Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Herbert Ammon

I.

Den dritten Teil dieses Textes bildet die Rezension eines Buches, das unter dem Eindruck des – seit Ende August 2015 von Bundeskanzlerin Merkel unbedacht (?) forcierten – Zustroms von Flüchtlingen und/oder Migranten produziert wurde. Diese Buchbesprechung ist auch als Replik auf den vor kurzem in Globkult (08.12.2015) veröffentlichten Beitrag von Werner Stanglmeier Erste Hilfe(n) zu lesen.

Ich kann mich den von Stanglmeier vorgetragenen Argumenten, illustriert durch allerlei Details zu persönlichen Erfahrungen mit ›Flüchtlings- und Integrationsarbeit‹, nicht kritiklos anschließen. Der mit Emphase geschriebene Text lässt – mit Ausnahme der Verweise auf die US- Intervention im Irak 2003 sowie auf die hohen Geburtsraten in Ländern wie Afghanistan – eine historisch-politische Analyse der Thematik vermissen. Er enthält zudem kein überzeugendes Konzept für die Zukunft – weder für die ehedem als ›Dritte Welt‹ bezeichneten Armutszonen noch für das von neuen Unsicherheiten und Imbalancen gefährdete Einwanderungsziel Europa noch für die ›Eine Welt‹.

Um ein Missverständnis seitens einiger böswilliger – oder naiver – Leser auszuschließen: Bei einer Adventsveranstaltung im Zehlendorfer Kohlenkeller, wo unlängst mein alter Weggefährte Stanglmeier – unter Bezug auf seine bayerisch-katholische Sozialisation – zu Spenden zugunsten der UNHCR für in nahöstlichen Lagern ausharrende syrische Flüchtlinge aufrief, öffnete ich mein Portemonnaie, in der begründeten Hoffnung, dass die Spende – das moderne Ablassgeld – bei den Notleidenden auch ankommt. Angesichts der Weihnachtszeit und der von allen Seiten eintreffenden Spendenappelle ist mir, im Unterschied zu manchen Aktivisten (w/m), die Symbolhaftigkeit des Ganzen wohl bewusst: Der Tropfen auf denn heißen Stein beruhigt nur das – vorerst, wie lange noch? – wohlstandsgesättigte Gewissen. (Siehe dazu auch meine Blogeinträge: http://herbert-ammon.blogspot.de/2014/06/zum-protestantischen-ablasshandel.htmlhttp://herbert-ammon.blogspot.de/2015/09/kritik-der-grundeutschen-gewissenskultur.html)

II.

Von guter Gesinnung getragenes Verständnis für die Schicksale der Flüchtlinge/Migranten versperrt den Blick für die politisch – auch moralisch – heiklen Aspekte der Fluchtbewegungen. Als Aktivist der ›Willkommenskultur‹ übergeht Stanglmeier viele mit der massiven Einwanderung von Menschen mit höchst unterschiedlichem kulturellen Hintergrund verknüpften Probleme und Konfliktmomente. Mit der unlängst auch von einem katholischen Bischof proklamierten, sodann teilrevidierten Parole ›Wir müssen uns ändern!‹ werden die mit der Immigration in die westeuropäischen EU-Länder, insbesondere nach Deutschland, verbundenen Probleme in ihrer Komplexität nicht erfasst, geschweige denn gelöst.

Von den – sich auf der untersten Ebene der sozialen Skala an den ›Tafeln‹ für die zunehmende Zahl von Obdachlosen und Verarmenden bereits manifestierenden – Verteilungskämpfen abgesehen, wird das Problem kultureller Integration allenfalls in pittoresker Manier angerissen. Integrativ intendierter Hiphop, dazu Koran und Rotwein – womöglich angereichert mit Rezitationen von Versen von Omar Khayyam und von Hafis sowie mit Toasts auf die Niedermayer-Hentig-Expedition – vermitteln noch keine Bindung an die von Stanglmeier seinem Alt-68er ›internationalistischen‹ Optimismus zum Trotz offenbar geteilten ›Werte‹ der westlich-aufgeklärten Gesellschaft. Oder hängt er weiterhin dem linksgrünen Begriff von ›Multikulti‹ an? Zu erinnern ist hier an Mother Merkel´s politische Versatilität: ›Multikulti ist gescheitert‹, anno 2008. Inzwischen hält sie die Einwanderer für kulturell bereichernd. Was die kulturelle Integrationskraft ihres Landes angeht, verkündet sie – ungeachtet der durch ›Zuwanderung‹ bereits erheblich veränderten Bevölkerungsstruktur – in gleichem Atemzug: ›Wir sind 80 Millionen‹.

Womöglich gibt es, wie Stanglmeier geradeheraus postuliert, angesichts des Bevölkerungsdrucks in vielen Ländern des Globus keine Alternative zur Masseneinwanderung in das anscheinend unaufhaltsam in demografischem Niedergang befindliche Europa – bekanntermaßen ein Hauptargument der arbeitsteilig ökonomisch und/oder ideologisch argumentierenden Einwanderungslobby. Nur sollte man sich bezüglich der Zukunft Europas – des postchristlichen, säkularisierten, allenfalls noch christlich grundierten ›Abendlandes‹ – keine Illusionen machen. Gründeutsche ›Weltinnenpolitik‹, begleitet von grenzenloser Immigration, ist kaum anders denn als Vehikel für sozial-kulturelle Konflikte zu bewerten. Anders als in der Vision der von westlichen Werten überwölbten Multikultur imaginiert, existieren in den westeuropäischen Großstädten längst Parallelgesellschaften mit je eigenen Codices. Im schlimmsten Falle bereiten sie den Boden für Bürgerkriegszustände, im besten Falle für autoritäre Regimes zur Niederhaltung aufbrechender Konflikte.

Anno 2006 verhängte die französische Regierung angesichts der Unruhen in den Banlieues den Ausnahmezustand, nicht anders als nach den jüngsten IS-gesteuerten Mordattacken – mit noch unbegrenzter Dauer. Frankreich versucht – nicht nur unter dem Druck des Front National – die Einwanderung aus islamischen Ländern zu bremsen. Nach außen reagiert Präsident Hollande, unterstützt von der Bundesregierung unter Merkel, derzeit mit Militärschlägen gegen die Daesh-Stellungen in Syrien. Nachdem er ehedem die – nach westlicher Lesart demokratischen – Rebellen im Kampf gegen Baschar al-Assad ermunterte, scheint er nunmehr realpolitisch genötigt, Assad in die angestrebte Lösung des von ihm selbst mitangefachten Konflikts einzubeiziehen. Ob der teils geopolitisch, teils religiös-ideologisch begründete Bürgerkrieg – und das daraus resultierende Flüchtlingselend – dadurch zu einem Ende kommt, steht dahin. In Parallele zu derartigem Interventionismus unternimmt es der in grünen Kreisen wohl noch immer geschätzte Friedensnobelpreisträger Obama, von Fall zu Fall mit Drohnen-Waffen Frieden zu schaffen. (Adnote: Die deutschen Grünen, im harten Kern zu keiner Zeit Pazifisten, treten seit Jahren als die schärfsten Interventionisten – naturgemäß im Namen der Menschenrechte – hervor. Mit China möchten sie sich indes wegen der Verfolgung eines Ai Weiwei, wegen Tibet, der Spratly Islands etc. dann lieber doch nicht anlegen, schon eher mit Putin).

Stanglmeier und seine Freunde (w/m) gehen davon aus, dass – selbst im Falle der Erzwingung einigermaßen friedlicher Zustände in den Kriegsregionen – der Immigrationsdruck in die ›reichen‹ Regionen des Nordens anhalten wird. Sollte deswegen – und angesichts der künftig zu erwartenden Opfer einer in vielen Zügen darwinistisch anmutenden ›Migration‹ die ›Festung Europa‹ ihre Tore öffnen, sollten die EU-Europäer Frontex abschaffen? Die zum Credo aller Gutmeinenden erhobene Phrase ›Kein Mensch ist illegal!‹ zielt in der Konsequenz auf die Auflösung von Staatlichkeit und Recht. Was die Konsequenzen der – von Merkel selbst seit kurzem stillschweigend wieder abgebremsten – Masseneinwanderung betrifft: Den Immigrationsoptimisten ist mehr Realismus anzuraten, etwa auch die Lektüre der politischen Schriften von Panajotis Kondylis (1943-1998). Zur politischen Realität gehört nicht zuletzt das schlichte Faktum, dass die osteuropäischen EU-Länder gar nicht daran denken, sich der bundesdeutschen ›Willkommenskultur‹ anzuschließen.

III.

Es gibt Sammelbände, die der Mühe der Lektüre lohnen, nämlich dann, wenn ein Problem aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird und wenn insbesondere kontroverse Positionen vorgestellt werden. In dem soeben erschienenen von Anja Reschke herausgegebenen Buch Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge (Rowohlt Polaris, Berlin 2015, 336 Seiten), zur Flüchtlingsthematik ist dies nicht der Fall.

Den Ton gibt die Herausgeberin, Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim NDR, vor. Im März 2013 habe sich der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich noch damit ›gebrüstet‹, Deutschland werde großzügige Hilfe für die nahöstlichen Flüchtlingslager bereitstellen und sei sogar bereit, 5000 (!) Syrer aufzunehmen. »Da waren bereits Millionen auf der Flucht.« – »Und dann hielten sie nicht mehr, dann wirkten sie nicht mehr, die Abwehrmaßnahmen Europas.« In der Tat: Es sind der Ton und das von moralischer Entrüstung diktierte Stakkato in verhunzter Grammatik, was TV-Nachrichten für nüchterne Konsumenten schwer genießbar macht. Weiter: Griechenland und Italien konnten im Sommer 2015 mit dem Ansturm nicht mehr »klarkommen. Also ließen sie sie ziehen...« Danach mussten im unerwartet hilfsbereiten Deutschland die kommunalen Funktionsträger, die Grenzpolizisten »und vor allem die Bürger...damit klarkommen, dass plötzlich Tausende Menschen vor der Tür standen.«

Als Reschke in einem Kommentar in den ARD-Tagesthemen die in Parallele zu Brandanschlägen und Pegida-Protesten in den sozialen Medien ansteigenden Hassbotschaften anprangerte, erhielt sie einerseits Zuspruch aus dem In- und Ausland, andererseits üble, ausländerfeindliche »Briefe, die vor Wut und Selbstmitleid triefen«. Derlei Erfahrungen seien der Anlass für das Buch. Es gehe darum, »das Thema, das viele nur als Gefahr wahrnehmen, aus anderen Blickwinkeln zu betrachten«. Letztlich – und im Blick auf die laut Umfragen zu 37 Prozent zuwanderungsfreundliche Jugend – gehe es darum, wie »unser Land« und wie Europa in Zukunft aussehen solle: »Auf welchen Werten unsere Gesellschaft fußen soll.«

Wie es um die den modernen Nihilismus überdeckenden ›Werte‹, die den mörderischen Furor des IS und anderer antiwestlicher ›Fundamentalisten‹ provozieren, bestellt ist, hat soeben Edo Reents in einem tiefer schürfenden Aufsatz (Freiheit als Problem betrachtet, FAZ v. 03.12.2015, S. 11) dargestellt. In derselben Ausgabe macht eine theoriefromme Psychoanalytikerin indirekt deutlich, dass es nach dem ›Ende einer Illusion‹ (Sigmund Freud) schwer fallen dürfte, unsere Werte, genauer: unser postmodernes (zugleich deutsches) Über-Ich – ein Amalgam aus Individualismus und Beliebigkeit, aus Hypermoral und Hedonismus, aus historischer Indifferenz, historischer Ignoranz und deutscher Schuldfixierung – in pubertierenden Jünglingen und Mädchen mit multikulturellem Migrationshintergrund zu verankern (Marianne Leuzinger-Bohleber: Kalter Terror in heißer Kultur, S. 7).

Reflexionen über derlei Aspekte der Massenimmigration sucht man im vorliegenden Buch vergebens. Stattdessen herrscht der von hoher Moral, hohen universalen Werten und, wie auch anders, von mahnenden Bezügen auf unsere spezifisch deutsche Vergangenheit bestimmte Blickwinkel auf die missliche globale Realität vor.

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Wes Herz nicht verhärtet ist, wird die Augen vor den dargestellten Einzelschicksalen nicht verschließen können. Erwähnt sei der Aufsatz von Bahman Nirumand Über den Schmerz, die Heimat verlassen zu müssen (In: Reschke, Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge). Ein Bericht über einen wegen illegaler ›Schleusertätigkeit‹ verhafteten Ingenieur, der, syrisch-orthodoxer Christ, durchaus uneigennützig Landsleuten per Geldüberweisungen zur Flucht verhalf, offenbart das alte Dilemma von Mitmenschlichkeit – hier nicht zufällig bezogen auf die im engeren Sinne ›Nächsten‹ – und Gesetz.

Eine Lösung des durch die Rebellion gegen Baschar al-Assad, den als Nachfolger seines Vaters anfangs moderat auftretenden Machthaber, ausgelösten Kriegschaos wird in einem Artikel zu Syrien, ›Ein Land in Auflösung‹ nicht zu finden sein. Zu erwarten wären zumindest Hinweise auf den hauptursächlichen Konflikt zwischen sunnitischer Mehrheit und dem alawitischen Minderheitsregime sowie auf die aus geopolitischen und ideologischen Gründen erfolgten Interventionen seitens der Saudis, der USA, der Türkei – und Frankreichs, das unter dem von Bernard-Henri Lévy überredeten Sarkozy einst den mörderisch-fatalen Sturz Gaddafis in Libyen einleitete und nunmehr in Syrien den Bösewicht Assad in das Spiel zur Beendigung des seit 2011 andauernden Bürgerkriegs einzubeziehen gedenkt.

Dass die WDR-Redakteurin Grabiele Gillen bei einer Gewichtung von Fluchtursachen die Unterscheidung zwischen Armut und Verfolgung nur unter ›Ressentiments‹ subsumiert – »die hässlichste Ausländer- und Flüchtlingsbeschimpfung« schreibt sie naturgemäß der CSU zu –, überrascht nicht. Während sie auf Seite 48 oben noch deklariert, »(man) benötige noch mehr Raum, um die Komplexität von Gewalt-, Elends- und Migrationprozessen darzustellen«, ist ihr weiter unten »das Wesentliche« längst klar: »...unsere Verantwortung für das zerstörerische Erbe von Kolonialismus und Imperialismus«. Sodann, auf die vulgärmarxistische Formel gebracht, schreibt sie: »Immer mehr Menschen werden im Verwertungskreislauf des Kapitals nicht gebraucht.« Wie steht es dann mit der schnellen Eingliederung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt?

Ähnlich erklärt Daniela Dahn die »historische Verantwortung des Westens für die Flüchtlinge«. Immerhin enthält ihr Beitrag einige Fakten zu den Balkankriegen sowie zu der verfehlten Entwicklungspolitik vermittels der Kredit- und Tilgungsfalle der Weltbank. Die schamlose Kleptokratie der postkolonialen ›Eliten‹ in vielen Ländern Afrikas allein mit dem Vorbild der Kolonialherren zu erklären, ist indes allzu billig. Selbst für Mugabe, der Simbabwe in Grund und Boden ruiniert hat, findet die Publizistin noch Verständnis angesichts der »strukturellen Gnadenlosigkeit« des Westens. Dass Sklavenhandel für die Kapitalbildung und somit die Industrialisierung eine Hauptquelle darstellte, ist unbestritten. Warum bleibt die teilweise bis in die Gegenwart im arabischen Raum praktizierte Sklaverei unerwähnt?

Die »neuen Lebenslügen« des Westens sieht Dahn verwurzelt im Neoliberalismus. Warum aber wurden in Angola (zu nennen sind José Eduardo dos Santos und dessen Gattin) und anderswo aus revolutionären Marxisten über Nacht hochkorrupte Kapitalisten? Wie erklärt die Marxistin Dahn die blutigen Stammeskämpfe (gewiss, ein inkorrekter Begriff) im jüngst unabhängigen Süd-Sudan? Allein mit der Gier nach Öleinkünften? Sind darüberhinaus allein die von amerikanischen Predigern inspirierten ›Fundamentalisten‹ dafür verantwortlich? Schließlich: Wie wäre der Ansturm auf die ›Festung Europa‹ aus Afrika, die für Tausende tödlich endende Armutsflucht übers Mittelmeer zu verhindern, wenn nicht mit dem Ausbau von Frontex?

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Informativ ist ein Aufsatz der für UNHCR und Amnesty International aktiven Juristin Pauline Endres de Oliveira über die Entwicklung des Asylrechts in der EU (Schutz oder Abwehr?). Es geht darin wesentlich um die durch die Genfer Flüchtlingskonvention – ursprünglich 1951 auf europäische Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg zugeschnitten, 1967 durch ein Zusatzprotokoll global ausgedehnt – gestützte Aufnahmepraxis in Deutschland und Europa.

Von der politischen Realität bereits überholt scheint der Beitrag Schweden. Vorbild bei der Integration? des ehedem am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, jetzt beim schwedischen Migrationsamt tätigen Bernd Parusel. Dass auch die moralische Großmacht, als die sich Schweden versteht, an ihre materiellen – und kulturellen – Grenzen gestoßen ist, wurde an den im November 2015 wieder eingeführten Passkontrollen evident. Inzwischen hat man in Stockholm das Asylrecht verschärft – eine Kehrtwende, die Morgan Johansson, Schwedens Minister für Justiz und Migration mit dem nicht mehr zu bewältigenden Zustrom von in diesem Jahr »vielleicht 200 000 Flüchtlingen« begründete (Aber auch unsere Kapazität hat Grenzen, Interview in: FAZ v. 07.12 2015).

Interesse erweckt Herfried Münklers Text Die Satten und die Hungrigen. Münkler holt historisch mit den Wanderungen im Neolithikum weit aus und findet über den biblischen Exodus und die mittelalterliche Stadt als permanentem Anziehungsort (pull factor) in die Gegenwart. Ob er mit seiner fraglos ›leitkulturalistisch‹ zu deutenden Forderung, aus den Migranten müssten »wenn sie auf Dauer bleiben wollen ›Deutsche‹ werden«, im gründeutschen Milieu Beifall findet, scheint fraglich. Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin, möchte davon nichts wissen. Stattdessen müsse »die Einwanderungsgesellschaft aktiv gelernt werden«. Als »neues Leitbild für Deutschland« empfiehlt sie – in Analogie zur (historisch-revolutionär begründeten) französischen Werte-Trias – die Parole »Pluralität, Solidarität und Gleichwertigkeit« – kein sehr zündender Ideologiefunke.

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Wer bei dem Hamburger Ökonomen Thomas Straubhaar nach einer Lösung der von anhaltendem Bevölkerungswachstum (derzeit bei etwa 1,2 Milliarden) begleiteten afrikanischen Misere sucht, findet nicht viel, was Hoffnung macht. Aus der – zu ergänzen: liberalen – Theorie heraus seien internationale Migrationsbewegungen eindeutig positiv zu bewerten. Die Auswanderung komme den Herkunftsländern wie den Zielländern zugute, somit könne man – anstelle des ehedem beklagten Brain-Drain – längst von einem Brain-Gain sprechen. In einer Fußnote räumt der Autor indes ein, dass es weiterhin auch gegenteilige Meinungen gebe. Die ökonomisch interessante Frage, wie es im Blick auf die mutmaßlich für chinesische Billigimporte verwendeten Rücküberweisungen in den Entwicklungsländern (im OECD-Kürzel als LLDC deklariert) zu Kapitalaufbau und Wachstum kommen soll, wird in dem Aufsatz leider ausgeklammert. Straubhaar schreibt immerhin, dass die Praxis anders aussehe als die Theorie. Vor allem sieht er auch, dass es bei ungezügelter Einwanderung zu Verteilungskämpfen kommen könnte, insbesondere im unteren Bereich der sozialen Skala.

Man mag das Thema wenden, wie man will: Unter ökonomischen Aspekten – ob gemäß neoliberaler Doktrin oder nach neokeynesianischer Theorie – erscheint industrielles Wachstum (und entsprechender Energiebedarf) nach wie vor als Bedingung für die Minderung der Armut dort, für die kostspielige Integration von Immigranten hier. Was letzteres betrifft, so erklärte soeben der von der Bundesregierung zur aktuellen Klimadebatte geladene Ökonomie-Professor Andreas Löschel: »Der starke Zuzug von Migranten wird Deutschlands CO2-Ausstoß spürbar erhöhen.« (http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bundesregierung-unterschaetzt-bei-klimazielen-die-zuwanderung-a-1062102.html)

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Heribert Prantls Moralplädoyer ziert das Ende von Reschkes Buch. Von dem als Chefmoralisten bekannten SZ-Chefredakteur – er zeigt sich empört über den in Polen und Ungarn stattfindenden »Hochverrat an den Werten, derentwegen die Europäische Union gegründet wurde« – ist kaum zu erwarten, dass er über die moralphilosophische Frage reflektieren würde, an welchem Punkt Humanität an die Grenze der Quantität stößt. Immerhin finden sich dann selbst bei Prantl die folgenden Sätze: »Natürlich können wir in Deutschland nicht alle aufnehmen. Und natürlich werden nicht alle, die kommen, bleiben können.« Wie viele also? Unter welchen Voraussetzungen?

Zuvor, in einem anderen empörungsgesättigten Text, wird auch die bei dessen Niederschrift noch grenzenlos aufnahmebereite Bundeskanzlerin Merkel der ›Heuchelei‹ bezichtigt. Wo Emotion die Analyse ersetzt, wie in weiten Teilen des Buches, ist nicht zu erwarten, dass Widersprüche in komplexer Wirklichkeit erkannt werden.

 

(Bildquelle: wikimedia commons)

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