von Ulrich Schödlbauer

Die Situation ist also endlich einmal eingetreten: das Volk will einen Präsidenten und die Regierung will einen anderen. Daran wird sich so rasch nichts ändern, nicht bis zum Wahltag und nicht darüber hinaus. Der Präsident aller Deutschen wird in Zukunft ein Präsident gegen das Volk sein, ein vom Volk ausdrücklich nicht gewünschter oberster Volksschauspieler. Für die Regierung mögen das peanuts sein, für Verfassungsrechtler kein Problem. Für die Medien steht die Regierung auf dem Prüfstand: Hält sie? Bricht sie? Wenn sie hält, dann haben auch die Medien kein Problem und alle sehen weiter. Die Regierung ist dabei, das Volk aufzulösen und sich ein anderes zu wählen, und es ist: kein Problem.

Der oberste Repräsentant aller Deutschen hat nichts zu sagen und das ist, in den Augen der politischen Klasse, gut so. Das Volk findet es weniger gut und auch das ist gut so, denn es zeigt, dass es ihn angenommen hat und für ihn eine größere Rolle wünscht, wie es im Umfragejargon heißt. Es zeigt auch, dass das Volk nicht so viel zu sagen hat und auch das ist gut so, jedenfalls im Sinne des Grundgesetzes, das in diesem Punkt etwas Seltsames zeigt, nämlich kalte Füße. Es zeigt sich – in diesem Punkt – sozusagen doppelt: in einem dürftigen Wahlverfahren und in einer dürftigen, um nicht zu sagen: nicht vorhandenen Machtfülle. Präsident und Volkswille haben sich nichts zu sagen, sie bedingen und verstärken einander nicht, sondern verhalten sich folkloristisch zueinander: der Präsident ist ein netter Kerl und das Volk lauter nette Leute.

Ein Präsident, der im Zorn geht und ein Präsident, der auf einer Woge der Ablehnung ins Amt gewählt wird, sind in diesem System nicht vorgesehen. Die historische Erfahrung, die es legitimiert, schweigt: alles, was es verhindern soll, ist nicht einmal am Horizont sichtbar. Die historische Erfahrung trägt nicht: das bezeugt, auf das Präsidentenamt bezogen, die historische Erfahrung der Bundesrepublik, die länger währt und tiefer geht als die aller Weimarer Republiken, wie sie in den Aufsätzen von Grundgesetz-Spezialisten seit Jahrzehnten nachträglich gesundkonstruiert werden. Herr Gauck ist nicht der Statthalter eines untergegangenen Regimes, eher der Niederhalter, wie die Reaktion der Linkspartei auf seine Person demonstriert. Der Kandidat der Regierung ist, mit dem Auftreten dieses Gegenkandidaten, zum Zählkandidaten in eigener Sache geworden, zum Symbol eines trotzigen Wir werden ja sehen, wer die Macht hat – er jedenfalls nicht, nicht jetzt und nicht danach.

Die Regierung ist also dabei, das Volk aufzulösen und sich in der Person seines Repräsentanten ein anderes zu wählen, nämlich keines: das ist das Problem. Vielleicht verabschiedet sich das düpierte Volk mit einem leisen Grummeln für längere Zeit von der politischen Bühne. Den Regierenden wird auch das gleichgültig sein, Hauptsache, es wird weiter gewählt. Es darf ihnen gleichgültig sein, solange sie zum Regieren bestellt sind. Zwar sollte es ihnen, mit Blick auf kommende Wahlen, nicht ganz gleichgültig sein, aber da sind die Rechner am Werk und es lohnt nicht, sie in ihrer Arbeit zu unterbrechen. Ein ausdrücklich nicht vom Souverän bestelltes Staatsoberhaupt ist ein nur historisch zu erklärendes Kuriosum, ein ausdrücklich nicht vom Souverän gewünschtes Staaatsoberhaupt ist ein Pfahl im Fleische der Republik. An diesem Faktum ändert sich nichts, auch wenn alle zur Tagesordnung übergehen.

Ein autoritärer Faden zieht sich durch die Politik dieses Landes seit dem Beitritt der östlichen Bundesländer auf der Grundlage von Artikel 23 GG (statt 146 GG, der die Einbeziehung dieser neuen historischen Erfahrung per Volksentscheid über die Verfassung möglich gemacht hätte), seit der Verweigerung einer Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag, seit dem Entschluss zum Durchregieren in dieser Präsidenten-Angelegenheit ohne Rücksicht auf Läsionen für Amt und Kandidat. Wer meint, so autoritär sei die alte Bundesrepublik nie gewesen, täuscht sich vielleicht, vielleicht auch nicht. So souverän war sie nie und da liegt der Hase im Pfeffer. Souveräner wird das Land nicht mehr, eher weniger. Nur der Souverän kann und soll es nicht glauben, denn er ist nicht gefragt. Vielmehr, er wird gefragt, aber das Ergebnis ist nicht gefragt. Wir nennen das eine Krise: für wen und was, das wird sich weisen.

 

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • Der Untergang von HMS Rainbow

    von Don Albino

    §1

    Ein Selbstbedienungsschalter ist ein Schalter, an dem man sich selbst bedient. Vorausgesetzt, man kennt das Losungswort.

    §2

    Galeonen waren jahrhundertelang das Rückgrat der europäischen Seestreitkräfte. Eine davon, die Rainbow (das HMS trat erst später hinzu), Baujahr 1586, brachte es auf 94 Jahre im Dienst ihrer britischen Majestät. Dann versenkte man sie, um sich ihrer Brauchbarkeit noch eine Weile als Wellenbrecher zu erfreuen.

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Es leuchtet ein, dass, wer ausgeschlossen bleibt vom großen Mediengeschäft (oder ausgeschlossen wurde), eher auf der kritischen Seite zu finden sein wird als auf der affirmativen – vorausgesetzt, die ›führenden‹ Medien stehen, wie es zu gehen pflegt, im Sold der Mächtigen oder pflegen die Allianz aus anderen Gründen. Seit den frühen Tagen des Journalismus gilt: Je konformer die Platzhirsche, desto giftiger die Habenichtse. Das betrifft das Verhältnis zur Regierung, zum

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Politik / Gesellschaft

  • von Heinz Theisen

    Globales Denken als lokaler Ruin

    Zu den großen Paradoxien der Gegenwart gehört der Wechsel der einstmals »antiimperialistischen Linken«, die im Gefolge der USA zur Eroberung des eurasischen Raumes in die Ukraine vorgerückt sind. Heute verteidigen sie dort mittels Waffen- und Finanzhilfen den NATO-Mitgliedsanspruch der Ukraine unter Inkaufnahme schwerster eigener Verwerfungen: ihre einstige Entspannungspolitik, die infantile Parole vom »Frieden schaffen ohne Waffen«, aber auch die

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  • von Justus C. Justus

    VWL war gestern. Wer künftig mitreden will, studiert VdL, um zu wissen, wie man’s nicht macht.

    *

    Hiermit gebe ich offiziell meinen Umzug in den Yagir bekannt. Ich habe schon einige Jahre dort gelebt, aber es war mir nicht bewusst. Ich habe begriffen.

    *

    »Aber der Yagir ist Fiktion!« Das sagen mir meine engsten Freunde und wischen sich nervös die Stirn, als wollte ich ihnen auskommen. Meine Antwort lautet: »Sicher. Wir alle sind Bürger zweier Welten. Manche wissen es, manche

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Souverän für Amerika

  • von Ulrich Schödlbauer

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Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Johannes R. Kandel

    David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten

    David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist

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  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein

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  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die

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  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im

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Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

GLOBKULT Magazin
herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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