von Peter Brandt
Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!
Dies ist keine geschichtswissenschaftliche Fachtagung. Sie möchten angesichts der seit etlichen Jahren wieder wachsenden zwischenstaatlicher Spannungen in der Welt, auch in Europa, aus Anlass dieses Jubiläums – 75 Jahre Potsdamer Konferenz – ein politisches Signal aussenden: Wir brauchen internationale Verständigung, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem und Abrüstung, in Gang zu setzen durch eine neue Entspannungspolitik. Ich teile dieses Anliegen voll und ganz.
Meine Aufgabe besteht indessen darin, einleitend das Ereignis vorzustellen und in seinen historischen Zusammenhang einzuordnen. Wie in allen Wissensgebieten wird es desto komplexer und häufig auch komplizierter, je genauer man die Ereignisse und die dahinter stehenden Strukturen und Prozesse in den Blick nimmt. Könnte man aus der Geschichte gar nichts lernen, dann wäre sie allerdings wirklich nur eine Angelegenheit für Fachgelehrte und deren interne Streitigkeiten.
Es herrscht unter Historikern weitgehend Einverständnis darüber, dass der militärische Zusammenbruch des Jahres 1945 einen der tiefsten Einschnitte in der neueren, namentlich deutschen Geschichte markiert, auch wenn die politik-, kultur-, wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Zäsuren nicht unbedingt synchron verlaufen. Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht am 7. und 8. Mai 1945 war nicht einfach die Kapitulation einer Armee, wie sie die Geschichte auch vorher kannte, etwa die Napoleons 1814 und 1815. Mit dem 9. Mai 1945 ließen die neuen Souveräne, die Siegermächte, de iure jedwede deutsche Herrschaft erlöschen, um ihr gemeinsames Ziel, die völlige Zerstörung des Nationalsozialismus und der Bedingungen seiner Wiedererrichtung, durchsetzen zu können. Der Präsident der USA Roosevelt hatte auf das Beispiel des amerikanischen Bürgerkriegs 1861 – 1865 zurückgreifen müssen, um eine historische Parallele für die Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation zu finden.
Ganz unsinnig ist die Gegenüberstellung von ›Niederlage‹ und ›Befreiung‹, denn die militärische Niederlage der Wehrmacht und damit des Großdeutschen Reiches war schlicht die Voraussetzung für die Befreiung. Befreit wird man von etwas, in diesem Fall das ganze nationalsozialistisch beherrschte Europa von einem schrankenlosen, monströsen Terrorregime. Das beinhaltet nicht automatisch die Durchsetzung einer wie auch immer verstandenen Freiheit.
Es liegt auf der Hand, dass die so verstandene Befreiung für Länder wie Frankreich (wo sie faktisch schon im Sommer 1944 erfolgt war) als Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit und einer autochthonen Verfassungsordnung wesentlich weniger problematisch war als für Deutschland, den Ausgangspunkt und das Zentrum des NS-faschistischen Kontinentalimperiums; dort war der Versuch der Selbstbefreiung, der Staatsstreich des 20. Juli 1944, gescheitert und örtliche Selbstbefreiungsversuche blieben auch in den Todeszuckungen des Regimes im Frühjahr 1945 marginal. Daraus ergab sich die Unvermeidlichkeit der Eroberung und Besetzung Deutschlands durch die Truppen der Siegermächte.
Die deutschen Antifaschisten, im Inland wie im Exil, hatten noch lange darauf gehofft, dass die deutschen Werktätigen den Alliierten mit einer Erhebung zuvorkommen würden. Als das nicht geschah, war klar, dass sie – bei aller Distanz gegenüber einer nationalen Trotzhaltung – Acht geben mussten, nicht zu bloßen Erfüllungsgehilfen der Militärregierungen zu werden. Namentlich gegenüber der Politik der angelsächsischen Sieger- und Okkupationsmächte, die ebenso interessengeleitet war wie – gewiss mit anderen Konsequenzen – die der Sowjetunion, herrscht heute, bis in die Fachwissenschaft hinein, eine naive bzw. apologetische Sicht vor, als wäre deren Kriegsführung eine Art humanitäre Intervention gewesen.
Befreit im buchstäblichen Sinn und teilweise vor dem sicheren Tod gerettet wurden im Frühjahr 1945 unter den Deutschen die überlebenden KZ-Gefangenen und Zuchthausinsassen sowie die eindeutigen NS-Gegner und verfolgte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen. Befreit wurden Soldaten und Zivilisten von der Kriegsfurie, die hierzulande gerade in den letzten Monaten besonders hohe Opferzahlen und Zerstörungen mit sich gebracht hatte. Objektiv befreit wurde zudem das deutsche Staatsvolk, das sich 1933 die innere politische Selbstbestimmung hatte abnehmen lassen. Das ist aber nicht das ganze Bild.
Die Befreiung durch Eroberung, ratifiziert mit der bedingungslosen Kapitulation, war – teils zwangsläufig, teils durch politische Entscheidungen der Sieger – aufs Engste verbunden mit neuem Leid und neuer Unterdrückung. Mit insgesamt etwa sechs Millionen Kriegs- und Kriegsfolgetoten hatten auch die Deutschen einen hohen Blutzoll entrichtet.
Nach dem Inferno der letzten Kriegsphase schien Deutschland 1945 über weite Strecken verwüstet. Die Innenstädte glichen teilweise einer Trümmerlandschaft. Millionen Ostflüchtlinge aus den jetzt Polen bzw. der Sowjetunion zugeschlagenen Gebieten strömten in die Besatzungszonen, Millionen displaced persons aus den alliierten oder ehedem deutsch besetzten Ländern irrten umher, nach und nach entlassene deutsche Kriegsgefangene kehrten in ihre Heimatorte zurück. Die Versorgungssituation war mehrere Jahre dramatisch; es fehlte an allem, in erster Linie an quantitativ und qualitativ ausreichender Nahrung. Es wurde wieder gehungert in Deutschland.
Die Zerstörung der industriellen Anlagen war, wie sich dann zeigte, insgesamt weniger gravierend als es aussah, insbesondere unter Berücksichtigung der Kapazitätserweiterung in der Kriegszeit. Nach der Reparatur der wichtigsten Verkehrsmittel und -wege, mit der Umstellung auf Friedenswirtschaft und mit der Lockerung alliierter Restriktionen konnte die Produktion bald wieder Fahrt aufnehmen.
Neben einer nicht unerheblichen Zahl Unbelehrbarer war die vorherrschende Bewusstseinsverfassung der Deutschen bei Kriegsende eine tiefe Desorientierung und Verunsicherung. Doch eine nicht so kleine Minderheit von ›Aktivisten der ersten Stunde‹, teilweise in direkter Kontinuität zum Widerstand und meist aus den Reihen der sozialistischen Arbeiterbewegung unterschiedlicher Ausrichtung, organisierte sich in mindestens fünfhundert Orten – bisweilen noch kurz vor der Besetzung und unabhängig voneinander – in Antifaschistischen Ausschüssen bzw. größeren Organisationen, dann auch in provisorischen Betriebsräten, Gewerkschafts- und Parteigründungszirkeln. Die Antifa-Ausschüsse und die provisorischen Betriebsräte wirkten in allen vier Besatzungszonen elementar gesellschaftsstiftend, indem sie die solidarische Wiederingangsetzung der materiellen Lebens- und Produktionsbedingungen in die Hand nahmen und erste Maßnahmen gegen ›die Nazis‹ durchführten. Dieser Ansatz, gewissermaßen eine reduzierte Variante sowohl der Arbeiter-, Volks- und Soldatenräte von 1918/19 als auch der 1944/45 andernorts aus der Résistance hervorgegangenen Befreiungskomitees, erhielt keine Chance. Die ›Antifas‹, wie die Amerikaner sie nannten, wurden in aller Regel spätestens im Sommer 1945 von den Militärregierungen oder den Auftragsverwaltungen aufgelöst: als potentiell sozialrevolutionär und krypto-kommunistisch in den Westzonen, als ›sektiererisch‹ und dysfunktional in der Ostzone, als zu eigenständig, kaum lenkbar und illegitim-basisdemokratisch zonenübergreifend. Es kann nicht darum gehen, diesen autochthonen linken Antifaschismus zu überhöhen, doch er passt in Quantität und Qualität weder zu dem heutzutage gern gezeichneten Bild einer nahezu gänzlich nazifizierten deutschen ›Volksgemeinschaft‹ noch zu dem der vollständigen politischen Apathie der Deutschen bei Kriegsende. Ebenso wenig die rasante Organisationsentwicklung der linken Parteien und Gewerkschaften nach ihrer Legalisierung. — Damit sind die Verhältnisse im Innern Deutschlands bei Beginn der Potsdamer Konferenz am 17. Juli 1945 umschrieben.
Seit Anfang 1943 (Stalingrad, El Alamein und alliierte Landung in Afrika) war klar, dass Deutschland den Krieg nicht mehr gewinnen konnte; für Japan hatte das bereits die Seeschlacht bei den Midway-Inseln im Juni 1942 angezeigt. Als sich der amerikanische Präsident und der britische Premierminister im Januar 1943 in Casablanca trafen, stellten sie die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands auf. Im November 1943 – die Niederlage der faschistischen Mächte war kaum noch zweifelhaft – kamen die Hauptalliierten der Anti-Hitler-Koalition in Teheran zusammen, um sich über das Vorgehen nach dem Sieg zu verständigen. Und vom 4. bis 11. Februar 1945 fand auf Einladung des sowjetischen Partei- und Staatschefs Josef W. Stalin und unter Beisein von US-Präsident Franklin D. Roosevelt sowie den britischen Premier Winston Churchill die Konferenz von Jalta auf der Halbinsel Krim statt. Im Zentrum der Beratungen standen die Behandlung des Deutschen Reiches und der deutsch besetzten Gebiete nach Kriegsende, außerdem die hauptsächlich von den USA, namentlich von Roosevelt persönlich, forcierte Gründung der Vereinten Nationen (UNO) als eine verbesserte Neuauflage des Völkerbunds von 1919. Dieser war von dem damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson angestrebt worden, doch verweigerte der republikanisch dominierte Senat dann den Beitritt der USA, und der Völkerbund war durch den Ausschluss (bis 1926), später (1933) den Austritt Deutschlands und das Fernbleiben der Sowjetunion (bis 1934) nur ein Torso.
Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs kristallisierte sich als gemeinsamer, wenngleich unterschiedlich konstruierter weltpolitischer Grundkonsens der amerikanischen policy makers die Zielsetzung heraus, die ökonomischen Blockbildungen der Zwischenkriegszeit zugunsten der Wiederherstellung eines einheitlichen liberal-kapitalistischen Weltmarkts (wenn möglich, unter Einschluss der UdSSR) unter faktischer informeller Hegemonie der USA heraus. Die Wirtschaft der USA, namentlich die Industrie, ging schadlos aus dem Krieg hervor, der das Land nicht unmittelbar tangiert hatte. 1945 produzierten die USA rund drei Fünftel aller Industriegüter weltweit. Der künftigen amerikanischen Führungsrolle dienten die Festsetzung des Dollars als internationale Leitwährung und die Einrichtung internationaler Organisationen wie der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation. Auf der Ebene der Verfassungsordnung sollten repräsentative Demokratien gefördert werden, jedenfalls in der nördlichen Hemisphäre.
Großbritannien, der Welthegemon des 19. Jahrhunderts, konnte nur noch hoffen, als Juniorpartner des USA eine herausragende Rolle zu spielen. England war 1945 dem Staatsbankrott nahe und von den USA vollkommen abhängig. Ab 1946 sah das Land sich gezwungen, mit dem Abbau des Empire zu beginnen und Kolonien, namentlich der größten und wichtigsten Indien, die Unabhängigkeit zu gewähren. Die ehemalige Groß- und Kolonialmacht Frankreich, die 1940 von Deutschland besiegt worden war, erhielt ihren Status nur von Gnaden der angelsächsischen Mächte zurück und wurde in den Kreis der Sieger- und deutschen Besatzungsmächte aufgenommen. Frankreich verstrickte sich in Vietnam 1946-54 und Algerien (1954-62) in lange Kolonialkriege, die die Innenpolitik destabilisierten und 1958 zum Ende der Vierten Republik führten. Alles in allem lässt sich feststellen, dass der Zweite Weltkrieg den europäischen Imperialismus insgesamt schwächte und die Entkolonisierung Asiens und Afrikas einleitete.
Gegenüber der amerikanischen Vision, der One World war die Sowjetunion unter der Ein-Mann-Diktatur Stalins vorrangig an einem Einflussgebiet im östlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa und dessen, sei es informelle, Anerkennung durch die Westmächte interessiert, Gebiete, in denen Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg Bündnispartner sowohl gegen Deutschland als auch gegen Russland gefunden hatte. 1945 war die Sowjetunion zunächst nur als dominierende Landmacht ein erstrangiger Faktor. Sie hatte auf ihrem Territorium die Wende des Krieges herbeigeführt, doch erst im Verlauf der 1950er und 60er Jahren zog sie mit den USA auf dem Feld der Atomrüstung gleich. Schon früh war von den beiden ›Supermächten‹ die Rede. Für die Gespräche in Jalta war wichtig – und das stärkte die sowjetische Verhandlungsposition –, dass die UdSSR im Verlauf ihrer großen Winteroffensive 1945 bis zur Oder vorgedrungen war und neben dem polnischen Kerngebiet auch die deutschen Ostgebiete eingenommen hatte.
Vorrangig war für die sowjetische Seite zunächst die Anerkennung der von ihr vorgesehenen neuen polnischen Ostgrenze. Die Sowjetunion hatte aufgrund des Zusatzabkommens zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 große Gebiete des polnischen Staates in Besitz genommen. Jetzt konnte man auf den Vorschlag des damaligen britischen Außenministers George Curzon von 1919 zurückgreifen, der seinerzeit durch den polnischen Angriff auf Sowjetrussland gegenstandslos geworden war. Das 1921 in den neuen polnischen Staat eingemeindete ›Ostpolen‹ bewohnten zwar mehrere Millionen Polen, die jetzt ausgesiedelt wurden, mehrheitlich waren dort aber Weißrussen und Ukrainer ansässig. Trotzdem sollte Polen für den Verlust seiner früheren Ostgebiete entschädigt werden, und es wurde ihm, wie schon in Teheran, ein ›beträchtlicher Gebietszuwachs‹ im Westen einschließlich eines großen Bevölkerungsaustauschs in Aussicht gestellt. Die Bedingungen für die Anerkennung der Curzon-Linie als künftiger Ostgrenze Polens (und damit des größten Teils des sowjetischen territorialen Gewinns aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts) durch die Westmächte, waren die Beteiligung von Nichtkommunisten und der Londoner Exilregierung an einer provisorischen polnischen Regierung und freie Wahlen in Polen.
Für Deutschland einigten sich die ›Großen Drei‹ auf die Einrichtung von vier Besatzungszonen, also einschließlich einer französischen, mit einem Alliierten Kontrollrat als Klammer, außerdem auf eine gründliche Entmilitarisierung und Entnazifizierung. In der Schwebe blieb die Idee einer dauerhaften Aufteilung Deutschlands durch Angliederung von Gebieten an andere Staaten und durch die Schaffung mehrerer separater deutschen Staaten in dem Restterritorium. Alle drei Alliierten dachten zeitweise in diese Richtung. In Teheran hatte Roosevelt einen Teilungsplan vorgelegt, der fünf Staaten bzw. Partikel vorsah. Dieser Plan wie die Mehrstaatlichkeit Deutschlands überhaupt war vom Tisch, als Stalin sich im März 1945 offiziell davon distanzierte. Der im September 1944 zwischen Roosevelt und Churchill in Auge gefasste ›Morgenthau-Plan‹ war nach einigen Wochen verworfen worden und stand in Jalta nicht mehr zur Diskussion. Der Plan des amerikanischen Finanzministers Henry Morgenthau hatte, neben der staatlichen Teilung, die Rückverwandlung Deutschlands in ein Agrarland vorgesehen. Damit sollte die britische Industrie langfristig saniert und geschützt sowie auf Kosten des besiegten Deutschland die Basis einer stabilen Kooperation mit der UdSSR geschaffen werden. Restelemente des Morgenthau-Plans fanden sich in der amerikanischen Direktive JCS 1067 (erste Fassung vom 22.09.1944).
Das unmittelbare Hauptinteresse Roosevelts bei der Jalta-Konferenz bestand darin, eine verbindliche Abmachung über den Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan zu treffen, das noch keineswegs besiegt war. In einem Geheimabkommen verpflichtete sich die Sowjetunion, die 1941 mit Japan einen Nichtangriffspakt geschlossen hatte, drei Monate nach der Kapitulation Deutschlands im Fernen Osten militärisch aktiv zu werden; dafür wurden ihr territoriale und andere Vorteile in Ostasien in Aussicht gestellt. Zudem gelang in Jalta eine Verständigung über noch strittige oder unklare Punkte der UNO-Charta. Insbesondere einigte man sich über den Abstimmungsmodus im wichtigsten UN-Gremium, dem Sicherheitsrat, als dessen ständiges Mitglied – außer den vier Besatzungsmächten in Deutschland – China vorgesehen war, damals noch von der Kuomintang-Partei regiert, deren ›Nationalregierung‹ auch nach ihrer Vertreibung vom chinesischen Festland bis 1971 in diesem Status verblieb. Für die UdSSR war entscheidend, dass die Angehörigen dieser Staatengruppe im Sicherheitsrat ein Vetorecht zugesprochen bekamen.
Die für die frühe Nachkriegszeit entscheidende Konferenz von Jalta ist von allen drei Verhandlungspartnern in ihren Ergebnissen durchaus positiv gewertet worden. Man ging ebenso optimistisch heraus, wie man hineingegangen war. Wesentlich war die Erkenntnis, dass die, sei es provisorische, Lösung weltpolitischer Probleme unter Umständen eine neuartige Gipfeldiplomatie erfordern würde. Die ›Großen Drei‹ und ihre Delegationen vermochten sich grundsätzlich darüber zu verständigen, dass sie gemeinsam Verantwortung für Europa und insbesondere für Deutschland übernahmen. Am Ende der Tagung standen aber auch etliche Kompromisse, teils aufschiebender Art, die spätere Konflikte programmierten. Beabsichtigt war, dass offene Fragen und Differenzen nach Kriegsende ausgeräumt werden würden. Manches wurde in Potsdam konkretisiert, aber der Kompromisscharakter der Resultate blieb naturgemäß erhalten. Die Vorstellung, dass der Unterschied, ja Gegensatz der gesellschaftlichen und politischen Systeme zwingend zur Herausbildung fester politisch-militärischer Blöcke hätte führen müssen, ist durchaus anfechtbar.
Die Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 in Fortsetzung der Krim-Konferenz versammelte wiederum den sowjetischen Spitzenmann Josef Stalin, den US-amerikanischen Präsidenten, jetzt Harry S. Truman in der Nachfolge des im April des Jahres verstorbenen Roosevelt, sowie den britischen Premier Winston Churchill, nach den Unterhauswahlen in Großbritannien Ende Juli ersetzt durch den der Labour Party angehörenden Clement Attlee. Begleitet wurden die Staats- bzw. Regierungschefs von den Außenministern, etlichen Beratern sowie den jeweiligen Generalstäben.
Auch wenn eine Reihe internationaler Fragen verhandelt wurden, so die Beendigung der gemeinsamen britisch-sowjetischen Besetzung des Iran und die Situation Vietnams, damals eine französische Kolonie, die die Japaner während des Krieges besetzt hatten, standen Polen und, mehr noch, Deutschland im Mittelpunkt. Bis zum Konferenzende wurde, auch unter Beteiligung einer polnischen Delegation, über die polnische Westgrenze diskutiert. Unstrittig war eine erhebliche Westverschiebung Polens, über die man sich, wie gesagt, schon früher verständigt hatte, nicht aber über deren Ausmaß. Die Kontroverse spitzte sich auf die künftige Zugehörigkeit Niederschlesiens zu Deutschland oder Polen zu. Schließlich kam es zum Artikel XIII des Potsdamer Protokolls über den ›geordneten und humanen Transfer‹ der Deutschen, die ›in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben‹ waren. Das beinhaltete die – keineswegs geordnet und human ablaufende – Zwangsaussiedlung aller Deutschen bis zur Oder und Görlitzer (statt der Lausitzer) Neiße, wenn auch, im Rückblick wenig realistisch, die endgültige Grenzziehung einem späteren Friedensvertrag vorbehalten blieb, wie das Kommuniqué der Konferenzbeteiligten feststellte, das Potsdamer Abkommen.
Zumindest auf dem Papier herrschte Einigkeit darüber, Deutschland zu entnazifizieren, entmilitarisieren und demokratisieren. In den amtlichen Verlautbarungen des Kontrollrats heißt es:
Das Abkommen spricht ein Verbot nationalsozialistischer Parteien und Einrichtungen aus, sieht Verfahren gegen die nazistischen Kriegsverbrecher vor und zielt eine Art Umerziehung der Deutschen an: „
Bei allen von Anfang an erkennbaren Unterschieden der Praxis in den vier Besatzungszonen, nicht nur, aber vor allem zwischen den drei Westzonen auf der einen Seite und der Ostzone auf der anderen Seite, das betraf nicht zuletzt das unterschiedliche Demokratieverständnis, wurden die politischen Leitlinien des Potsdamer Abkommens in der Folgezeit ansatzweise umgesetzt, anders die wirtschaftlichen Bestimmungen, zu denen die Behandlung Rest-Deutschlands als wirtschaftliche Einheit gehörte. Eine wirtschaftliche Ruinierung des Landes wurde von den Siegern, auch aus Eigeninteresse, nicht angestrebt. Die Verwirklichung der in Potsdam vorgesehenen zentralen Verwaltungsbehörden, die als Klammer hätten wirken können, scheiterte an Frankreich, und die wirtschaftliche Separierung der Zonen beförderte die spätere politische Spaltung. Letztlich scheiterte die Wirtschaftseinheit an wachsenden Meinungsverschiedenheiten und Spannungen der Siegermächte. Der sich seit Kriegsende anbahnende, 1947/48 offen ausbrechende Kalte Krieg ergab sich nicht allein, vielleicht nicht einmal hauptsächlich aufgrund der Deutschlandproblematik, aber die deutsche Frage war von Anfang an sein Katalysator und ein wichtiger Bestandteil.
Die Einrichtung von Besatzungszonen bei (anders als in Österreich) Verzicht auf eine provisorische gesamtdeutsche Regierung in Ergänzung des Alliierten Kontrollrats war zwar nicht als Teilung des Landes gedacht, wirkte mit dem Aufkommen des Ost-West-Konflikts dann aber schnell in diese Richtung. Reparationen und die Demontage von Industrieanlagen waren für die neue Weltmacht USA irrelevant, spielten aber für Frankreich und Großbritannien unter ökonomischen Konkurrenzgesichtspunkten und vor allem für die Sowjetunion wegen der verheerenden Kriegsschäden samt der enormen Zahl von Toten (man geht heute von 27 Millionen aus) eine wesentliche Rolle. Beschlossen wurden in Potsdam der Abbau kriegswichtiger Industrien in Deutschland und das Verfahren, nach dem die Reparationsleistungen aufgeteilt werden sollten. Danach sollten die Ansprüche der Sieger hauptsächlich aus der jeweiligen Besatzungszone befriedigt werden.
Der Potsdamer Konsens der drei Siegermächte erlaubte von Anfang an unterschiedliche Auslegungen und konnte die Auseinanderentwicklung der vier Besatzungszonen, insbesondere die Eigenentwicklung der Sowjetzone, nicht verhindern. Dort richtete sich die ›antifaschistisch-demokratische Umwälzung‹, die die SED mit Rückendeckung der sowjetischen Besatzungsmacht einleitete, von Anfang an auch gegen das Großkapital und gegen den Großgrundbesitz. Die diesbezüglichen Eingriffe waren keineswegs unpopulär; auch im Westen Deutschlands dominierte anfangs eine antikapitalistische Grundstimmung.
Die ›volksdemokatische‹ Formierung der SBZ begann mit der Schaffung eines Parteienblocks im Sommer 1945 und der unter massivem Druck zustande gekommenen Fusion von KPD und SPD im Frühjahr 1946. Doch wie immer die Vor- und Frühphase der DDR zu bewerten, wie immer der politische und soziale Charakter der Gesellschaften sowjetischen Typs theoretisch treffend einzuschätzen ist, eine angemessene Würdigung des Geschehens muss die antifaschistischen Intentionen in Rechnung stellen, mit denen die Angehörigen der SED (und nicht nur sie) die Lehren aus dem Abgleiten des deutschen Staates in die organisierte Barbarei während der NS-Zeit zu ziehen meinten – unter einer Führungsschicht, deren Mitglieder häufig aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern bzw. aus dem Exil zurückgekehrt waren.
Nach den Verheerungen des NS-Faschismus und des Zweiten Weltkriegs schien es eine kurze Zeit so, als würde die Arbeiterbewegung in ganz Europa zur bestimmenden politischen Kraft werden. 1917 hatten der Sturz des russischen Zarismus und dann die Oktoberrevolution international eine mehrjährige revolutionäre Kriegs- und Nachkriegskrise ausgelöst, die vom Aufschwung der radikalen bzw. kommunistischen Richtung wie auch von aufsehenerregenden Wahl- und Gesetzgebungserfolgen der reformerischen bzw. sozialdemokratischen Richtung gekennzeichnet gewesen war. Jetzt, ab 1943/44, ging die Krise der bürgerlichen Ordnung von der militärischen Wende und vom Aufschwung der nationalen Widerstandsbewegungen in den deutsch besetzten Ländern aus. Der Großbesitz und die tragenden Schichten der alten Staaten waren dort wegen der Zusammenarbeit mit dem Nazismus diskreditiert. Es gibt klare Indizien dafür, dass die Bevölkerung in ihrer Mehrheit den Antifaschismus nicht auf die politische Demokratisierung beschränken wollte: Die Macht des großen Kapitals sollte gebrochen und ein Entwicklungsweg Jenseits des Kapitalismus – so der Titel des damals verbreiteten Buches von Paul Sering = Richard Löwenthal – geöffnet werden. Als ein, verglichen mit 1917-20, günstiger Faktor erschien die anfängliche Unterstützung tiefgreifender gesellschaftlicher Strukturreformen durch Gruppierungen außerhalb der Arbeiterbewegung. Allerdings bremste den Vormarsch der Linken bereits die Unfähigkeit und Unwilligkeit der im Juli 1945 gegen den Siegerpremier Churchill gewählten britischen Labour-Regierung, eine von den USA unabhängige Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Die proamerikanische Orientierung der meisten sozialdemokratischen Parteien im Westen Europas in der Folgezeit war dann aber auch eine Reaktion auf die diktatorische und repressive Praxis in den neuen Volksdemokratien im östlichen Europa.
Die wichtigste, nicht nur militärtechnische, Neuerung war auf der Potsdamer Konferenz nur beiläufig, informell und unbestimmt von Truman gegenüber Stalin erwähnt worden (der uninteressiert tat, faktisch aber durch einen Spion bereits informiert war): Die USA hatten einen Tag vor Beginn der Konferenz erstmals erfolgreich eine Atombombe getestet. Am 6. und 9. August kamen weitere Exemplare bei Abwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz und töteten binnen eines Jahres weit über 200 000 Menschen.
Über die Motive des Einsatzes am lebenden Objekt – statt, wie von Experten empfohlen, über einer unbewohnten Insel – wird bis heute kontrovers diskutiert. Zweifellos spielte die Überlegung eine wichtige Rolle, eine Invasion der japanischen Hauptinseln mit den erwarteten schweren amerikanischen Verlusten zu vermeiden. Allerdings scheint der Tenno, der japanische Kaiser, ohnehin kurz vor der Aufgabe gestanden zu haben; es ging hauptsächlich noch um eine für ihn akzeptable Form. Da die USA seit Mitte Juli 1945 im Besitz der Bombe waren, wurde die in Jalta noch als amerikanischer Erfolg angesehene und in Potsdam konkretisierte Zusage der UdSSR, in den Krieg gegen Japan einzutreten, was dann am 8. August geschah, aus Sicht der US-Regierung plötzlich zum Risiko. Jedenfalls konnte der Atombombeneinsatz seine volle demonstrative Wirkung nur entfalten, wenn er sich gegen größere Städte richtete und mindestens zweimal (um deutlich zu machen, dass es nicht nur ein einziges Exemplar gab) ausgeführt wurde. Eine perverse Logik, die in der Folgezeit des atomaren Wettrüstens gedanklich noch überboten werden sollte.
Wir wissen heute noch klarer als zu den gegebenen Zeitpunkten, dass wir in den über vier Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts mehrere Mal haarscharf an der absoluten Katastrophe vorbeigeschrammt sind. Es ist, nachdem auch der hoffnungsvolle Ansatz der Charta von Paris vom 21. November 1990 nicht konsequent weiterverfolgt worden ist, höchste Zeit, die sicherheitspolitische und rüstungstechnische Logik des Kalten Krieges nachhaltig zu überwinden. Und bei allen kritischen Anmerkungen, die ich in meinem Vortrag gemacht habe, bietet die Potsdamer Konferenz vor 75 Jahren immerhin auch den Beweis dafür, dass es möglich ist, trotz unterschiedlicher Interessen und Anschauungen zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, an die bei allseits gutem Willen konstruktiv angeknüpft werden kann.
(Die Rede wurde gehalten auf der Tagung ›75 Jahre Potsdamer Konferenz‹ vom 29. August 2020 in Potsdam)