Christlicher Logos gegen postmoderne Ideologie
von Herbert Ammon
In der abendländischen Philosophie erscheint die Sprache – zugespitzt im Begriff des lógos – als Vehikel der Wahrheitssuche und Erkenntnis. ›Im Anfang war das Wort‹ heißt es im Prolog des Johannes-Evangeliums. Um die Bedeutung der Sprache für Bewahrung und Vermittlung christlicher Glaubensinhalte in der säkularen Gegenwart geht es in dem vorliegenden Band der Reihe ›Georgiana‹, herausgegeben von Thomas Seidel, Vorstandsvorsitzender der Internationalen Martin-Luther-Stiftung und Großkomtur der anno 1987 von dem Schriftsteller Ulrich Schacht (gest. 2019) gegründeten Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden, und Sebastian Kleinschmidt, langjähriger Chefredakteur von ›Sinn und Form‹.
Das Wort, die Wahrheit und ›der Weg ins Weite‹
Der Band ist thematisch in drei Teile gegliedert. Den ersten Teil (Sprache – Macht – Politik) eröffnet Annette Weidhas, Redakteurin der Theologischen Literaturzeitung (ThLZ) und Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, mit einem über sechzig Seiten umfassenden Aufsatz, in dem sie ›das Virus der Identitätspolitik‹ attackiert und ›die Gendersprache als Signum eines neuen Irrationalismus‹ zerlegt. Unter Verweis auf die Ideologieanfälligkeit der Geisteswissenschaften kritisiert sie den Anspruch auf ›Wissenschaftlichkeit‹ der Gendersprache, die – an deutschen Universitäten und in den Medien höchst erfolgreich – vermittels neuer, ›gendergerechter‹ Grammatik und Lexis durchgesetzt werden soll.
Auch mit ›kontextueller‹, speziell feministischer Theologie, die seit den 1970er Jahren die Fakultäten eroberte, hat die promovierte Theologin wenig im Sinn. »Glaubt man wirklich, damit der Säkularisierung Herr bzw. Frau zu werden?« (16). Und noch pointierter: »Wer bewusst sprachpolitisch eingreift, manipuliert und befördert autokratisch-antidemokratische Tendenzen.« (40f.) Die Kulturrevolution von oben geht einher mit dem bereits von Alexandre de Tocqueville erkannten Konformitätsdruck der Demokratie.
Weidhas legt die Dürftigkeit der namentlich von Judith Butler verfochtenen Gendertheorie offen. Bei Butler fließen ›French Theory‹ – Poststrukturalismus und (De-)Konstruktivismus im Gefolge von Jacques Derrida und Michel Foucault –, Kapitalismuskritik aus dem Arsenal der Frankfurter Schule und queertheoretische Elemente zu einer ideologischen Melange zusammen. Hinzu kommt ein Missverständnis der Sprachtheorie des britischen Philosophen John L. Austin, der konstative und performative Sätze unterscheidet. Der Unterschied liegt im ideell assoziierten, sprachlich-kulturell vermittelten Inhalt einer Sprachhandlung. Eine Schiffstaufe ist etwas anderes als eine christliche Taufe, »und nicht jeder, der Wasser über ein Kind gießt, tauft es.« (45) In anmaßend unfriedlichen Worten verkündet die franko-algerische Identitätsaktivistin Houria Bouteldja ihre Botschaft: »Man kann nicht Israeli und unschuldig sein.« (Zit. 48)
In den von Kulturlinken – und von deren Pendant von ›rechts‹ – erhobenen Identitätsansprüchen sieht die Autorin Erscheinungsformen eines radikalen Nominalismus, den ehedem Max Scheler in seinem Buch Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926) als »das hervorragendste Sprengmittel« etablierter Kultur bezeichnete. (51) Zu den historischen Wegbereitern gehörte an der Schwelle zur Neuzeit nicht zufällig auch der Reformator Martin Luther mit seinem subjektiven Gewissensbegriff.
Kennzeichnend für die – ungeachtet aller decolonial theory westlich geprägte – postmoderne Gegenwart ist die Tendenz zur radikalen Individualisierung, die einhergeht mit dem Bedürfnis nach Gruppenidentität als quasi-religiöser Ersatzgemeinschaft. Entsprechend polemisiert im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt ein Autor gegen den ›Wahrheitswahn‹ und plädiert dafür, den christlichen Wahrheitsbegriff – die im Glaubenspostulat wurzelnde Verknüpfung von ›Offenbarung‹ und Vernunft – zugunsten einer positiv gemeinten »Theologie der Beliebigkeit« aufzugeben.(58) Allgemein wächst unter Protestanten die Tendenz, die christliche Heilsbotschaft aufzuheben in einer – vermeintlich alle Religionen umgreifenden – ›kosmischen Sinnstiftung im Namen der Liebe‹. Insofern derlei in christlichem Gewand angebotene Sinnsurrogate auf den nur noch als peinlich empfundenen Begriff der Sünde verzichten, handelt es sich, so Weidhas, um Spielarten neognostischer Lehren. Bestätigung findet diese Diagnose im gnostischen Credo einer Transfrau, Vorstandsvorsitzende in einem Pharma-Unternehmen: »Transgender ist die Auffahrtsrampe zur Überwindung des Fleisches.« (60)
Weidhas schließt ihre Kritik der Modeströmungen mit einer nüchternen Aussage: »Unter säkular-demokratischen Verhältnissen kann das Christentum der Gesellschaft nicht mehr den einen verbindlichen Gemeinsinn vorgeben, eine konformistische Zivilreligion kann das schon gar nicht.« (71f.)
Der Schriftsteller und Publizist Klaus-Rüdiger Mai (»Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache«) richtet das Augenmerk auf die in all den Gendersternchen, Doppelpunkten und Knacklauten aufscheinende Ideologie, auf die in Medien, Hochschulen und Politik wirksamen Zensurmechanismen samt den dahinter liegenden Machtansprüchen. Seine Analyse des in allerlei ›Diskursen‹ um ›Gendergerechtigkeit‹ fortschreitenden Sprachtotalitarismus setzt ein bei Judith Butlers Buch mit dem Titel Hass spricht. Zur Politik des Performativen (2006). Aus der Opferperspektive des – höchst subjektiv – verletzten Subjekts strebt Butler die ›subversive Resignifikation‹ der bislang vom männlichen Unterdrücker definierten Begriffe an. Dazu Mai: »Wer sich aber bewusst die Begriffe aneignet, durch die er verletzt wird, befreit sich nicht, sondern will verletzen – und zwar andere.« (76) Der Antrieb von Butlers ›Theoriebildung‹ ist ihre Homosexualität und wenig anderes als Hass auf das männliche Geschlecht.
Von Foucault hat Butler gelernt, dass Sprache ein Machtinstrument ist, und dass es – unter den Auspizien der Emanzipation – darauf ankommt, den in der Gesellschaft herrschenden Diskurs durch Aneignung der Sprache umzukehren. Immerhin trifft derlei Erkenntnis – im Gegensatz zum gutgemeinten Konzept eines ›herrschaftsfreien Diskurses‹ (J. Habermas) – den Kern der Sache: In allen Debatten – so in den um Gender und Identität kreisenden Diskursen – geht es um die Durchsetzung der Diskursregeln, mithin um Deutungsmacht. In anderen Worten: In den Diskursen, dem Lieblingsspiel der Intellektuellen, geht es um das alte politische Spiel, um Macht.
»Sprachbeherrschung besteht nicht darin, eine Kunstsprache [oder eine neue Herrschaftssprache, H.A.] zu verfertigen, sondern in der gegebenen Sprache leben und denken zu können.« (82) Keineswegs im Widerspruch dazu, so Mai, steht zu wissen, dass Sprachen dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Seine streng analytische – auf den Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) und dessen Unterscheidung von langue, langage und parole (!) zurückweisende – Kritik des alltäglich auf uns einströmenden sprachpolitischen Nonsens kommt ohne theologische Bezüge aus. Nichtsdestoweniger tritt in dem Text das christliche Selbstverständnis des Luther-Biografen Mai hervor: Es geht um die Verteidigung der Wahrheit des Wortes – des lógos – gegen die Verwirrungen des Zeitgeists.
Den Prolog des Johannes-Evangeliums (Joh. I, 1-3) hat René Nehring, Chefredakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung (PAZ), seinem Beitrag (»Verkümmerte Botschaft. Anmerkungen zur Krise der evangelischen Kirche und ihrer Sprache«) vorangestellt. Die Austrittszahlen und der demographisch bedingte Mitgliederschwund – anno 2019 gehörten nur noch 24,9 Prozent der Bevölkerung der evangelischen Kirche an, für 2060 wird eine weitere Halbierung der Zahlen prognostiziert – werden von den Vertretern der Amtskirche zwar durchaus registriert. Ein – mit dem seinerzeitigen Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm als Mitverfasser – 2020 vorgelegtes EKD-Papier (mit dem zweckoptimistischen Titel »Kirche auf gutem Grund«) spricht von der »tieferliegenden Glaubenskrise«. Es verzichtet indes auf eine Analyse dieser Krise und weist stattdessen einen »Weg ins Weite« (92).
Es gibt hinreichend Kritiker – darunter der taz-Journalist Jan Feddersen und sein Ko-Autor Philipp Gessler, Verfasser eines Buches Phrase unser –, die den Verlust an sprachlicher und inhaltlicher Aussagekraft anprangern. Kirchensprech – durchsetzt mit Worten wie ›Abholen‹, ›Aufbruch‹, ›Bestärken‹ und dergleichen – suggeriert Nähe zu den wie unmündige Schäflein angesprochenen Gläubigen (besser: noch Glaubenswilligen), wirkt indes eher wie Motivationspsychologie in einer Selbsthilfegruppe. Die christliche Botschaft reduziert sich auf gesinnungsethische Appelle, insbesondere hinsichtlich des komplexen Themas ›Fluchtbewegungen‹. Lifestyle-Banalitäten jeder Art (›Ist Aufschnitt aus Soja-Ei-Mischung gesünder als Wurst?‹) füllen die Seiten der in hoher Auflage als Beilage zu den Qualitätszeitungen auf gehobenes Publikum zielenden Zeitschrift ›chrismon‹.
Während der inzwischen vom Ukrainekrieg – dass Putin böse ist, wissen wir – überlagerten Corona-Krise waren Aussagen zu den Unwägbarkeiten menschlicher Existenz von Kirchenoberen nicht zu vernehmen, auch kein Einspruch gegen den die Angehörigen aussperrenden ›Lockdown‹ in den Kliniken. Anmerkung: Einer meiner Freunde kündigte aus eben diesem Grund in Briefen an die Ortsgemeinde sowie an den Landesbischof seinen Kirchenaustritt an – ohne Reaktion seitens des zuständigen Pfarramts.
Die Wege und Weisen des lógos
Im zweiten Teil des Bandes widmen sich – mit dank nichteuropäischer Herkunft geschärftem Blick für christliche Tradition und Doktrin – zwei Autoren unter philosophisch-theologischen und religionswissenschaftlichen Aspekten dem so intimen wie komplexen Verhältnis von »Sprache – Religion – Poetik«. Michael Dashiro Nakajima, geboren 1943 in Tokyo, studierte an der Jesuiten-Universität ›Sophia‹ in Tokyo, wo er 1971 den Magistergrad mit einer Arbeit über Nikolaus Cusanus erwarb. Seit 1972 in Deutschland lebend, schrieb er an der Jesuiten-Hochschule ›St. Georgen‹ in Frankfurt seine Diplomarbeit über die Inspirationslehre nach Karl Rahner. Nach seinem Austritt aus dem Jesuiten-Orden (1974) wirkte er bis zu seinem Ruhestand als Religionslehrer an Gymnasien. 2018 wurde er mit einer Arbeit über den österreichischen Dialog-Personalisten Ferdinand Ebner (1882-1931), geistiger Weggenosse von Martin Buber, zum Dr. theol. promoviert.
Nakajima beginnt seine Reflexionen über ›Wort und Liebe‹ gleichfalls mit den Anfangsworten des Johannes-Evangeliums, die für ihn »die vollkommene Identität des göttlichen Ur-Seins mit der Wahrhaftigkeit« verkünden. (111) Aus dem vierten Vers des Prologs (»In ihm [dem Wort] war Leben und das Leben war das Licht der Menschen«, Joh. I,4) sowie aus dem – im Johanneskreis entstandenen – ersten Johannesbrief erschließt sich für Nakajima »die Grundstruktur von Sein, Wort und Leben, nicht nur in Gott, sondern auch im geschöpflichen Sein.« (112)
Sein, Wort, Gott, Glaube und Liebe bilden für den Autor einen ideellen – und realen – Zusammenhang. Den Begriff des zwischen Gott und Mensch vermittelnden lógos verdankt der Evangelist offenbar dem jüdisch-hellenistischen Denker Philo von Alexandrien (gest. 30-40 n.Chr.). Bei Philo ist der lógos Werkzeug der Schöpfung, »die Ursache ...aber die Güte Gottes«. (zit. 113). Philos Begriff lässt sich über Platon – im Gorgias identisch mit der Idee des Guten – bis zu Heraklit zurückverfolgen, wo der lógos die Gegensätze im ›Einen‹ (tò hen) pantheistisch vereint. In der Theologie des erwähnten Ferdinand Ebner wird in der Ich-Du-Beziehung die göttliche Liebe zur Schöpfung manifest.
Nakajima spannt den Bogen von der christlichen Trinität zu ähnlichen Ideen im Hinduismus, im Shintoismus und im chinesischen Spätkonfuzianismus. Angesichts solch weit ausholender Explikationen drängt sich für den Leser – wiederum im Blick auf die schwindende Rolle des Christentums in Europa – die Frage auf: Was bleibt noch von dem spezifisch christlichen Verständnis des in Christus inkarnierten lógos?
Der andere Autor, Senthuran Varatharajah, wurde 1984 in der Tamilen-Hochburg Jaffna auf Sri Lanka geboren und kam mit vier Jahren als Flüchtlingskind nach Deutschland. Er studierte Philosophie, evangelische Thologie und vergleichende Religions- und Kulturwissenschaft in Marburg, an der Humboldt-Universität zu Berlin und am King´s College in London. Für seinen Debütroman Vor der Zunahme der Zeichen (2016) wurde er mehrfach ausgezeichnet, er lebt als Schriftsteller in Berlin.
Große Teile der Bibel – nicht nur die Psalmen oder die drei Salomon zugeschriebenen Bücher der Weisheit sind ohne weiteres als Werke der Dichtung erkennbar. Zeitlose Dichtung finden wir im Hohelied der Liebe bei Paulus im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs. In einer – den poetischen Charakter abschwächenden – Übersetzung lautet Vers12: »Denn jetzt sehen wir mit Hilfe eines metallenen Spiegels in verschwommenen Umrissen, dann aber wird es von Angesicht zu Angesicht sein. Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich genau erkennen, so wie ich genau erkannt worden bin.« Diese Zeilen verknüpft Varatharajah mit dem ersten Vers des Johannes-Evangeliums. (120f.) Zusammen bilden sie den Ausgangspunkt für seine – in biografischen Kurzessays angelegten – Reflexionen (»Denn ich bin Schrift, und du bist Wunde. Die Sprachen kreuzen sich«) über die Bedeutung der Sprache für seine christlich-religiöse und schriftstellerische Existenz.
Zweisprachig mit Tamil und Englisch aufgewachsen, lernte der Schriftsteller Deutsch zuerst in einem Asylbewerberheim in Coburg und bei den ›Zeugen Jehovahs‹, aus deren Gemeinschaft er mit zwölf Jahren austrat. »Deutsch war die Sprache Gottes, weil ich in dieser Sprache Gottes Wort erfahren habe.« (121) Zu seinen Lebenserfahrungen gehört – vergegenständlicht in einem Bild in der National Gallery in Washington, D.C., mit den aramäischen Worten Christi am Kreuz (›Lema Sabachtani‹) im Untertitel – der Gedanke der Gottverlassenheit. Als Kind glaubte er, »dass Gott derjenige ist, über den hinaus wir nichts Größeres denken können« und sich »durch Schrift, in Sprache, durch Sprache« offenbare. (125) Nachdem er diesen kindlichen Glauben während seines Philosophie-und Theologiestudium aufgegeben habe, so Varatharajah, kehre er, je älter er werde, zu diesem Glauben – begrifflich reflektiert – zurück. Unter Bezug auf den Literaturtheoretiker, Schriftsteller und Philosophen Roland Barthes erklärt er die Bibel als Maßgabe und Quelle seines Schreibens.
Am Ende wieder das Wort
Im dritten Teil (wiederum unter dem Eingangswort des Johannes-Evangeliums) eröffnet Harald Seubert, Ordinarius für Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, seit 2016 Präsident der Internationalen Martin-Heidegger-Gesellschaft, seinen Beitrag »Der Logos Europas« mit Worten des alten – von Heidegger auf beschämende Weise desavouierten – Edmund Husserl: »Europa ist Einsicht«. Daran anschließend zitiert er den von Gottfried Benn vor seinem Tod festgehaltenen Satz: »Am Ende war das Wort und nicht das Geschwätz und am Ende wird nicht Propaganda sein, sondern wieder das Wort.« (Zit. 132)
Auch Seubert verweist auf Heraklit als maßgeblichem Begründer des Begriffs des lógos als Weltprinzip. In der vorsokratischen Philosophie sieht er – ›bei aller Differenz‹ – Berührungspunkte mit den Aussagen der alttestamentarischen Prophetie. Es geht um den monotheistischen Gottesbegriff (der ›Ewige‹) sowie um die Stimme des Gewissens. Beide Gedanken stehen im Gegensatz zu der Homo-mensura-These des Sophisten Protagoras (um 490-411 v.Chr.). Bei Platon erscheint der Logos als Antwort auf die Klage und Ausweglosigkeit der großen Tragödien.
Seubert geht es um die Differenz und Parallelität von Athen und Jerusalem. Im Gegensatz zu der von Adolf von Harnack vertretenen These von der ›Hellenisierung des Christentums‹ hält er an der spezifisch christlichen Synthese – bei Hegel im Begriff der »denkenden Religion« (137) – von Glaube/Offenbarung und Vernunft fest. Dafür, dass er sich bei der Verknüpfung von Fides und Ratio im Zeichen der Liebe Gottes auch auf Papst Benedikt XVI. bezieht (138), dürfte er unter progressiven Protestanten wenig Beifall finden.
Europa lebt aus dem – in Philosophie, Dichtung und in der Bibel – vorfindlichen Logos. Seubert weiß, dass es um derlei geistige Substanz heute schlecht bestellt ist. Mit Besorgnis spricht er über die – ungeachtet der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – erneut »nach vorne drängenden« Ersatzreligionen. (144) Gleichwohl sieht er das sinnstiftenden Potenzial des Christentums – den christlichen Logos – von der westlichen Säkularität noch nicht gänzlich aufgezehrt, sondern in allen seinen Ausformungen und jeweiligen ›Ursprachen‹ – koptisch, griechisch, russisch und lateinisch, zu ergänzen: aramäisch, georgisch und armenisch – noch wirksam.
Zuversicht – wiederum unter dem Leitmotiv en archè ên ho lógos […] kaì theòs ên ho lógos – dringt aus dem Aufsatz »Cur homo sapiens non deus. Warum Maschinen niemals sprechen werden« des als Mediziner, Biochemiker, Mathematiker und Philosoph wissenschaftlich fundierten Unternehmers und Publizisten Jobst Landgrebe. Entgegen allen Spekulationen über die künftige Leistungsfähigkeit (und Gefahren) künstlicher Intelligenz (KI) steht die evolutionsbiologisch und neurophysiologisch begründete Einzigartigkeit des menschlichen Geistes fest. Im Unterschied zu den logischen Systemen von Maschinen ist der menschliche Geist ein komplexes System. Sprache ist Ausdruck des objektivierenden Denkens des Menschen.
Schon lange vor dem – mit den Namen Richard Rorty (1967) oder Jürgen Habermas (1989) assoziierten – ›linguistic turn‹ existierte die Erkenntnis, dass Sprechen ein Modus des Handelns ist. Für Landgrebe – im Anschluss an Bertrand Russell und Arnold Gehlen – ist Sprache der Ausdruck der ›Getriebenheit‹ des menschlichen Geistes. Diesen Gedanke verknüpft er mit der von Max Scheler stammenden Unterscheidung von Bildungs-, Erlösungs- und Leistungswissen. Im Denken Schelers, der Erlösungswissen als ›Wissen um der Gottheit willen‹ definiert, ist der religiöse Aspekt zentral. Von Schelers Konzept des menschlichen Bestrebens an Teilhabe »an dem obersten Sein und Grund der Dinge« (177) kommt Landgrebe zu einer Anerkenntnis der Offenbarung. Er findet diese sogar bei Kant in dessen Postulaten der »Unsterblichkeit, der Freiheit und des Daseins Gottes« in der Kritik der praktischen Vernunft. (178)
Fragen zum ›Wort Gottes‹
Im letzten Beitrag (»Im Anfang war das Wort – Das Wort Gottes in der Spannung zwischen dem Auftrag der Kirche und der Dynamik des öffentlichen Raumes«) setzt sich Christoph Meins, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Braunschweig, mit der Frage auseinander, wie die spezifisch christliche Botschaft in der von Medien aller Art definierten Kommunikationsstruktur der säkularen Gesellschaft eigenständig zur Geltung kommen kann. Wie heben sich auf Texte des Evangeliums gegründete Aussagen, soweit sie auf die politisch-gesellschaftliche Gegenwart zielen, von Informationen und Appellen in den Medien ab? Bei Themen wie Klimawandel, Migration, Radikalismus, sexualisierte Gewalt – zuletzt wieder Krieg (H.A.) – verstehen sich die Medien als Wächter öffentlicher Moral. Hingegen interessieren Glaubensfragen »die Medien nur in ihren Auswirkungen auf Haltungen und Verhalten.« (193)
Christoph Meins expliziert sein Selbstverständnis und seine öffentlich-kommunikative Aufgabe wie folgt: »Für mich steht die theologische Formel ›Wort Gottes‹ für ein den Menschen auf ein tiefes Geheimnis der Wirklichkeit ansprechendes, ihn mit der Realität des Lebens konfrontierendes und zugleich tröstendes, vielgestaltig kommunikatives Geschehen, das inspiriert ist von den Texten über die Erfahrungen des Volkes Israel mit Gott, ihre Gebete zu ihm und von den Berichten über die Worte, die Taten und das Schicksal Jesu von Nazareth und über die Erfahrungen seiner Jüngerinnen und Jünger, wie sie in der Bibel überliefert sind. Das Wort ›Glaube‹ fasst begrifflich die Bedeutung zusammen, die dieses kommunikative Gesamtgeschehen im Rahmen der seelischen, körperlichen und sozialen Prozesse von Menschen gewinnt...« (183f.)
Es bleibt zu fragen, ob in derlei Selbstreflexion die Sinnfrage – die Frage nach dem lógos – in der so banalen wie hoch moralischen und erneut ideologisierten – Gegenwart eine Antwort findet. Nur sehr indirekt klingt in diesen Sätzen die von Varatharajah zitierte Klage Christi am Kreuz an. Der Publizist Nehring bringt in dem zitierten Beitrag die Crux zur Sprache: »Eine Kirche..., für die das Reden von Gott nicht mehr real, sondern nur noch Tradition oder gar Metapher für ein gehobenes ethisches Bewusstsein ist und auf die wesentlichen Fragen unserer Existenz keine Antworten geben kann, oder will und sich stattdessen in unverständliche Floskeln hüllt, eine solche Kirche braucht niemand.« (108f.) Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass der hochkarätige Band bei allen, denen noch an der Zukunft der evangelischen Kirche gelegen ist, die ihm gebührende Beachtung findet.