen Milieus, die man früher Ghettos nannte, sogar zum männlichen Selbstbild gehören, weil manche schwarze Männer dort das Stereotyp verinnerlicht haben. Zugleich neigt sich die Chance afroamerikanischer Männer aus solcher Umgebung, als Vorbestrafte je zu einem Leben ohne Konflikte zurückzukehren, gegen null.«

Ein plausibles Lösungskonzept (»endlich wirksame Strategien«) zur Behebung der Misere weiß Gumbrecht nicht vorzulegen. Stattdessen gibt ihm Hoffnung das Verfahren des Unternehmens Nordstream, einer »exklusiven Warenhaus-Gruppe«, die nach den jüngsten Plünderungen von Filialen in mehreren Städten auf Schadenersatz verzichtete, geleitet von der öffentlich bekundeten Einsicht, dass »Gewalt die einzige verbleibende Sprache ist, mit der afroamerikanische Mitbürger auf ihre gerechtfertigten Forderungen aufmerksam machen können« (https://www.nzz.ch/feuilleton/wenn-sich-stereotype-mit-institutionen-verbinden-wie-der-rassismus-in-den-usa-entstanden-ist-und-bis-heute-wirkt-ld.1559595). Das ist, von einem paternalistischen Standpunkt her, typisch für manche amerikanische liberals, vielleicht gut gemeint, aber alles andere als eine überzeugende Lösung des Gewaltproblems.

3.

Als schwarzer »Nein-Sager«, der in den achtziger Jahren zu einem »Reagan-Republikaner« wurde, stellt sich der an der renommierten Brown University in Rhode Island lehrende Ökonom und Sozialwissenschaftler Glenn C. Loury in einem Interview vor. Ohne fortbestehende rassistische Tendenzen und Einstellungen herunterzuspielen, verweist er auf die positiven Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft im Vergleich zu früher. »Auch in den USA ist Rassismus eine Tatsache. Aber das Wesen und die Struktur der Gesetzgebung haben sich in den letzten fünfzig Jahren radikal geändert. Ich bin 72 Jahre alt, und ich weiss, wie es in den fünfziger und sechziger Jahren zuging. Die USA sind ein ganz anderes Land geworden.«

Loury nennt Fakten, die im Widerspruch stehen zu der von linken Weißen, den liberals, und von schwarzen Wortführern bevorzugten Viktimologie. Die betreffende historische Genealogie, die eine gerade Linie von 1619, als die ersten Sklaven nach Virginia gebracht wurden, über die Sklaverei in den »systemischen« Rassismus von heute zieht, könne viele Negativphänomene der sozialen Gegenwart weder erklären noch rechtfertigen. Die »soziale Gesundheit der Schwarzen in Amerika« sei im Jahr 1950 besser gewesen als heute. Die Zerstörung der Familien – sieben von zehn schwarzen Kindern werden außerhalb der Ehe geboren – gehe einher mit Werteverlust einschließlich des Bezugs zur Arbeit. Der Verweis auf fehlende Leistungsbereitschaft lenkt den Blick auf einen selten betonten Aspekt der ghetto culture, wo schwarze Kinder und Jugendliche, die durch schulische Erfolge »nach oben streben«, unter ihresgleichen auf Ablehnung stoßen, da sie sich »wie Weiße« benähmen (»acting white«).

Der Sozialwissenschaftler Loury spricht in diesem Kontext auch das Thema ›role models‹ und soziales Ansehen an: »Wenn du als Schwarzer Athlet bist, ein erfolgreicher Basketball- oder Footballspieler, dann wird dein Erfolg gefeiert. Diese Leute sind Helden und Vorbilder unter den Schwarzen. Wenn du ein Wissenschaftler bist, trifft dies in keiner Weise zu.« Hinzuzufügen wäre der Hinweis von Cora Stephan (auf Facebook), dass auch die als Idole verehrten ›Gangstarapper‹ mit ihren von Gewaltthemen durchzogenen Songs die ghetto kids nicht unbedingt zur moralischen Selbstbesinnung inspirieren.

Das in den Protesten maßgebliche Thema Polizeigewalt rückt Loury – im Hinblick auf die Bevölkerung von 330 Millionen – in statistische Relation, ohne indes »ungeheuerliche, verstörende Vorfälle« zu bagatellisieren. Nichtsdestoweniger verweist er auf die im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen eindeutig höhere Kriminalitätsrate von Schwarzen, insbesondere bei Gewaltverbrechen. 50 Prozent aller Tötungsdelikte im ganzen Land werden von schwarzen Männern an Schwarzen verübt. »Der Schutz des Lebens und des Privatbesitzes ist die wichtigste Aufgabe des Staats, und viele Afroamerikaner können sich in ihren Häusern nicht sicher fühlen. Die Polizei ist Teil der Lösung dieses Problems. Schwarze brauchen die Polizei.« (https://www.nzz.ch/international/unruhen-in-den-usa-interview-mit-dem-soziologen-professor-loury-ld.1559746?mktcid=smsh&mktcval=Facebook&fbclid=IwAR1JwamswXI7I6oZslFyS_CTR1RlFNRPUUhjneOrf3BKnM6j_n8zrKXze8o)

Diese für manche Ohren provokant klingenden Sätze werden indirekt bestätigt in einem – im Ton durchaus kritischen – Artikel zum Thema Polizeigewalt des FAZ-Korrespondenten Winand von Petersdorff (Ein anderes Recht für Polizisten, in: FAZ v. 4.6.2020, S.19). Er erwähnt eine Studie des Harvard-Ökonomen Roland Fryer. Dieser fand heraus, dass Polizisten nach der behördlichen Untersuchung spektakulärer Fällen von Polizeibrutalität in ihren Revieren Teile ihrer Arbeit einstellten, um »nicht der nächste Youtube-Star [zu] werden.« Die Folge war, dass Gewaltverbrechen in den entsprechenden Bezirken wieder stark zunahmen.

4.

Einfache Lösungen für die anscheinend unheilbare Sozialpathologie in den schwarzen inner cities sind wohlfeil. Am plausibelsten und sinnvollsten erscheint nach wie vor die Forderung nach besseren Schulen und Bildungschancen. Die Umsetzung eines solchen Konzepts bedürfte indes nicht nur der Bereitstellung von mehr Geld. Es ginge auch um die Veränderung von in Teilen der black community etablierten Verhaltensmustern.

Der Chefredakteur des britischen Wall Street Journal Gerard Baker erinnert in einem Kommentar zu den von Polizeigewalt ausgelösten, von Tod und Zerstörung begleiteten Protesten an Worte, die Barack Obama während der Präsidentschaftswahlen 2008 an die black community richtete: »Too many fathers are MIA (milit. Abkürzung für missing in action), too many fathers are Awol (absent without leave), missing from too many lives and too many homes … they have abandoned their responsibilities, acting like boys instead of men.« (https://www.thetimes.co.uk/article/democrats-fail-black-voters-and-blame-others-pd5dxs3dh?fbclid=IwAR2Ystf25DUcAbkbJKfrbxXuNCU-vDET4gNppwdtAoDa4UEGJOO_XgkhK1). Die Worte des als Demokrat zum ersten schwarzen Präsidenten gewählten Obama klangen vor zwölf Jahren kaum anders als heute die des schwarzen Wissenschaftlers (und Republikaners) Glenn Loury.