leicht fällt es mir zuzugeben, dass ich dich noch niemals geduzt habe, auch nicht gedenke, es ein weiteres Mal zu tun. Aber nun, da du tot bist und es mit aller Siezerei ein Ende hat, soll es einmal so sein. Nein, du hast mir nicht imponiert, damals, als du dein Amt als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland das erste Mal antratest, deine ›geistig-moralische Wende‹ schielte allzu sehr auf die geistig und moralisch zu kurz Gekommenen, und deine Sprache… Ich würde gern über deine Sprache sprechen, doch etwas hindert mich daran, es zu tun.
Was könnte das sein? Ja, sie war mir peinlich, nicht mir allein, sie war damals vielen peinlich, die etwas von öffentlicher Sprache, überhaupt von Sprache verstanden. Kein deutscher Kanzler hat vor dir so gestammelt, sich so im Metapherngewirr verheddert, so schräg formuliert – heute, vor dem Hintergrund dessen, was sich in deiner Nachfolge eingerichtet hat, liest sich das meiste davon ganz passabel, vor allem vernünftig, es hat, historisch gesehen, an Vernunft gewonnen, was es an Plattheit … nein, nicht eingebüßt hat, da sei der Sprachgeist Goethes, Heines und Helmut Schmidts vor. Was dann?
Vergessen ist, dass eine andere deutsche Autorität, Jürgen Habermas, dich einst in einem Anfall geistig-moralischer Umnachtung als Wegbereiter des Dritten Weltkriegs apostrophierte. Nicht vergessen ist das geistig-moralische Wetttauchen, mit dem die damalige Enkel-Generation der SPD, allen voran Oskar Lafontaine, sich Anfang der Neunziger vom Zugang zur Macht ausschloss, nachdem sie sich bereits von der Geschichte ausgeschlossen hatte, als die Mauer offen und das Herrschaftsgebiet des Ostberliner Politbüros zur Disposition stand. Nicht vergessen ist auch, was sich westdeutsche Intellektuelle, allen voran der robuste Herr Grass, damals an verschrobenem Zeug abbrachen, um nicht, wie sie fürchteten, auf dem falschen – nationalistischen – Bein erwischt zu werden. Nicht vergessen ist, wie sich Autoren Ost, die im Westen jahrelang als Dissidenten verkauft worden waren, als die letzten Stützen des Systems an die Mikrophone begaben. Nicht vergessen ist auch die Berater-Runde, mit der sich Frau Thatcher, die treue Verbündete im Westen, damals umgab, um zu sondieren, ob man den Deutschen einen eigenen Staat anvertrauen könne. Heute, ein Vierteljahrhundert danach und um die Erfahrungen der Merkel-Ära reicher, rücken einem ihre Bedenken näher…
Damals lernte ich dich schätzen. Verblüfft, ich gestehe es, war ich über dein 10-Punkte-Programm, einen Geniestreich, über den die westdeutschen Gazetten, politisch ebenso desorientiert wie heute, zu höhnen wagten und der sich prompt als Türöffner der Einheit erwies. Plötzlich stimmten deine Gesten, sie hatten Sitz und besaßen ihre eigene Würde, sie waren imstande, einen Gorbatschow zu beeindrucken und mit denen Mitterrands zu wetteifern, selbst die Rede hellte sich hier und da auf: »Blühende Landschaften« – wer aus dem Westen sich die Mühe machte, die Innenstädte der DDR oder das, was von ihnen übriggeblieben war, zu durchstreifen, wer gesehen hatte, wie das Wasser zu den Dächern hinein- und unten aus den Häusern wieder herauslief, soweit es nicht in den Kellern stieg, wer die Erfurter Altstadt, diesen Altstadt-Kadaver, dessen Abräumung die Bürger noch kurz vor dem Ende der ›Republik‹ mit physischem Einsatz verhindert hatten, mit eigenen Augen erkundet hatte, wer Bitterfeld kannte, der wusste sehr wohl, was dieser Ausdruck bedeutete und dass sich vor der Geschichte unendlich blamieren würde, wer hier Einspruch erhob oder dümmliche Witze machte. Du hast den Deutschen einen Staat gegeben, den ihre Intellektuellen nicht wollten, und ihnen dafür die Intellektuellen genommen, an denen in diesem Staat kein Bedarf mehr war, weil Herr Gysi ihre Rolle ganz allein auszufüllen vermochte, noch dazu mit einer Partei im Hintergrund, die sich als das wahre Chamäleon der kommenden Jahrzehnte erweisen sollte. (Herrn Biermann, die leuchtende Ausnahme, rechne ich hier nicht unter die Intellektuellen, ebensowenig Herrn Sloterdijk, der zu schnell schreibt, um gelesen zu werden, man sieht nur den Blitz, der dahinfährt, und denkt sich: den kenn’ ich vom Fernsehen.)
Jetzt rühmen sie alle den ›großen Europäer‹ – zu Recht, wenn es um die Aufnahme der Länder Mitteleuropas in den großen Einheitstopf EU geht, zu Unrecht, wenn man den Riss betrachtet, der durch die misslungene Einheitswährung, den Euro, in ihn hineinkam. Ob du wirklich den Rat der Experten in den Wind geschlagen hast, weil der französische Freund so schön bitten oder drohen oder drängen oder alles drei konnte, oder ob du aus schierer Gleichgültigkeit gegen das Kleingedruckte den großen Linien der Geschichte zu folgen gedachtest, wird sich wohl nie mehr richtig herausfinden lassen. Es ist geschehen, lassen wir die Geschichte ruhen. Am Schäublismo, dem verbissen fortgesetzten Versuch, Klein-Klein-Europa – die Eurozone – durch immer neue notwendig werdende Reparaturleistungen am fiskalischen System in eine Einheit hineinzuzwingen, die von den Bevölkerungen nicht gewollt und vom restlichen Europa mit mildem Kopfschütteln betrachtet wird, gebe ich dir keine Schuld. Du hast nichts damit zu tun. Mit dir hätte es keinen Kontrollverlust an den Grenzen, mit dir hätte es keinen Brexit gegeben. Was es gegeben hätte – wer will das wissen? Du warst ja ohnehin zu lang an der Macht.