von Ulrich Siebgeber
Es liegt etwas in der Luft. Finden Sie nicht auch? Corona – man mag das Wort nicht mehr hinschreiben, die Berufsschreiber schnauben ohnehin verächtlich, weil sie als brave Schüler den Unterschied zwischen Erreger (SARS-CoV-2) und Krankheit (Covid-19) gelernt haben und nicht mehr auslassen –, Corona, der Schwarze Schwan, der game changer der Weltökonomie und der politischen Systeme, von den privaten Lebensläufen, den Todesfällen ohnehin, einmal abgesehen, hat seine letzte Trumpfkarte noch nicht ausgespielt… Corona steht uns noch bevor, wie die Kanzlerin zu betonen pflegt.
Wenn selbst das Bundeswahlgesetz, wie man liest, im Hinblick auf die nächste Bundestagswahl geändert werden soll, dann scheint eine längerfristige Liaison zwischen dem, laut Heinsberg-Studie, 0,37-Prozent-Killervirus und diesem Gemeinwesen, der Res Publica Foederata Germaniae, aber gewiss auch anderen Staaten der Hemisphäre ins Haus zu stehen.
Wer weiß, was uns noch bevorsteht – keiner weiß es, jedenfalls scheint es so. Vielleicht weiß es das Kanzleramt, vielleicht Herr Spahn oder Herr Altmaier oder die zielstrebige Frau Högl, vielleicht einer der vielen unsichtbaren Strippenzieher der Macht, aber vielleicht weiß, wer es zufällig weiß, nicht wirklich, was er da weiß, und weiß deshalb zwar mehr, aber doch eben in der bewussten Sache ebenso wenig wie ich und du. Ich persönlich lese an meinen schreibenden Freunden ab, dass etwas in der Luft liegt.
Ich will nicht sagen, dass ihnen nichts einfällt. Im Gegenteil, just in diesen Tagen fällt ihnen immer etwas Neues ein. Aber wenn man genauer hinsieht, dann ist es doch wieder das Alte, aufgepeppt mit einer neuen Statistik oder einer neuen Anekdote oder einer neuen Entschiedenheit, die merkwürdig an die sonst so verächtlich ›Verschwörungstheoretiker‹ genannten Kollegen von der one-person-one-show-Front erinnert … sie tasten sich an etwas heran, etwas bis vor kurzem Undenkbares, einen neuen Ernstfall, einen GAU, nur dass er nicht vom Atom ausgeht, sondern vom Zentrum der Macht … nein, auch das stimmt nicht, eher geht es, wie alle Macht, wenn man das Grundgesetz ernst nimmt, vom Volke aus, genauer gesagt, von jenem Teil, der von seinen Regierenden um jeden Preis geschützt werden möchte – geschützt, aber auch bewahrt und verwahrt, wenn man den Umfragen glauben schenken darf: Es geht ein Verwahrungseifer im Volke um, der jeden, der sich gegen ihn verwahrt, am liebsten gleich in Schutz- oder Beuge- oder Isohaft nehmen möchte.
Die Leute haben Angst. Nein, so ist das nicht. Viele Leute haben Angst, das ist einfach so, und je länger sie Angst haben, desto stärker wächst in ihnen die Angst, die Angst könne ihnen abhanden kommen und sie müssten allmählich anfangen, sich vor dem fürchten, was nach der Angst kommt, die Arbeitslosigkeit etwa oder die Betriebspleite oder der totale Überwachungsstaat oder der Chip unter der Haut oder die Dritte Deutsche Diktatur oder der finale Crash des kapitalistischen Weltsystems.
Bei dieser Vorstellung immerhin richten sich einige politisch Motivierte wieder auf und fangen vorsichtig an zu jubilieren, damit nicht Herr … oder Frau … ihren Parteiausschluss fordert. So weit ist es gekommen. Einfache Leute treten aus ihrer Partei aus, um dem imaginierten Parteiausschluss zuvorzukommen. Nein, auch das ist nicht richtig. Sie treten aus Angst aus, in der falschen Partei zu sitzen und erkannt zu werden. Auch solche Ängste sollte man nicht geringschätzen. In früheren Krisen waren die Deutschen das Volk, das von seiner Angst nicht genug bekommen konnte. Heute hingegen sind sie das Volk, das davor Angst hat, nicht über genügend Angst zu verfügen, und deshalb Angst bekommen könnte – richtige Angst, nicht diese Weltrettungsangst, vor der einem auch angst und bange werden darf, aber ein anderes Mal.
Wovor fürchten sich die Leute? Nun, ich will niemanden auf die Folter spannen: Sie fürchten sich vor dem Ende der Ära Merkel. Wie das? Hat die Kanzlerin sie nicht mustergültig auf ihren Abgang vorbereitet? Scharren die Nachfolger nicht bereits mit den Hufen? Tragen sie nicht die Corona-Schützer, als hätten sie darin ihre persönliche Zukunft und die des Wirtschaftsstandorts Deutschland eingetütet? Nützt alles nichts. Die Angst wächst und wächst und … ehrlich gesagt, es scheint eine Stellvertreter-Angst zu sein, die Angst, die Kanzlerin selbst könnte Angst vor ihrem kommenden Abgang bekommen haben oder sie könnte sich einfach nichts darunter – oder dahinter – vorstellen. Diese Pandemie – auch in ihr steckt nun einmal, wie der Igel im Märchen vom Wettrennen zwischen Hase und Igel, der altvertraute ›demos‹ – ist ja doch zu einem wahrhaft kuriosen Zeitpunkt losgebrochen: auf dem Höhepunkt der Erwartung, es müsse nun endlich, angesichts des Krisen-Staus der vergangenen Jahre (EZB, Flüchtlinge, Energie, EU, deutsch-amerikanisches Verhältnis, Klima), etwas geschehen, und zugleich der Vorweg-Enttäuschung in Anbetracht der zu erwartenden Szenarien. So dass sich ganz von selbst die Frage »Wird sie’s noch einmal machen?« mit der Frage verband: »Wie wird sie’s noch einmal machen?«
Hand aufs Herz: Noch nie ist ein Bundeskanzler freiwillig zum Ende einer Legislaturperiode aus dem Amt geschieden. Die Partei, die die Kanzlerin stellt, hat ein Recht darauf, mit dem Amtsbonus in die Schlacht zu ziehen, vielleicht kein verbrieftes, aber ein starkes. Warum sollte das nächstes Mal anders sein? Andererseits: Noch nie hatten Halbzeit-Umfragen die Regierungsparteien so in den Keller geschickt wie vor Corona – ein Desaster, kein Zweifel, das Maßnahmen nach sich ziehen muss.
In dieser Situation wirkt Corona – und vor allem die Angst davor – wie ein Jungbrunnen für die Regierenden: das Land ein Siechenhaus, in dem flüsternd Krankenstände herumgereicht werden und führende Virologen den Noch-nicht-Patienten die Welt samt eigenen Überlebenschancen erläutern, in dem Menschen, denen nichts weiter fehlt als der gewohnte Auslauf, Sinnkrisen erleben und gestalten dürfen, weil es sonst für sie nichts zu tun gibt, ein Land, in dem, manchem graust es da doch, die Zustimmungsraten zur ›Lockdown‹-Politik und ihren forscheren Protagonisten förmlich explodieren. Es wäre ein wenig viel von den Regierenden, allen voran der Kanzlerin, verlangt, bei steigenden Umfragewerten den Fuß vom Pedal zu nehmen, wäre da nicht die langsam ungehaltene Wirtschaft auf der einen, die Corona aufmüpfiger Fachmediziner mit ihrem wachsenden Anhang auf der anderen Seite, von denen, gestützt auf das offizielle, bloß abweichend gedeutete Zahlenmaterial, die Jahrhundert-Pandemie längst zu ›etwas in der Art‹ einer heftigen Grippewelle heruntergestuft wird … auf den meisten Kanälen hört man es anders, aber so hört man’s auch, niemand kann wissen, was sich daraus mit welcher Dynamik entwickelt, und nicht jeder Provinzfürst, nicht jede Provinzfürstin sonnt sich bereits im Herbst der Ambitionen. Sollte sich also herausstellen, dass das penible Seuchen-Management mit ausgesetzten Bürgerrechten, degradierten Parlamenten und einem einsetzenden Wirtschaftsabsturz im Gepäck, der sich gewaschen hat, eventuell doch einem ›Hoax‹ zu verdanken wäre, wie die Washington Times am 28. April keckerweise in einem Meinungsartikel über den Hype, nicht das in seiner Gefährlichkeit unbestrittene Virus schrieb – dem »biggest political hoax in history« –, dann, ja dann…
… erhöben sich Fragen. Wie immer die Regierungen in Paris, Rom, Madrid und anderswo das Problem, so es auf sie zukommen sollte, angehen werden –: in Deutschland ist es so unauflöslich mit dem Endlos-Abgang der Kanzlerin – und der sie tragenden Koalition – verquickt, dass mehr oder weniger heimlich auch der harmloseste Beobachter die in den letzten Wochen ergriffenen und weiter zu ergreifenden Maßnahmen auf die Gefahren hin abklopft, die der grundgesetzlichen Ordnung und damit der Demokratie in diesem Lande von ihnen drohen könnten. Schließlich gibt es Anzeichen dafür, dass sogar die Verfassungsgerichte allmählich von einer gewissen Unruhe ergriffen werden – aufgescheucht durch eine nicht unbeträchtliche Klagewelle, die, gleichgültig, wie Corona sich noch entwickelt, erst am Anfang stehen dürfte, um es in den Worten der Kanzlerin auszudrücken.
So steht es um meine schreibenden Freunde. Einige haben Angst, sich zu verplappern – die einen, zu früh, ohne ausreichend begründbaren Verdacht, den Warnknopf zu drücken und einen Reputationsverlust zu erleiden, den sie nicht mehr wettmachen könnten, die anderen, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen und im allseitigen Schrillen der Alarmsirenen kein Gehör mehr zu finden: Sie haben Angst, die Ärmsten, Angst vor der Angst vor der Angst, Angst zu haben und damit auf dem Schrotthaufen falscher Verdächte sitzen zu bleiben, während die Karawane, mit oder ohne Virus, mit oder ohne Hausfeind, mit oder ohne unsichtbare Begleiter weiterzieht. Und vielleicht ist auch diese Angst nur der Vorhang vor einer weiteren, tiefer gehenden, tiefer schürfenden, der noch immer das Menetekel einer doppelten Vergangenheit präsent ist: in nicht allzu ferner Zukunft aufzuwachen in einem Staat, in dem alles, was je von einem gesammelt, was je gedruckt, was je geschrieben oder gesagt wurde, gegen einen verwendet werden kann und Folgen zeitigt, die sich der Einzelne nur schwer ausmalen kann, es sei denn, er wäre bereits ein gebranntes Kind. Diese hypothetische, aber nicht völlig aus der Luft gegriffene Angst ist vielleicht die reellste von allen, weil sie am stärksten in von Natur aus ängstlichen Gemütern wütet, also gerade solchen, die in normalen Zeiten zu den loyalsten Stützen des politischen Systems zählen.
Zu lange schon dauert dieser Abgang. Er ist, im Zeichen medizinischer All-Betreuung und flankiert von ›Aufbruch‹-Phantastereien einiger Polit-Visionäre, gerade dabei, ein paar der demokratischen Prozeduren zu überschreiben, derer alle bedürfen, um sich als verantwortliche und loyale Bürger dieses Landes halbwegs sicher zu fühlen. Mag sein, dass die Ränder des politischen Spektrums, deren Exponenten mental bereits in einer anderen Republik leben, als erste zu zucken beginnen.
Das muss nicht so bleiben. Gut möglich, dass die Regierenden sich auf schwere Stürme einrichten sollten.