von Helmut Roewer
Wenn Sieger die Grenzen willkürlich verschieben, werden Bewohner, die lange friedlich zusammenlebten, plötzlich zu Außenseitern, Ausgestoßenen und Feinden. Aus diesem Reservoir pflegen sich Geheimdienste zu bedienen. Das folgende Beispiel führt uns nach Galizien. Dort wechselte in den letzten 110 Jahren vielfach die Herrschaft. Heute gehört Galizien zur Ukraine. Noch.
Ein hoffnungsvoller Anfang
Der Held dieser Geschichte heißt Basil Diduschok oder – je nach Ort, Zeit oder Betrachter – etwas anders mit Nachnamen: Diduschek oder Diduszok oder Дидушeк, und mit Vornamen: Basilius oder Wassil oder Wassilij. Er kam gut ein Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende, 1889, in Galizien zur Welt. Angaben, denenzufolge der Geburtsort in der Gegend von Lemberg lag, sind irreführend. Lemberg, das damals auch offiziell noch Lemberg und nicht Lwiw oder Lviv oder Lwow oder Lwów hieß, gehörte zur österreichischen Reichshälfte der Donaumonarchie. In deren Armee muss Diduschok seinen Wehrdienst geleistet haben und zum Reserveoffizier ernannt worden sein, denn sonst wäre es schlecht möglich, dass er auf einem Bild aus dem Ersten Weltkrieg mit den Dienstgradabzeichen eines k.u.k. Hauptmanns zu sehen wäre – es sei denn, das Bild wäre ein Fake aus späteren Jahren.
Ich gebe zu, dass mir, je länger ich über den Fall nachgedacht habe, umso mehr Zweifel gekommen sind, ob das Bild ein Original oder eine Montage ist. Ich weiß es nicht. Es ist der Schatten zwischen Kinn und Uniformkragen, der Zweifel weckt. Der Zweifel verstärkt sich, weil ich zunächst nur das in Russland publizierte Bild kannte. Es ist ein unscharfer Ausschnitt. Mich hat vor allem stutzig gemacht, dass die pauschalen Geburtsort-Angaben von Diduschok (in der Gegend von Lemberg) so nicht haltbar sind. Er stammte ziemlich sicher aus Knjarshin (Княжин). Das liegt südlich von Shitomir, also im damaligen Russischen Reich. Die Grenze zwischen den beiden Teilen Galiziens und damit zwischen beiden Kaiserreichen verlief etwas östlich der beiden Flüsse Dnjestr bzw. Bug. Wieso dieser Mann in der österreichischen Armee diente, ist also unklar – mir jedenfalls.
Allerdings lässt sich sagen, dass Diduschok keine militärische Karriere anstrebte, denn er studierte Jura in Lemberg und schloss dieses Studium angeblich 1914 ab. Was seine Muttersprache war, das weiß ich ebenso wenig. Diese Frage stellt sich indessen, da in den Jahren um Diduscheks Geburt an der Universität Lemberg das heutige Ukrainertum entstand – zunächst als ein zartes Pflänzchen des Nationalismus, mit den Jahren dann stärker ausgeprägt. Das ging einher mit der schriftlichen Fixierung einer ukrainischen Sprache und der Festlegung der zugehörigen Schrift und einer Grammatik.
Aus alledem lässt sich für die landsmannschaftliche Zugehörigkeit Diduschoks nichts Sicheres herleiten, denn dort in Galizien lebten neben Ukrainern, die sich selbst noch nicht so nannten, andere Volksgruppen: Deutsche, Österreicher, Polen, Russen und Juden. Letztere wurden, bevor einer der Leser empört die Augen verdreht, im Reich des Zaren als eigene Nationalität gezählt, im österreichischen Galizien, in dem wir uns im Moment befinden, meines Wissens ganz ähnlich, wenn auch bei der Zählung der religiösen Bekenntnisse.
Der Weltkrieg bringt die Verhältnisse zum Tanzen
Diduschok muss gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs wieder zur k.u.k. Armee einberufen worden sein, denn es blieb den österreichischen Wehrersatzbehörden von Lemberg nicht allzu viel Zeit hierzu: Eher nach Tagen denn nach Wochen war, wie man so sagte, der Russe da. Oder anders ausgedrückt: Österreichs Armeen erlitten gleich in den ersten Kriegswochen eine herbe Niederlage nach der anderen, sodass sie sich in einem flotten Rückzug befanden, den man getrost auch als Flucht in Richtung Karpaten bezeichnen könnte.
Diesem österreichischen Rückzug verdanke ich eine russische Fotosammlung vom Oktober 1914 mit Aufnahmen aus dem besetzten West-Galizien einschließlich der Stadt Lemberg mit Straßen- und Marktszenen, die auch irgendwo in Niederösterreich hätten aufgenommen worden sein können. Saubere Straßen und Plätze und die Aufschriften an den Häusern auf deutsch. Noch. Ich war überrascht, denn ich hatte wegen der zeitgenössischen Schilderungen, die von Mordbrennen und Chaos zu berichten wussten, anderes erwartet. Besonders die auf dem Rückzug befindliche österreichische Armee soll eine breite Spur von Mord, Vergewaltigung und Plünderung hinter sich hergezogen haben. Hier in Lemberg wenigstens ist davon nichts zu sehen.
Wo genau sich unser Held während dieser Ereignisse befand, ja, ob er überhaupt hier in seiner Heimat in der Nähe dabei war, vermag ich nicht anzugeben. Irgendwo in dem Geschehen muss er gewesen sein, vermutlich als ein tapferer junger Offizier, denn er stieg, so sagt man, Schritt um Schritt vom Zugführer zum Kompaniechef und schließlich zum Führer eines Bataillons auf und wurde dabei bis zum Hauptmann befördert. Das wäre in Preußens Armee undenkbar gewesen, und auch in Österreich war es zumindest ungewöhnlich.
Das verflixte siebzehnte Jahr
An der deutsch-österreichischen Ostfront wurde in den Jahren 1915-17 mit unterschiedlicher Fortune gefochten. Überall dort, wo die Sache besonders hoch her ging, wurden in die wankenden Heeresmassen der Donaumonarchie preußische Verbände als Korsettstangen, wie man das damals nannte, eingezogen, so dass der Zusammenbruch des Verbündeten vermieden wurde.
Dann kam das verflixte Jahr 1917. In Russland brach die Februarrevolution aus, und der deutsche Generalstab tat alles in einer Macht stehende, um die russischen Soldaten zum Fortlaufen zu bewegen. Die österreichische Führung sah dem mit gemischten Gefühlen zu, denn sie ahnte sehr wohl, dass die deutschen Friedenstöne auch bei den eigenen Truppen Anklang finden würden. Man konnte es mit Händen greifen, denn es kam zu ausgedehnten Verbrüderungsszenen an der Front.
Der deutsche Nachrichtenoffizier Alexander Bauermeister forderte im Frühjahr 1917 die russischen Soldaten in einer Versammlung an der Ostfront mit Erfolg zum Abschluss eines separaten Waffenstillstands auf. Ob sich bei diesem Geschehen Basil Diduschok zum Seitenwechsel entschloss, kann man bestenfalls erahnen, denn die Angabe in seiner Biografie, dass er 1917 bei der in Auflösung befindlichen russischen Armee in Kriegsgefangenschaft geraten sei, erfüllt mich mit Unglauben. Kurze Zeit später, Anfang 1918, tauchte er wieder auf. In Kiew tritt er uns mit dem nagelneuen Dienstgrad eines Obristen der mit deutschem Segen eingesetzten ukrainischen Regierung entgegen.
Ich habe alle mir greifbaren Fotos vom Stab des kurzzeitigen Hetmans Skoropadskij und seines Stabes durchgesehen, ohne Diduschok zu entdecken. Bei zwei, drei Fotos bin ich mir nicht so sicher, aber ich will nicht nutzlos spekulieren.
Ich überspringe die weltpolitischen Implikationen dieses deutschen Ukraine-Abenteuers, das ab Ende 1918 in einem Bürgerkrieg jeder gegen jeden einmündete. Wer sich in dieses unglaubliche Chaos mit seinen haarsträubenden Gewalttaten einlesen will, der greife zum autobiografischen Roman Die weiße Garde von Michail Bulgakow, der als junger Arzt in Kiew alles aus unmittelbarer Nähe erlebt hat: Die Weißen, die Roten, die Grünen, den Straßenräuber Nestor Machno, und den Ukrainer-Führer Symon Petljura, zwischendrin Polen und Russen.
Als dieses alles passierte und letztlich die Bolschewiki, aus Russland kommend, die Oberhand gewannen, verschwand unser Held, der sich eben noch so deutlich exponiert hatte, wieder von der sichtbaren Oberfläche. Aber keine Bange, er ist nicht umgekommen, sondern nur untergetaucht.
Nach dem Abzug der Deutschen zum Jahreswechsel 1918/18 herrschte in Kiew die nackte Gewalt. Die jeweils neuen Herrscher gaben einander die Klinke in die Hand, so zum Beispiel der Anarchist Nestor Machno, polnische Generale im Auftrag von Pilsudski, dem neuen starken in Mann in Warschau, auch der neue Ukrainer-Führer Symon Petljura und schließlich die Bolschewiki-Führer, 1919 mit der Bahn nach der Eroberung durch die Rote Armee in Kiew anreisend, der polnisch-stämmige Felix Kon und der ebenfalls polnisch-stämmige, aus dem russischen Dienstadel kommende Tscheka-Funktionär Wjatscheslaw Menshinskij.
Der Illegale
Während sich die Sowjetmacht noch mit den verschiedenen ukrainischen Separatisten und den letzten russischen Monarchisten auf dem heutigen Gebiet der Ukraine und auf der Krim herumschlug, hatte Diduschok erneut die Zeichen der Zeit erkannt. Er trat in die Russische bolschewistische Partei WKP(b) ein und stellte dem Geheimdienst der Roten Armee, der späteren GRU, seine dort gefragten Talente zur Verfügung. Er wurde deren hauptberuflicher Agent.
Der Einsatzweg des Mannes gleicht einer wirren Hatz über die Landkarte von Asien und Europa. Zunächst in Rumänien und in Polen unterwegs, wurde er dort festgesetzt, zu drei Jahren Haft verurteilt, kam aber im Wege des Agentenaustauschs wieder auf freien Fuß. Es folgten Einsätze in der Mandschurei und in Finnland. Im Jahre 1931 befindet er sich in Deutschland und in Österreich, wobei seine Zielländer für Ausspähung und Einflussnahme erneut Rumänien und Polen sind. Im Mai 1932 wird er in Wien enttarnt und folgt Hals über Kopf einem Rückruf nach Moskau. In Moskau wurde Diduschok – ich nehme an: zu seiner Überraschung – verhaftet und am 2. September 1933 als verdächtiger feindlicher Agent zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde nicht vollstreckt, sondern in 10 Jahre Zwangsarbeit umgewandelt. Aus den Repressionsakten erfahren wir lediglich, dass er sich sodann in einem Lager an der sowjetisch-finnischen Grenze in Karelien befindet: Solowkij auf der Insel Solowezkij.
Lasst alle Hoffnung fahren
Hier unterbreche ich den Lebenslauf von Diduschok für ein paar Zeilen, denn ich vermute, dass der Leser, ebenso wie ich zuvor, nie von diesem Lager gehört hat. Mir diente, als ich den Lagerort jetzt zum ersten Mal las, ein sowjetischer Propaganda-Stummfilm aus dem Jahre 1929 als vager Wegweiser.
Die zu transportierende Botschaft des Films, dass auf diese Weise finstere Saboteure des sozialistischen Aufbaus zu wertvollen Genossen geformt würden, übergehe ich mal. Was von den Bildern übrig bliebt, ist dieses hier: Man wählte diesen abgelegenen Ort auf den unwirtlichen Inseln in der tief nach Süden reichenden Bucht des Weißen Meeres, um eine Flucht von vornherein unmöglich zu machen. Im übrigen ging es um Fischfang per Hand und das Einsalzen der Beute in Fässern, die für Leningrad und Moskau bestimmt waren. Wer nicht als Häftling dort lebte, sondern beispielsweise als Verbannter, durfte sein Leben auch anders fristen, vielleicht im Hafenladen oder auf der Pelztierfarm.
Hier im Zwangsarbeiterlager auf Solowkij, in heutigen Karten heißen die Inseln bevorzugt Solowezkij, traf der Held unserer Geschichte, Basil Diduschok, irgendwann nach seiner Ankunft auf seine beiden Brüder, Pjotr und Wladimir. Ich gehe auf die beiden ein, weil es uns vielleicht hilft, das Schicksal von Basil etwas besser zu verstehen.
Da ist zunächst der Zwillingsbruder von Basil, sein Name war Peter (Pjotr). Er studierte, so wie sein Bruder, Jura an der Universität Lemberg und Jahre später weiter an der Berliner Universität. Dort soll er 1921 eingeschrieben gewesen sein. Zwischendrin war auch er angeblich ein österreichischer Offizier, der sich 1917 von seiner Truppe absetzte, um in Kiew ukrainische Politik zu machen. Er sei, wird gesagt, Mitglied oder Mitarbeiter des kurzzeitigen Parlaments, der Zentral-Rada, gewesen.
Und dann? Erst nahm ich an, dass Pjotr sich zusammen mit dem Hetman von Kaisers Gnaden, Skoropadskij, mit den Ende 1918 zurückflutenden deutschen Truppen nach Deutschland absetzte, doch das ist nur bedingt wahrscheinlich, denn 1919 tauchte er angeblich – von wem auch immer bevollmächtigt – als Vertreter der Ukraine bei den Pariser Friedensverhandlungen auf. Da nannte er sich auf gut ukrainisch: Petro Diduschok (Дідушок Петро). Auch soll er die Ukraine auf einer Sozialistenkonferenz in Luzern im September 1917 vertreten haben. Das Mandat erledigte sich wahrscheinlich durch das Verschwinden seines Staates. Danach muss er sich nach Berlin abgesetzt haben, wo das ukrainische Exil sich zu sammeln begann.
Hier, in Berlin, spielte Pjotr eine politische Rolle als Sekretär der ukrainischen Sozialdemokratie. Er wechselte in dieser Zeit seinen Namen in Peter Helmer. Rätselhaft ist, warum er 1930 nach Moskau übersiedelte, um dort Leiter der Außenabteilung der Hauptdirektion der zivilen Luftflotte der Sowjetunion zu werden. Wer warb ihn dazu an und warum? Damit war es am 4. Dezember 1934 vorbei. Er wurde verhaftet und unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der ukrainischen Nationalistenbewegung OUN zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die sowjetischen Strafverfolgungsbehörden registrierten ihn unter dem Doppelnamen Diduschek-Gelmer (Дидушек Гельмер).
Bleibt noch der jüngere Bruder (Jahrgang 1897). Er hieß Wladimir. Er sei, so lese ich, frühzeitig nach der Revolution Mitglied der Bolschewiki, WKP(b), geworden. Eine Porträtfotografie zeigt ihn in sowjetischer Uniform mit Dienstgradabzeichen, die bis 1935 denen eines Oberstleutnants entsprechen. Ich kann nicht genau sagen, ob er die Kleidung der Roten Armee oder die der Geheimpolizei (Tscheka-GPU-OGPU) anhat. Sähe man eine blaue Hose und Mütze zum braunen Uniformrock, so würde man gleich sagen: Aha, ein Tschekist. Aber über diese Phase seines Lebens ist nichts berichtet worden. Es wird lediglich gesagt, dass er schließlich in einer vermutlich untergeordneten Funktion in Kiew in der staatlichen Wirtschaftsverwaltung war, wo er verhaftet wurde, um am 29. Dezember 1935 zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt zu werden.
Schuss ins Hinterhaupt
Was dann stattfand, kann ich nur aus den in der Akte ›Дидушек Василь Федорович‹ und in parallelen Vorgängen mitgeteilten Ergebnissen schlussfolgern: Dort im hohen Norden war schließlich auch die berüchtigte Stalinistische Große Säuberung angekommen. Ein führender Funktionär des Bezirks Leningrad, zu dem das NKWD-Lager Solowkij gehörte, wollte wohl seinen Oberen das Erreichen der Quote der Wachsamkeit melden, vielleicht auch den Plan übererfüllen. Also entschloss er sich, eine Sondertroika (= drei NKWD-Beamte, die gleichzeitig die Gerichtsinstanz sind) zu veranstalten und die Urteile gegen 1116 Häftlinge in die Todesstrafe umzuwandeln. Ein Mitglied dieser Sonder-Troika ist namentlich zu ermitteln. Es war der Staatsanwalt für das Leningrader Gebiet Boris Pawlowitsch Posern (Позерн Борис Павлович – 1893-1938). Ob auch der zuständige Mann für die Lager, der Stellvertretende Leiter der Wirtschaftsverwaltung des NKWD für das Gebiet Leningrad, Michail Rodonowitsch Matwejew ( 1892-1971) zu diesem Mördertrio gehörte, vermag ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Dafür aber, dass Matwejew sich eigenhändig an den Exekutionen in bedeutendem Umfang beteiligte und hierfür hernach als Belobigung ein Radio nebst Schallplatten geschenkt bekam. Das war seinerzeit in der Sowjetunion ein Geschenk der Extraklasse.
Die Exekutionen fanden zwischen Ende Oktober und Anfang November 1937 am Bärenberg in den Wäldern von Karelien statt. Am 3. November 1938 waren auch die drei Brüder Diduschok an der Reihe. Sie wurden von einem Exekutionskommando hinterrücks durch Kopfschuss getötet. Was mit den Leichen geschah, ist umstritten. Von dem Vorgang selbst existieren keine Aufnahmen. Von den Tätern hingegen schon. Dieser Massenmord wurde in der Sowjetunion strikt geheim gehalten. Es ließ sich allerdings nicht vermeiden, dass sich unter der Hand herumsprach, was vorging, wenn auch kaum einer das Ausmaß der Erschießungen ahnen konnte. Allein im Jahre 1937 fielen nach jüngeren Zählungen annähernd 400 000 Männer und Frauen der Großen Säuberung zum Opfer.
Die Mörder wussten genau, dass sie unter der Maske des Kampfes gegen die Konterrevolution Unrecht taten. Sie verlegten den Ort ihres Verbrechens in eine Gegend fernab der Zivilisation mit einer Anreise vom Straflager mit 60 Kilometern Schiffspassage zur Hafenstadt Kem und danach rund 300 Kilometern durch die Wildnis. Doch auch im Fall der Morde in Karelien kam letztlich ans Licht, was vorgefallen war. Der Exekutionsplatz in den lichten Kiefernwäldern trägt die Bezeichnung Sandarmoch (Сандaрмох, manche schreiben auch Sandormoch – Сандормох). Der Name ist heute zugleich ein Synonym für das Verbrechen geworden. Die dortige Gedenkstätte mit ihren verstreuten Namenstafeln wird von Angehörigen der Opfer liebevoll betreut.
Nachklang
Keine Geschichte ist so profan, dass die Nachwelt nicht noch eins daraufsetzen könnte. Als mir Basil Diduschok vor rund 20 Jahren beim Schreiben des Geheimdienst-Lexikons als Diduschek zum ersten Male über den Weg lief, hielt ich ihn für das typische Beispiel eines sprachgewandten, gebildeten Auslandsagenten der GRU aus deren Anfangsjahren, der dann in den 1930er Jahren der sowjetischen Spionitis zum Opfer fiel.
Damals ahnte ich noch nicht, dass aus einem schlichten, aber unschönen Agentenleben einmal ein blaugelber Nationalheld namens Diduschok werden könnte, für den im Internet russisch-ukrainische Schlachten geschlagen werden. Sachen gibt es.
Deswegen noch einmal zurück zu unserm Ausgangsfall: Basil wird 1932 aus Wien in die Sowjetunion zurückgerufen, dort verhaftet und bald drauf zum Tode verurteilt. Aber warum? Nehmen wir einmal an, es gab Grund, ihm zu misstrauen. Er könnte auf zwei Schultern getragen haben: neben der sowjetischen auf einer ukrainisch-nationalistischen. Sein Job bei der GRU bot nahezu ideale Voraussetzungen für ein solches Doppelspiel. Ich sage nicht, dass es so war, aber seine von Berufs wegen misstrauischen Vorgesetzten könnten es angenommen haben. Sie hatten in den 1920er/30er Jahren allen Anlass zu solchem Misstrauen, denn die ukrainische Separatistenbewegung OUN unter Jewgenij Konowalez war Realität und kein purer sowjetischer Verfolgungswahn.
Was war nun mit dem Zwillingsbruder? Wo war er, was tat er? Bevor wir nichts Genaues wissen, bleiben wir auf Spekulationen angewiesen. Aber hier scheint der Schlüssel für das Rätsel der Gebrüder Diduschok zu liegen. Der Leser sieht: ich habe noch zu tun.
[***** Hinweise auf ausgewählte Quellen: Unverzichtbar für den Einstieg in sowjetische Agenten-Karrieren sind die Listen der verschiedenen russischen Opferorganisationen, die indessen Zurückhaltung gegenüber den Repressierten aus den sog. Organen wahren. Kann man verstehen. Von einer gewissen Nonchalance sind die russischen Forschungen von Kolpakidi et al. (Enziklopedija sowie Imperija GRU) und von Lurje et al. (GRU sowie Repress). Zur propagandistischen Unterwanderung der russischen Seite im Ersten Weltkrieg habe ich zum Beispiel auf den Gempp-Bericht im Deutschen Militärarchiv und auf die Arbeiten des ehemaligen deutschen Geheimdienst-Offiziers Alexander Bauermeister, der unter dem Pen-Namen Agricola publizierte, zurückgegriffen. Zum Zustand der österreichischen Armee im Ersten Weltkrieg und zur den Kämpfen an der Ostfront gibt es reiches Quellenmaterial, zu dem ich im Bedarfsfall gerne Auskunft erteile. Im Detail: Kolpakidi u.a.: Imperija GRU, Bd. 2, Biografii, S. 146-282; Lurje u.a.: GRU, S. 506; ru.openlist.wiki/Дидушек_Василий_Федорович_(1897) [hier: andere Geburtsjahre: 1897 o. 1899, beide können nicht stimmen]; sand.mapofmemory.org/biography/?b_id=6828.]