Einer der hellsichtigsten und verblendetsten Menschen, die je gelebt haben, Friedrich Nietzsche, sah die kommenden deutschen Niederlagen voraus und wollte dabei sein – was ihm mehr oder weniger gelang, als Stachel im Fleisch der Unterlegenen, die doch auch Gewinner sein wollten, und als Stichwortgeber der Wahnsinnigen, die das Land samt seinen und ihren Opfern in den Untergang peitschten. Nietzsches Andenken zerstören wollte die DDR, in einer dialektischen Volte gelang es ihr, sein Werk, durch die Bemühungen der italienischen Herausgeber Colli und Montinari von den Schlacken früherer Vereinnahmungen gereinigt, den interessierten Zeitgenossen mustergültig zu überantworten. So kann es gehen, wenn Denken verfügt wird. Die letzten irregeleiteten Schmuddel-Ururenkel des Philosophen sind womöglich jene Figuren der Nacht und der Internet-Anonymität, die ihren verunglückten Hass auf deutsche Autoritäten in Parolen und Handlungen ausmünzen, auf die der Ausdruck ›ehrlos‹ wahrscheinlich ebenso passt wie das Werkeln des Hufschmieds zum manipulierten Abgasmanagement eines modernen Mittelklasse-Autos.
Derselbe sächsische Friederich erfand für den Hausgebrauch der deutschen Intellektuellen und der von ihnen geblendeten Klasse die hochfahrende Rede von ›uns Europäern‹, welche den Persilschein für alle Schlaumeier gleich mitenthielt, die der Rede von der neuen Erbschuld viel, nur nicht für sich selbst abgewinnen konnten. Dieses gebildete ›Bewusstsein‹, das außerhalb der Landesgrenzen seinesgleichen sucht und innerhalb ihrer den Hohn und das Kopfschütteln aller umworbenen Neubürger hervorruft, will um keinen Preis wahrhaben, dass sein Europa, vorsichtig gesprochen, in allen Teilen auf dem Prüfstand steht: in Teilen und keineswegs im Ganzen, wie sich das vornehme Bewusstsein seit Jahren einzubläuen versucht. So kommt es, dass hierzulande als Europagegner und Europafeind gilt, wer etwas gegen die Konstruktion der Gemeinschaftswährung, die bürokratische Selbstherrlichkeit der Eurokratie, die EU-Grenzpolitik oder auch nur die Beschlüsse des letzten EU-Gipfels oder eines deutsch-französischen Arbeitstreffens vorzubringen weiß. Das ist bequem für alle, die der Vorwurf schützt und insofern ein Gemeinplatz der europäischen Politik, der aber binnen Wochen spurlos diffundieren würde, nähme man das deutsche Sonderbewusstsein aus dem Spiel, diese kostbare Substanz des europäischen Einigungsprozesses, der, für alle sichtbar, längst keiner mehr ist. Was ist er dann? Eine Simulation? Das wäre zu wenig, wie die europäischen Streitkräfte in nuce gerade wieder beweisen, die immer auch solche in spe sind und bleiben sollen. Eine Hoffnung? Das schon eher, vor allem, wenn man hinzusetzt, dass es sich um eine enttäuschte handelt, vielleicht, wer weiß, eine enttäuschende, am Ende auch nur eine täuschende, die niemanden täuscht, da Europa – das gebildete ebenso wie das ungebildete – seine Pappenheimer kennt und fest mit ihnen rechnet. Eine Realität gewordene Hoffnung also, aus der die Hoffnung entschwunden ist, aber nicht ganz, weil sonst die Realität sich als weithin leere Hoffnung erweisen würde. Für diese europäische Realität, die nicht genügen darf, es sei denn, man ›verstünde‹ sie weiterhin als vernunft- und wertegetriebenen Prozess, der das Beste noch vor sich hat, um nicht eingestehen zu müssen, dass längst die Furcht vor dem, was da kommen wird, in den Herzen der Europäer nistet, hat der Europäer Nietzsche bekanntlich die Bezeichnung ›Nihilismus‹ bereitgestellt.
Denn das Projekt Europa ist älter als das europäische Einigungswerk der vergangenen Jahrzehnte. Seine ideologischen Anfänge liegen im Universalismus der Französischen Revolution und seiner praktischen Umsetzung im Geltungsbereich des Code Napoléon ebenso zutage wie in der politischen Romantik, zu deren frühen Hauptschriften Novalis’ Aufsatz Die Christenheit oder Europa zählt. Der gern monierte Eurozentrismus des neunzehnten Jahrhunderts ist weniger der Enge des Blicks der Akteure als dem von Norbert Elias so inbrünstig beschriebenen ›Prozess der Zivilisation‹ geschuldet, der manche für kurze Zeit vergessen ließ, dass er auch immer mit Kanonen erzwungen wurde – erst gegen den religiös gewappneten Traditionalismus der eigenen Bevölkerungen, dann gegen den ›bunten Flickenteppich‹ der außereuropäischen Kulturen, denen das Berliner Humboldtforum ein sprechendes Zuhause zu geben verspricht. Der (zivil-)religiös verbrämte Nationalismus war nicht der Feind, sondern – zu seiner Zeit – eine treibende Kraft dieses Prozesses, die unter dem Ansturm des Faschismus, für gewisse Hardliner erst in seiner Niederlage ihren Glanz verlor. Hegels Dialektik – schweigen wir von Hegels Dialektik, es könnte die jungen Leute verwirren, die mental irgendwie weiter zu sein glauben, sie könnten sich als Opfer dieser intellektuellen Welteroberungsmaschine entdecken und das bekäme der rasierten Wahrheit ebenso wenig wie der ›Dekonstruktion‹, die sie in ihren Seminaren gelernt haben – der Schwundform aller Dialektik, in der ihre Finalisierungstendenz mitsamt Aporien krass zutage tritt.
Nihilist ist, wer an alles Mögliche glaubt, nur nicht an die Werte, an die zu glauben er vorgibt, vorgeben muss, weil ihm nur dieser Trick erlaubt, weiterhin alles Mögliche zu glauben und den Traum der Vernunft ›zeitgleich‹ auf dem Verordnungsweg zu befördern. Das mag dem einen oder anderen kompliziert oder sogar wirr erscheinen, aber es entwirrt sich bei näherem Hinsehen rasch und praktisch von selbst, und darauf – aufs Praktische – kommt es doch an oder? So ist der Europäer Juncker vermutlich der europäischste aller Politiker, so wie Nietzsche der europäischste aller Philosophen: Er ist es, der aus allen europäischen Niederlagen im voraus Gewinn zieht. Wie er das macht? Schlag nach bei Nietzsche: Der neue Herr kennt mich noch nicht? Er soll mich kennenlernen. Was er da kennenlernt, ich könnte es ihm an einem Nachmittag beibringen, aber das wäre Verrat am Prozess, der für beide Seiten schmerzhaft sein muss, denn – ich will seine Seele. Die Seele des Nihilismus ist das Versprechen, die Welt von ihm zu befreien. Dieses Versprechen soll überdauern, am besten den, der für seine Dauer einsteht.
Derselbe Juncker besitzt, wie jeder weiß, einen Zwilling, den Deutschen Schulz, der gerade, wie man hört, für ein höheres Amt im Gespräch ist. Dieses höhere Amt kann kein europäisches sein, denn alle Ämter, die Europa zu vergeben hat, rangieren weit unter dem, was wir Europäer unter uns zu vergeben haben – wenigstens das sind ›wir‹ unserem Europäertum schuldig.