von Vade Retro
Was ist ein Hype? Wie bei Allerweltswörtern üblich, reicht die Bedeutung weit über das ursprüngliche Feld – in diesem Fall das der Werbung – hinaus. Sie reicht von gruppenbezogener ›künstlicher Aufregung‹ bis zu mittleren und schwereren Fällen von künstlich ausgelöster ›Massenpsychose‹, ›Massenhysterie‹ und dergleichen. Es handelt sich also um Emanationen der Massenpsyche oder dessen, was man dafür hält. Stutzig macht das Wort ›künstlich‹, es deutet an, dass eine ihren Vorteil suchende Instanz bei der Auslösung die Hand im Spiel hat und dabei bestimmte Zwecke verfolgt, jedenfalls dann, wenn sie bei Sinnen ist und nicht selbst einem Wahn unterliegt – was nicht per se auszuschließen ist.
Man kann Arnold Schelsky (The Hype Cycle. Uppers and Downers in Our Bipolar Culture) also grosso modo zustimmen, wenn er definiert:
»Hype is the extreme exaggeration – and in most cases emotional exploitation – of some topic’s importance.« (xi)
Mir persönlich fehlt bei dieser Definition etwas: das Medium, in dem dergleichen geschieht. Der Begriff ›Hype‹ selbst darf als ein Fall von ›exaggeration« – ›Aufbauschung‹ – von Bedeutung betrachtet werden, als Medienwort für eine Mediensache. Ein Marktschreier, der eine versammelte Menge mit seiner Ansprache über Gebühr beeindruckt, löst damit bei seinen Zuhörern noch keinen Hype aus, allenfalls einen Zustand momentaner Erregung und damit einhergehender verminderter Verstandestätigkeit. Sollte ein Hype daraus entstehen, dann deshalb, weil sich die Medien – oder einzelne von ihnen – der Sache annehmen. Das übertrifft die anfängliche Bedeutung des Wortes als ›Käuferansturm‹, gleichzeitig fällt es hinter sie zurück.
»We have Climate Hype, Virus Hype, AI Hype, and War Hype, to name but a few.«
Die Verkaufsabsicht hinter all diesen ›Hypes‹ ist offensichtlich, auch wenn Initiatoren und Gewinner nicht immer eindeutig feststehen. Fest steht, dass die Medien daran verdienen, weil sie ihnen Leser respektive Zuschauer ins Garn treiben. Wir haben es also mit Fällen von verdoppeltem Eigeninteresse zu tun, das sich bei näherem Hinsehen in eine Vielzahl von Einzelinteressen aufspaltet. Nur ein Hype, an dem viele verdienen, verdient diese Bezeichnung.
Wir leben, so Schelsky (ein Pseudonym, wie sich dem Klappentext entnehmen lässt), in einem Zeitalter des Hypes. Entsprechend versucht er das Feld zu ordnen und zu beschreiben: Was sind die beherrschenden Hypes? Wie funktionieren sie und welche Sachverhalte liegen ihnen zugrunde? Wer initiiert sie und wer profitiert von ihnen? Das ist die vielleicht beeindruckendste Seite des Buches: Es bleibt nicht, wie das oft geschieht, bei der journalistischen Beschreibung der Sache und der Benennung der üblichen Verdächtigen stehen, sondern geht den Sachverhalten nach – dorthin, wo es weh tut.
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Schelsky unterscheidet zwischen Hope Hype und Fear Hype (mit den eher kontraproduktiven Steigerungen Despair Hype und Panic Hype). Damit hebt er die psychische (und psychologische) Basis des Phänomens hervor (er konzediert die Rolle der Medien, aber sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Wechselspiel von Psyche und Macht). Unter Herrschaftsgesichtspunkten ist Fear Hype wirkungsvoller als Hope Hype: Man treibt die Schafe leichter in den Pferch als ins Freie. Einer der Gründe liegt darin, dass seine Opfer leicht selbst zu superspreaders werden, wie das Beispiel Greta Thunberg im Fall des Climate Hype eindrucksvoll belegt. Wer erinnert sich nicht an Gespräche am Familientisch, die um des häuslichen Friedens willen abgebrochen werden mussten, weil gegen den Mix aus Klimaangst und Heiligenverehrung kein Durchkommen war? Wer weiß, ob ohne die Intervention dieser seltsamen Heiligen der jüngste Eintrag ins Grundgesetz zustande gekommen wäre. Angst, vor allem, wenn sie in der Sache diffus bleibt und aufs Stichwort pariert, fragt nicht nach Gründen, sie verschließt sich ihnen sogar, während sie gleichzeitig nach jedem Strohhalm greift, den man ihr hinwirft. Das macht sie zum bevorzugten Werkzeug der Unmündigmacher, an denen niemals Mangel aufkommt, gleichgültig, welche Regierungs- oder Gesellschaftsform gerade die herrschende ist.
Eine andere, ebenso grundlegende Unterscheidung, die in dem Buch getroffen wird, ist die zwischen wissenschaftlichen (szientifischen) und kulturellen Hypes. Der Unterscheidung liegt die im angelsächsischen Raum gebräuchliche Differenz von sciences und humanities (Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaften) zugrunde, ergänzt um den weiteren Kulturbegriff, der auch die Träger nichtakademischer Kulturarbeit einschließt, darunter selbstverständlich auch die Journalisten. Zum ersten Typus rechnet er Medizin-Hype, KI-Hype, Klimahype, Transhumanismus-Hype, Ernährungs-Hype und Quanten-Hype, zum zweiten Diversitätshype, Gender- reps. Transgender-Hype, Todeshype, Globalismus-Hype, Migrationshype und Kriegshype. Jedem dieser verschiedenen Hype-Typen ist ein eigenes Kapitel gewidmet und ich verspreche jedem, der sich auf ihre Lektüre einlässt, nicht-alltägliche Aufschlüsse über die Welt, in der wir leben und die Kräfte, die sie beherrschen, ganz zu schweigen von den profunden, wissenschaftlich abgesicherten Auskünften über die gehypten – und oftmals bis zur Unkenntlichkeit verbogenen – Tatbestände, die man schon immer in dieser praktischen Zusammenstellung zur Hand haben wollte.
Über dieses man müsste man eigens reden. Wer liest so ein Buch mit welchem Nutzen? Schelsky selbst äußert sich skeptisch über die praktischen Auswirkungen von Aufklärung, ja über Aufklärung selbst. Er bevorzugt die Auffassung, dass die Komplexität menschlicher Gesellschaften jeden planerischen Eingriff übersteigt und prinzipiell unvorhersehbare Entwicklungen zeitigt. Dennoch täten die gesellschaftlichen ›Entscheider‹ (die sich selbst für Gestalter halten) gut daran, sich von Zeit zu Zeit über die Aktenstände hinaus faktenkundig zu machen, auch wenn sie zu diesem Zweck ein gutes Buch in die Hand nehmen müssten. Streicht man diese Hoffnung als irreal, dann bleiben die interessierten Zeitgenossen, die es nicht mögen, dass man ihnen ein X für ein U vormacht, vor allem wenn dies in einem Klima der Dauerberieselung und der Dauer-Desinformation geschieht. Es bleiben unter ihnen vor allem die Multiplikatoren, sprich Journalisten, Erzieher, Künstler, Aktivisten, also Leute, die in sich einen Auftrag verspüren, die Ordnung der Welt sich selbst und anderen ein wenig sichtbarer werden zu lassen. Aber letztlich bleibt das alles zweit- und drittrangig gegenüber der Aufgabe, die Wahrheit sprechen zu lassen, wann immer und wo immer die Sprache hinreicht. Das muss keine emphatisch verkündete neue Wahrheit sein. Manchmal genügt die simple Vertiefung des Alltagswissens und die Rückfrage bei der nüchternen, nicht bereits vom Zeitgeist benebelten und verführten Wissenschaft, was denn jetzt an der Sache sei.
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Hypes, so das Fazit des Buches, sind nichts besonders Neues, auch wenn die Annahme, es gebe sie schon immer, wohl in die Irre führt. Sie sind ein Zivilisationsprodukt wie der Buchdruck und die Massenmedien, die zu ihren Erregern zählen. Im Schlusskapitel, das sich mit dem politischen Kontext beschäftigt, in dem Hypes entstehen und ihre Dienste verrichten, spricht Schelsky von »Hypes continually flowing through western societies« (285), damit andeutend, dass zwischen dem ›westlichen‹ Gesellschaftstypus und den in ihnen kontinuierlich initiierten Hypes ein systemischer Zusammenhang bestehen dürfte. Prima vista ist das Bindeglied rasch gefunden: Gesellschaften des ›westlichen‹ Typus werden, anders als offen autoritär regierte, weitgehend, gelegentlich exzessiv, durch Öffentlichkeit gesteuert und sind daher leichte Beute der in ihr virulenten Mechanismen. Doch damit gibt der Autor sich nicht zufrieden. Zu Recht, wenn man das Ausmaß bedenkt, in dem seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts die politische Steuerung durch künstlich erregte und kontrollierte Angstzustände (bei dünner oder fehlender Evidenz) in der Bevölkerung zugenommen hat, während ›natürliche‹, auf Evidenzen beruhende Furcht, zum Beispiel vor Naturkatastrophen oder innerem Unfrieden, praktisch kaum noch eine Rolle zu spielen scheint und im Einzelfall rigoros durch geeignete ›Narrative‹ neutralisiert wird. Es ist offenkundig, dass hier ein schleichender, am Ende schlagender Wandel des Gesellschaftsmodells stattgefunden hat, für den ein Großteil der Gesellschaftsglieder noch immer kein Sensorium oder keine Worte zu besitzen scheint.
Angeregt durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben neigt Schelsky der These zu, dass Oligarchenherrschaft, soll heißen die Beherrschung des politischen Machtapparats durch finanzstarke Strippenzieher, die ihr Gesicht selten oder gar nicht zeigen, den politischen Ausnahmezustand gegenüber dem regelbasierten rechtsstaatlich-liberalen Verfassungsstaat präferiert, um ihre partikularen Ziele trotz andersartiger Mehrheiten in der Bevölkerung durchzusetzen: potestas schlägt auctoritas. Schelsky folgt Agambens Argument, seit der Französischen Revolution gebe es eine Tendenz, den liberalen Verfassungsstaat durch Diktaturen abzulösen, die für sich ein Notstandsrecht reklamieren: auffällig bereits bei Napoleon I., der mit dem Bonapartismus eine spezifisch französische Regierungsform begründet, konsequent im Nationalsozialismus, der den Weimarer Staat durch das Ermächtigungsgesetz aus den Angeln hob. Allerdings verwirft er Agambens Vorstellung einer notstandsbedingten (›dialektischen‹) Verbindung von auctoritas und potestas, sprich: demokratischer und diktatorischer Herrschaft als postmodernistischen Unfug (290).
Ganz gerecht wird das Agambens Vorstellungen nicht, der darauf hinweist, dass auch der funktionierende Rechtsstaat Zonen ausgedünnter Rechtlichkeit beziehungsweise ›rechtsfreie Räume‹ kennt (Beispiele wären die Ankunftszonen internationaler Flughäfen, das US-Gefangenenlager Guantanamo oder diverse über die Kontinente verteilte, der lokalen Gerichtsbarkeit entzogene Geheimgefängnisse), in denen ›gefährliche Subjekte‹ im Zustand der Entrechtung (›Nacktheit‹) existieren. Schelsky dagegen setzt auf das seit der Antike bekannte Modell der Instabilität demokratischer Institutionen, die stets in Gefahr schwebten, in diktatorische Zustände abzugleiten. Er beruft sich dabei auf den politischen Essayisten Guglielmo Ferrero (1871 – 1942), dessen five difficulties in implementing democratic representation er wie folgt auflistet (294ff.):
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Die Majorität muss real sein, das heißt für eine Sache (unique way of thinking) einstehen und nicht bloß das eigene Gruppeninteresse repräsentieren, um ein faires Zusammenspiel zu gewährleisten.
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Die Majorität muss bereit sein, der neuen Majorität, also der bisherigen Minorität zu weichen.
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Die Opposition muss gleichfalls real sein und keine Scheinopposition, gleichzeitig darf sie nicht fundamental im Sinne einer Ablehnung des parlamentarischen Regimes sein.
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Politische Freiheit und philosophische Freiheit dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Nur politische Freiheit ist erreichbar. Das schließt Religionsfreiheit als unbegrenzte Berufung auf die Grundsätze der eigenen Religion aus.
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The souvereign’s body, der Körper des demokratischen Souveräns ist eine Fiktion, erzeugt durch Wahlen. Die reale Unfähigkeit von Teilen des Wahlvolks zu wirklicher, auf Deliberation beruhender Partizipation erzeugt notwendig eine instabile Basis.
Zusammengefasst: Ohne Demokraten keine Demokratie, jedenfalls nicht auf Dauer. Demokratie fußt auf vorpolitischen, sprich kulturellen Voraussetzungen wie der Achtung vor selbstgesetzten Regeln. Die Geltung demokratischer Werte ist nicht erzwingbar. Am ehesten erzwingbar ist die Einhaltung der Regeln, doch nur im Sinn der potestas, nicht der auctoritas. Der heikelste Punkt ist der letzte, der dem Wahlvolk selbst, wenigstens in Teilen, die nötige Kompetenz abspricht. Wer so denkt, für den muss früher oder später der demokratische Traum zergehen. Für Schelsky fallen die goldenen Jahre der westlichen Demokratie mit der Pax Americana zusammen, beginnend in den 1950ern und endend Mitte der neunziger Jahre. Seither herrscht Dekadenz, ein rapider Verfall demokratischer Repräsentation und eine zunehmende Neigung der Exekutive, gegen den erklärten und unerklärten Willen der Massen zu handeln (297).
Doch um auf Agamben zurückzukommen: Nicht allein kannten die liberalen Demokratien der Pax Americana Zonen verminderter Rechtlichkeit, vielmehr waren sie Teil eines weltweiten Systems, in dem neben dem östlichen Feind und den voll entwickelten Gesellschaften der angelsächsischen Welt, Westeuropas und Japans, die sogenannten Entwicklungsländer einen abhängigen Status besaßen: die von Bürgerkriegen und abrupten Regimewechseln, häufig auf Betreiben der USA, zerrütteten Länder des globalen Südens und die durch Stellvertreterkriege geprägten Gesellschaften Südostasiens, in denen Demokratie kaum mehr war als ein anderes Wort für Korruption und Gewalt. Das Notstandsregime fehlte also nicht, es war bloß in andere, ökonomisch und militärisch abhängige Weltteile ausgelagert.
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Natürlich ändert das nichts an der Erkenntnis, dass die sich selbst als entwickelt deklarierenden Länder seit dem Fortfall des äußeren Systemfeindes zunehmend den politischen Hype als Disziplinierungs- und Steuerungsinstrument gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. Dennoch darf, wie sich an verwandten Phänomenen, etwa der Mode, ablesen lässt, die Gegenseite nicht außer Acht gelassen werden. Der Hype oder was immer so genannt werden mag, entsteht auf Betreiben Dritter, er entsteht durch die Medien, aber er entsteht in den Menschen und entzieht sich damit der völligen Verfügbarkeit im Sinne einer autoritären oder gar totalitären Politik. Gerade Notstandsregime müssen den Tiger reiten, um Nietzsches Bild zu bemühen. Keineswegs können sie ihn nach Belieben in den Käfig sperren und wieder freilassen. Umso mehr gilt das für Gesellschaften, deren demokratische Institutionen, äußerlich betrachtet, weitgehend intakt und in Grenzen wehrhaft sind. Weder lassen sich kollektive Angstzustände auf Dauer aufrecht erhalten noch halten gesellschaftliche Betäubungsphasen unbegrenzt an. Zur Komplexität von Gesellschaften gehört auch, was Goethe einst sich und seinen Zeitgenossen ins Stammbuch schrieb:
War das Antike doch neu, da jene Glücklichen lebten!
Es muss ja nicht gleich die Antike sein, die da im Rückblick beschworen wird. Auch die postmoderne Dekadenz ist ein unzuverlässiger Patron. Schelsky jedenfalls bekehrt sich am Ende zu dieser Einsicht:
»This chronic state of emergency is alien to our political traditions and is not compatible with Western political culture. Over time, it must be overcome, to usher in a new phase of truly legitimate government.« (297)
Es wäre nicht schlecht, das bald auch in einer deutschen Ausgabe des Buches lesen zu können.
Arnold Schelsky: The Hype Cycle. Uppers and Downers in Our Bipolar Culture, Chicago (Carus Books) 2025, 320 Seiten.