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Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

...neulich im Einstein

Eleven/Nine - ich hatte mich hierher sozusagen gerettet! Die Innenstadt war eine überdimensionierte Arena für Polit-Clownerien. Durchs Zentrum führte eine kilometerlange Pappmaché-Mauer, deren Segmente wie Dominosteine aufgestellt waren, um dann den bekannten Jericho-Effekt auszulösen…

Aber es gab auch andere Imitationen politischer Theologie: Passionswege durch die Leidenslandschaft der ehemals eingemauerten Stadt, mit Märtyrerstationen, sozusagen Berliner Springprozessionen, symbolische Einkerkerungen (Johannes-der-Täufer-light) und allerorts Heiligenlegenden (vulgo: Zeitzeugen), die allerdings keine strenge kanonische, glaubenskongregative Verifizierung zu gewärtigen haben. Über allem, auf dem Dach des ›Adlon‹, wedelte ein Model, als Engel, marmorweiß wie eine Friedhofsplastik, mit ihren Flügeln. Ein bildungsferner Kommentator wollte darin die Verkörperung des ›Engels der Geschichte‹ Walter Benjamins erkennen (den ein Wind vom Paradiese her rückwärts vorantreibt?!) … Die sakrale Vokabel bei alledem: Wunder. Ein wunderliches Wundergewerbe in einem ansonsten hedonistisch-agnostischen Gemeinwesen.

Ein nachhaltiger Kulturkritiker in Deutschland, der auch schon einmal einen hochfahrenden Taumel des Wir-sind-ein-Volk erlebt hatte, hätte in unserem Trubel wohl den ›Sokratismus seiner Zeit‹ wiedererkannt, jene frenetische Geste des Wie-haben-wir-es-herrlich-weit-gebracht! Einen naiven Positivismus bzw. Naturalismus in der Staatskunst, in der Wirtschaft, im Glauben, in der Politik und Alltagskultur. Weit entfernt sind wir damit von einem schon mal gedachten Begriff des Politischen, der einen rationalen, vernünftigen Sinn für das mit sich bringt, was man den (politischen) Gegner nennt. Dass der gerade keiner ist, den man mit Un-worten begrifflich verstehen könnte. Wenn man ihn identifiziert als einen Unmensch, ungläubig, in einem Unrechts-Staat dahinvegetierend, dann hat man damit seine eigenen felsenfesten Überzeugungen konfirmiert, nicht aber einen diskursiven Beitrag zum Verstehen des Anderen geleistet.

Steffen Dietzsch