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Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein,

die Apothekerin nebenan war belustigt über die heftige Nachfrage nach Jodtabletten … und, ja, auch ›Geigerzählern‹ (– wahrscheinlich für misstrauische Philharmoniebesucher), war mir, als ob eine erneuerte Nouvelle Vague ins Haus stünde. Diesmal aber werden nicht unsere (cineastischen) Sehgewohnheiten neu angehoben, sondern unsere kognitive Kompetenz steht in Gefahr, in einer vegetativen Sturzwelle sozusagen weich- & weggespült zu werden.

Der mit hiesigen Massenmedien Unvertraute hätte leicht den Eindruck gewinnen können, das enorme Erdbeben (Stufe 9!), der Tsunami und die Schäden am Atomkraftwerk wären – nun aber endlich – die seit einem halben Jahrhundert beschworene Deutsche Apokalypse. Da liegen Haufen (imitierter) Opfer vor dem Brandenburger Tor, im Fernsehen warnen sich Moderatoren gegenseitig vorm Sushi essen, Schauspieler geben Auskunft über die bevorstehende Kernschmelze (was die sich wohl darunter vorstellen?), Models zeigen sich schon ganz anämisch … es ist super-gauen-haft. – Ganz unverständlich ist jener Betroffenheitsklasse die scheinbare Unbetroffenheit der betroffenen Japaner. Sie werden als emotionale Drittweltler mit Sekundärtugenden belächelt und bekamen über unsere Talkshows einen Crashkurs, wie man sich emotional katastrophenkonform zu geben habe.

Die Hauptsache dabei ist zu vermitteln, dass es nie darauf ankommt, was (wirklich) passiert ist, sondern immer nur, was alles noch passieren könnte … das wird in ununterbrochenen Wenn-dann-Szenarien repetiert und am Ende geglaubt, das just das schon passiert sei. – Die Informationspflicht scheint mir bei dieser Engführung der Mitteilungen auf die Selbstbefindlichkeit der Informatoren, vulgo: bei diesen vielen Falschmeldungen, arg verletzt zu sein (soll man ihnen dann bei anderen Meldungen wieder glauben?). Am Ende ist es natürlich enttäuschend, wenn diese Dinger selbst das seit Menschengedenken stärkste Beben (samt Riesenwelle) als einzige Bauwerke ringsum überstehen, zwar beängstigend lädiert, aber nicht irreversibel kollabiert. Und dass sie immer handhabbar blieben. Kurzum: diese Kerntechnik von Fukushima zeigte sich in der Naturkatastrophe so sicher, wie man nach menschlichen Ermessen immer nur sicher konstruieren kann. Und das ist natürlich niemals endgültig sicher, sondern immer nur sicher in den Grenzen unserer technologischen Vernunft. Das Argument gegen die Kerntechnik, sie sei restrisikobehaftet, also niemals Risiko=Null, gilt offensichtlich exklusiv nur hier. Das aber – als singuläres Argument – ist kein rationaler Einspruch mehr, den man ernst nehmen müsste! Denn unsere gesamte Technologie müsste, wenn man diesem Risiko=Null-Argument folgen würde, abgebrochen werden. Der entscheidende mentale und machbarkeitstheoretische Unterschied zwischen Fukushima und Tschernobyl ist: vor fünfundzwanzig Jahren hat menschliche Improvisation zur Katastrophe geführt, in Japan hat menschliche Improvisationsgabe auch dazu geführt, dass die von einer Naturkatastrophe ausgelösten Zerstörungen so beherrschbar blieben, dass eben keine Atomkatastrophe ausgelöst wurde. Diese Kerntechnologie ist offensichtlich – katastrophenerprobt – die Technik mit höchster sekuritativer Redundanzdynamik, die wir kennen.

Wir haben in Europa nach dem Erdbeben von Lissabon gelernt [sowohl von dem, der die Stadt wiederaufgebaut hat (Pombal) und als auch von dem, der die konstruktive Vernunft dessen entwarf (Kant)], dass wir künftig unser Bauen nirgends und niemals nach einem Ideal absoluter Sicherheit ausrichten, sondern immer nur, um mal für mal die Wahrscheinlichkeitsgrade der Unsicherheit und Gefährdung zu reduzieren.

Und auch aus diesem Unglück lernt man – aber natürlich nicht, wie Unglücke endgültig zu vermeiden wären, sondern wie man im Wissen um und mit ihrer Wirklichkeit leben kann. – Aber eben zu akzeptieren, dass wir nicht in einer Grundordnung von Sicherheit, sondern in einer der Gefahr leben (und überleben wollen), das wäre ein Erziehungsgrundsatz für unsere Moderne.

(20.März 2011)

Steffen Dietzsch